Dienstag, 13. Dezember 2011

Der große SPIEGEL Krisenrückblick

Ohne Zweifel müssen Medien auch Geld verdienen, um ihre Existenz zu sichern. „Only bad news are good news.“ heißt es bei JournalistInnen. Sprich Katastrophen, Ängste und schlechte Nachrichten verkaufen sich besser. Dies ist, so man will, das Rationale daran, das ist die Logik der Medienpsychologie. Doch war es das? Ist also alles, was in den Medien passiert und inszeniert wird nur rational? Natürlich nicht. JournalistInnen sind Menschen und bringen immer auch ihre Gefühle und ggf. auch gestörte Emotionen mit ein. Zudem müssen JournalistInnen geradezu Seismographen für die emotionale Lage der Nation sein, denn das, was sie schreiben, soll ja auch begehrlich gelesen werden und die Leute ansprechen.

DER SPIEGEL ist eine der Leitmedien im Lande. DER SPIEGEL macht Meinungen und Emotionen, aber er spielgelt immer auch die Meinungen und Emotionen der Nation wider, greift diese auf, formt sie, leitet sie und gibt sie wieder zurück. Insofern bietet sich dieses Wochenmagazin dafür an, Ende des Jahres 2011 nicht nur einen klassischen Jahresrückblick, sondern gleich einen Rückblick auf die Titelstorys zwischen 2008 und 2011 (den Krisenjahren)zu machen. Wer Lust hat, möge sich einmal die Titelbilder dieser Zeit der Reihenfolge nach anschauen. Alleine dieses Durschauen hinterlässt – so ging es mir – bereits den Eindruck, dass da gewaltige Emotionen ausgedrückt werden, bildlich und sprachlich, und dass neutralere/sachlichere, gar positive Nachrichten die Ausnahme darstellen.

Wenn ich mich diesem Rückblick annähere, dann fällt mir zunächst auf, dass DER SPIEGEL in den letzten zwei Jahren den EURO in seinen Titelbildern hat schmelzen lassen ( 10 / 2010), der Euro wurde zerschossen (49 / 2010), er wurde zu Grabe getragen (25 / 2011), mit Dynamit und Zeitzünder versehen, um ihn in die Luft zu sprengen (39 /2011) und kürzlich noch in zwei Teile zerbrochen (48 / 2011). Schaut man sich nur die Bilder an, dann könnte man glatt zu dem Schluss kommen, dass ein Scheitern der Währung geradezu herbeigesehnt wurde, quasi als selbstzerstörerischer Akt. Dazu kommt, dass in den 206 SPIEGEL Ausgaben seit Anfang 2008 bis zum 10.12.2011 24 mal die Wirschafts- und Finanzkrise Titelthema war, was einem Anteil von ca. 11,6 % ausmacht. Wohlgemerkt, das waren nur die Titelthemen, auch in den anderen Ausgaben war „die Krise“ stets Thema, teils auch mit in den Titel integriert (z.B. Ausgabe 45 /2011, die sich im Titel mit Friedrich dem Großen befasste, aber unten rechts stand in blau/weißer Schrift „Euro-Krise. Italien, das nächste Griechenland?“)

Auffällig bei den Krisen-Titeln ist, dass hier nicht nur die „bad news“ überwiegen, sondern diese oftmals auch sehr emotional sind, mit Angst untermauert werden oder teils mit Gewaltbildern (z.B. Kopfschuss, Bomben, Dynamit, Einschusslöcher), daherkommen . Hier die Liste der entsprechenden Titel:

05 / 2008 Casino Global. Was ist der Einbruch in eine Bank gegen das Verspielen einer Bank?
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-05

24 / 2008 Angriff auf den Wohlstand. Wie Spekulanten das Leben immer teurer machen
Bild Anmerkung: Eine Familie mit zwei Kindern steht zwischen den Beinen eines riesigen Geschäftsmannes, das Wort „Angriff“ nimmt fast 1/3 des Titelbildes ein.
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-24

41 / 2008 Angst vor der Angst. Die gefährliche Psychologie der Finanzkrise
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-41

42 / 2008 Not! Halt! Wer stoppt den freien Fall des freien Marktes?
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-42

43 /2008 Das Ende der Gemütlichkeit. Was auf die Deutschen (noch) zukommt
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-43

47 / 2008 Das Kapital-Verbrechen. Anatomie einer Weltkrise, die gerade erst begonnen hat
Bild Anmerkung: Zu sehen ist eine Dollarnote mit Kopfschuss
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-47

05 /2009 Wann ist der Staat eigentlich pleite? Konjunkturpakete, Staatsbürgschaften, Abwrackprämien, Rettungsfonds...
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-05

11 / 2009 Der Jahrhundert-Fehler. Wie die Pleite einer einzigen Bank die Weltkrise auslöste
Bild Anmerkung: Zu sehen ist eine Bank als Streichholschachtel. Das erste Zündholz ist bereits entzündet und droht den Rest abzubrennen.
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-11

14 /2009 Rette, wer kann! Wie der Untergang der Weltwirtschaft verhindert werden soll
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-14

18 / 2009 Wiederholt sich die Geschichte doch? Weltkrisen 1929/2009
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-18

29 / 2009 Die gefährlichste Firma der Welt. Wie ein Versicherungskonzern zum größten Risiko für die Weltwirtschaft wurde
Bild Anmerkung: In einer Metropole ist der entsprechende Konzern als große Dynamitstange zu sehen, die Lunte brennt bereits.
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-29

38 / 2009 Ein Jahr danach. Warum die Welt durch die Finanzkrise ärmer, aber nicht klüger wurde
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-38

48 / 2009 Die Billionen-Bombe. Warum nach der Jahrhundertkrise schon die nächste droht
Bild Anmerkung: Eine Geldbombe explodiert.
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-48

05 /2010 Die Abrechnung. Finanzkrise: Jagd auf die Kapital-Verbrecher
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2010-05

10 / 2010 DIE EURO-LÜGE
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2010-10

18 / 2010 Euroland, abgebrannt. Ein Kontinent auf dem Weg in die Pleite
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2010-18

19 / 2010 Die Schulden Falle. Wie viel Griechenland können wir uns noch leisten?
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2010-19

44 / 2010 Die verzweifelten Staaten von Amerika. Eine Nation verliert ihren Optimismus
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2010-44

49 /2010 DAS LETZTE GEFECHT. Wie Europa seine Währung ruiniert http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2010-49

25 / 2011 Plötzlich und erwartet. Nachruf auf eine gemeinsame Währung
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2011-25

32 / 2011 Geht die Welt bankrott? US-Verschuldung, Euro-Krise, Börsenchaos
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2011-32

34 / 2011 Gelduntergang. Die zerstörerische Macht der Finanzmärkte
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2011-34

39 / 2011 DIE GELDBOMBE. Wie aus einer großen Idee eine Gefahr für Europa werden konnte
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2011-39

48 / 2011 Und jetzt?
Bild Anmerkungen: Zu sehen ist ein zerbrochener Euro
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2011-48


Zwischen diesen Krisennachrichten tauchten in bestimmten Abständen Titelthemen auf, die mit Ängsten vor und um Kinder und Jugendlichen zu tun haben. Dies ist interessant, wenn man sich etwas mit den psychohistorischen Thesen von deMause befasst hat.

02 / 2008 Junge Männer: Die gefährlichste Spezies der Welt
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-02

09 / 2008 Wie viel Mutter braucht das Kind? Krippe oder Kinderzimmer
Bild Anmerkung: Im Titelbild hält ein übergroßes Kleinkind seine Miniaturmutter fest im Griff. Das Wort „Mutter“ ist rot abgedruckt, um es hervorzuheben.
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-09

22 / 2008 Tausendmal probiert... und nie ist was passiert. Das Geschäft mit der Sehnsucht nach dem Kind
Bild Anmerkung: Zu sehen ist ein übergroßes Baby, die zwei wesentlich kleineren, nackten Eltern sind getrennt jeweils links unten und rechts oben im Bild, wenden sich den Rücken zu und schauen deprimiert zu Boden.
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2008-22

12 / 2009 Wenn Kinder zu Killern werden. Der Amoklauf des Tim K.
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-12

15 / 2009 Das starke Ich. Wie Kindern das Leben gelingt
Bild Anmerkung: Ein Kind schultert einen gigantischen Baum, dessen Wurzel/stamm eine Hand bildet
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-15

25 / 2009 Wir Krisenkinder. Wie junge Deutsche Ihre Zukunft sehen
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-25

32 / 2009 Die große Sorge um die lieben Kleinen. Ein Plädoyer für mehr Gelassenheit in der Erziehung
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2009-32

15 / 2010 Hilfe! Pubertät! Ein kleiner Ratgeber zum Großwerden
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2010-15

18 /2011 Mordswut. Die unheimliche Eskalation der Jugendgewalt
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2011-18

42 / 2011 Das überförderte Kind. Wie viel Ehrgeiz verträgt gute Erziehung?
Bild Anmerkung: Zu sehen ist ein unter der Last der Anforderungen zusammengebrochenes Kind
http://microshop.spiegel.de/einzelhefte/spiegel-2011-42


Mir sind in anderen Titeln weitere starke Emotionen aufgefallen, die ich hier nicht weiter zusammenfassen und alle besprechen kann. Ausschnittweise möchte ich auf Titel wie z.B. 26 / 2008 „Fünfzig Jahre Emanzipation. Was vom Mann noch übrig ist“ hinweisen. Zu sehen ist dort ein kleiner nackter Mann. Die Angst vor dem Verlust der Männlichkeit und Identität (auf Grund des Fortschritts der Emanzipation) ist hier offensichtlich. Andere Titel wie 23 / 2011 „Der Feind im Essen. Ehec: Die Geburt einer neuen Seuche“ habe ich hier im Blog bereits ausführlich besprochen. Dazu kommen z.B. Titel die eine große Giftschlange enthalten (17 / 2009) und Ängste vor einem Welt-Virus (19 / 2009). Zwischendrin habe ich acht mal Titel gezählt, die die NS Zeit besprechen, oftmals mit dem Abbild von Adolf Hitler. Hier tauchen quasi die kollektiven Erinnerungen an dieses Trauma immer wieder auf bzw. werden wieder durchgearbeitet (was ja nicht schlecht sein muss).

Ich habe zusätzlich der Reihenfolge nach Titel-Stichwörter, die starke Emotionen ausdrücken, die mit Krieg und Kampf und Familie und Kindern/Jugendlichen zu tun haben herausgesucht. Ein Schrägstrich trennt dabei jeweils eine Wochenausgabe von der anderen. Zwischendrin waren auch manchmal 3 oder 4 Ausgaben hintereinander dabei, die keine „Kraftwörter“ enthielten, manchmal folgten diese Wörter aber auch jeweils einige Wochen hintereinander weg. Hier das Ergebnis:

ALARMSTUFE, Kampf, Attentat, Bombe / Junge Männer, gefährlichste / Anfang vom Untergang / Der Messias, Sehnsucht / Steuersünder, Staatsfeind / Mutter, Kind, Krippe, Kinderzimmer / Täter, Mörder / mörderische / Reformchaos / Das Böse, monströse Doppelleben / Kind / unheimliche / Angriff / Krieg, gefährlichste / unheimliche / Gier und Größenwahn / Angst / gefährliche Nachbar / Krieger, schlagen / Schmerz, Seele / Todeskommando, zerstört / Angst vor der Angst / freien Fall / Ende / Krieger / Vollstrecker, Massenmörder / Verbrechen, Weltkrise / Stress / mutlos, gefährliche, Wirtschaftskrise / Geburt / Urvater / Ende / Geheimnis / Pleite, Weltkrise / Kinder, Killer / lebensgefährlichen / Untergang / Kindern / Verräter / Risiko / gefährlich, Weltvirus / Gier / Judenmord / Tod / geplünderte / Krisenkinder / Rebellion / Einsam, Tragödie / Weltkrieg / gefährlichste , Risiko / Psychogramm, Familien / Ohnmacht, Risiko / große Sorge, Kleinen, Erziehung / Orgie / Krieg / "Gestern wollte ich wieder sterben" / Finanzkrise / Wer erlöst / „Die Angst vor dem Leben“ / Billionen-Bombe, Jahrhundertkrise / töten, Krieg / „Hurra, wir leben noch...“ / „Ein Land stirbt“ / Friedhof / Finanzkrise, Verbrecher/ Triumph der Sünde, Wollust, Habgier/ Schuld / Lüge / deutsche Familie / Krieg, Kampf / Krieg, Töten, Sterben / verführt / abgebrannt, Pleite / Falle / Schutt und Schuld / "Der Druck ist gnadenlos" / Krieg / Katastrophe, tödliche / Kampf / Bürgeraufstand / „Ich wünschte, ich wäre tot" / „Macht der Angst“ / 100.000 Tote / verzweifelten Staaten / Gefecht / Kampf, Streit, Krieg / Rächer, Killer / „DAS ÜBERFORDERTE ICH“ / zerbrechliche Traum, Kampf / Risiko / Eltern, Kinder / Wahnsinn / Mordswut, Jugendgewalt / Feind, Geburt, Seuche / Bruder Todfeind / Familie / Niedergang / Burnout /

Alles in Allem zeigt sich auf den ersten, wie auch auf den zweiten und dritten Blick, dass DER SPIEGEL die hohe Kunst der Medienpsychologie sehr gut beherrscht. Die Titel sprechen die Emotionen der Menschen an, dies beschert dem SPIEGEL sicherlich entsprechend Stammleser. Neben diesem rationalen Handeln transportiert der SPIEGEL aber auch Ängste und andere Emotionen bzw. drückt die emotionale Lage der Nation aus. Er spiegelt Realität ab, aber er erzeugt auch wiederum Realitäten. Ich frage mich, ob es wirklich rational ist, wenn ein solch einflussreiches Blatt derartige Angstbilder dauerhaft verbreitet?

Freitag, 9. Dezember 2011

Kindheit von Sophie Scholl

Sophie Scholl wuchs die ersten Lebensjahre in Forchtenberg (Württemberg) auf. Ihr Vater, Robert Scholl, war dort Bürgermeister und hatte den Ehrgeiz, den Ort weiterzuentwickeln und zu verändern. Er hatte dabei sehr liberale und fortschrittliche Vorstellungen, was den Bewohnern (vor allem den Bauern und Handwerkern) nicht immer Recht war und ihm teils Feinde machte, später im Jahr 1930 sollte u.a. dies zu seiner Abwahl führen. Leisner (2000) berichtet, dass der Vater die Haushaltsführung und Kindererziehung ganz und gar seiner tüchtigen Frau überließ. (S. 18) Er steckte seine ganze Kraft in sein Amt. Die Familie wohnte allerdings gleich neben den Amtsräumen des Vaters. Insofern war er wohl auf eine Art auch greifbar, auch wenn berichtet wird, dass er manches mal unwirsch war, wenn seine Kinder zu laut in der Wohnung oder im Treppenhaus herumtobten und er Ruhe für seine Arbeit brauchte. (ebd., S. 25) Während dieser Zeit als Bürgermeister war der Vater selten aufgeschlossen und fröhlich. Die Sorgen um den Ort und die Arbeit nahmen ihn voll in Anspruch.

Vinke (1997) gibt die Gespräche mit der Schwester Inge Aicher-Scholl wieder. Über den Vater heißt es: „Er war eine beeindruckende Erscheinung (…), eine natürliche Autorität, die von den Kindern geachtet wurde. Auch wenn es gelegentlich wie in jeder Familie Tränen gab, war er alles andere als ein Tyrann. Die Kinder durften ihre eigenen Wege gehen. Zusammen mit seiner Frau (..) verstand er es, ihnen in einer von Arbeitslosigkeit, Inflation und politischer Gewalt gekennzeichneten Zeit eine Insel der Geborgenheit zu schaffen.“ (Vinke, 1997, S. 16) Im ersten Weltkrieg gehörte der Vater zu den wenigen Pazifisten, die die allgemeine Kriegsbegeisterung im kaiserlichen Deutschland nicht mitmachten. Da er den Kriegsdienst mit der Waffe ablehnte, musste er für das Rote Kreuz verwundete Soldaten betreuen. In dieser Zeit lernte er auch seine spätere Frau Magdalene kennen, die Krankenschwester war und sich mit Leib und Seele um Kranke und Schwache kümmerte. Sophies Mutter übertrug diese Leidenschaft auch in die Zeit als Frau des Bürgermeisters und kümmerte sich wiederum um Kranke und sozial Schwache in ihrem Ort. Inge über die Mutter: „Was uns Kinder angeht, so interessierte sie sich für alles, was uns berührte und was wir erlebten. Sie lebte total mit uns.“ (ebd., S. 18)
Im Januar 1926 erlebte die Familie einen Schicksalsschlag. Thilde, die im März 1925 geboren worden war und vor allem von ihren Schwestern sehr geliebt wurde, verstarb auf Grund einer Erkrankung. (vgl. Leisner, 2000, S. 20) Wie die Familie mit dieser Tragödie umging, erfährt man in den Quellen nicht.

Die Familie zog nach der Abwahl des Vaters für zwei Jahre nach Ludwigsburg, danach weiter nach Ulm, der Vater betätigte sich fortan als Steuer- und Wirtschafsberater, reich wurde er aber nicht, sondern hatte ein einfaches Auskommen.
Inge über den Freiraum der Kinder: „Freundinnen oder Nachbarskinder zum Geburtstag einzuladen oder einfach mitzubringen , war kein Problem. Nie sagte meine Mutter: „Aber heute möchte ich hier niemanden sehen, ich habe gerade geputzt.“ Die anderen Mädchen kamen einfach mit. Meistens gab es auch für sie etwas zu essen, und manchmal durften sie sogar über Nacht bleiben.“ (Vinke, 1997, S. 21) Bücher spielten in der Familie Scholl eine große Rolle und zwar seit frühster Kindheit an. Im Elternhaus lernten die Kinder auch zu widersprechen, wenn sie anderer Meinung waren.
Alle Kinder der Scholls werden zudem als sensibel und phantasievoll beschrieben. (vgl. Leisner, 2000, S. 21) Doch vor allem Sophie zeigte sehr früh Mitgefühl und Gerechtigkeitsliebe, was an einigen Beispielen in den Quellen veranschaulicht wird.
Auch politische Diskussionen zwischen dem Vater und vor allem seinem älteren Sohn Hans gehörten zum Familienalltag. (ebd. S. 41f) Der Vater vertrat weiterhin seine liberalen Ansichten und den Parlamentarismus und warnte davor, dass es Krieg geben würde, wenn Adolf Hitler an die Macht käme. Hans verteidigte dagegen immer öfter die Nationalsozialisten, für die er entgegen seiner späteren Entwicklung vorerst sehr schwärmte, gegen seinen Vater. Alle Scholl Kinder, besonders aber die beiden älteren Inge und Hans, waren von der Nazi-Bewegung zunächst begeistert. Sie wollten in die Hitlerjugend, was der Vater strikt ablehnte. Beide Scholl- Eltern hatten entgegen den üblichen Erziehungsmethoden der Zeit Schläge gegen ihre Kinder abgelehnt. Doch gegenüber Inge hatte sich der Vater diesmal so sehr erregt, dass er sie ohrfeigte. Er verbot ihr, in die Hitlerjugend einzutreten. (ebd., S. 52f) Die Mutter sorgte schließlich für Ausgleich und überredete ihren Mann, den beiden ihren Willen und sie ihren Weg gehen zu lassen. Der Vater gab nach. Zum 01.05.1933 traten Inge und Hans in die Hitlerjugend ein, Hans engagierte sich stark und stieg später innerhalb der Organisation stetig auf. Im Januar 1934 trat auch die knapp dreizehnjährige Sophie in die „Jungmädelschaft“ ein und fühlte sich dort ebenfalls sehr wohl. Die Geschwister Scholl waren zunächst „ganz normale Deutsche“ und verehrten die Nazis.

Der große Parteitag in Nürnberg 1936, an dem Hans teilnahm, war wohl der Beginn eines Wandels. Hans kam völlig verändert, müde, deprimiert und verschlossen zurück. (vgl. Vinke, 1997, S. 46) „Er sagte nichts, aber jeder spürte, dass irgendetwas passiert sein musste zwischen ihm und der Hitlerjugend. Nach und nach erfuhren wir auch was. Der unsinnige Drill, die vormilitärischen Aufmärsche, das dumme Geschwätz, die ordinären Witze – das alles hatte ihn vollkommen fertig gemacht. Von morgens bis abends antreten, immer wieder reden, und dann diese aufgesetzte, künstliche Begeisterung. (…) Was in Nürnberg passiert war, irritierte Sophie wie uns alle. Nürnberg – das war noch nicht der Bruch, wohl aber der erste Riss, der uns von dieser Welt der Hitlerjugend und des BDM trennte.“ (ebd.) Nach Nürnberg legte sich auch der Streit zwischen Hans und seinem Vater. Für Hans gewann eine andere Jugendorganisation immer mehr an Bedeutung: die „Deutsche Jugendschaft vom 1.11“. Anfang 1933 wurde diese Organisation verboten. Gerade nach diesem Verbot entwickelte sich in Ulm um Hans Scholl eine „d.j.1.11“ Gruppe. Im Herbst 1937 wurden auf Grund dieser Aktivitäten die Geschwister Inge, Sophie, Hans und Werner von der Gestapo verhaftet und für kurze Zeit inhaftiert. Spätestens seit der Verhaftung gehörte der Streit zwischen Sohn und Vater endgültig der Vergangenheit an. Die weiteren Entwicklungen zu beschreiben, die zum Widerstand führten, würden hier den Rahmen sprengen.

Für mich steht fest, dass die vorangegangene nicht autoritäre, freiheitliche Erziehung und der liberale Geist der Eltern und dabei besonders der des Vaters das Fundament für den Bruch mit den Nazis legten. Es ist kein Zufall, dass gerade die Geschwister Scholl den uns bekannten, eindrucksvollen Widerstand gegen das NS-Regime mit organisiert hatten. Sie durften im Gegensatz zu den meisten anderen deutschen Kindern von klein auf frei denken, ihre Meinung sagen, erlebten Geborgenheit und keine Schläge (außer ausnahmsweise innerhalb des o.g. Konfliktes). Die Geschichte der Geschwister Scholl ist auch ein Lehrstück dafür, dass Fürsorge und Gewaltlosigkeit in der Erziehung Empathie und eigenständiges Denken grundsätzlich fördert.
Der Geschwister Scholl Preis wurde übrigens 2001 an Arno Gruen für sein Buch „Der Fremde in uns“ verliehen, in dem er vor allem die destruktive Erziehung von Kindern für die Entstehung von Gewalt und Fremdenhass ausmacht. In seiner Dankesrede sagte Gruen u.a.: „Für mich waren Sophie und Hans Scholl und ihr Freundeskreis immer außergewöhnliche Beispiele für Menschen, die aus ihrem Herzen heraus das Menschsein zum Kern ihres Seins machten. Ihr grundsätzliches Vertrauen zum Menschsein entsprang nicht ideologischen Ursachen, sondern kam aus tieferen Quellen ihres Mitgefühls sowie ihres Gefühls für Gerechtigkeit und Würde.“


Verwendete Quellen:

Leisner, B. 2000: „Ich würde es genauso wieder mach.„ Sophie Scholl. List Taschenbuch Verlag, München.

Vinke, H. 1997: Das kurze Leben der Sophie Scholl. Ravensburger Taschenbuchverlag,

Mittwoch, 7. Dezember 2011

Kindheit von Reinhard Mey

Hinweis: Reinhard Mey ist in der Vergangenheit juristisch gegen Fanseiten vorgegangen, die zu viel über sein Privatleben berichtet haben. Ich berufe mich hier auf das Recht (Urheberrecht § 51), aus Büchern im Rahmen des gesetzlich Erlaubten frei zitieren zu dürfen. Mey berichtet in seiner Biografie frei und für alle zugänglich über seine Kindheit. Insofern kann ich mir kaum vorstellen, dass dieser Beitrag seine Persönlichkeitsrechte verletzt. Sollte der Beitrag für Herrn Mey oder seine Plattenfirma/Anwälte dennoch ein Problem darstellen, bin ich gerne bereit, ihn zu kürzen oder schlimmstenfalls zu löschen.

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Die Lieder von Reinhard Mey habe ich persönlich erst vor ca. zwei Jahren für mich entdeckt und habe bis heute leider immer noch viel zu wenig von diesem Liedermacher gehört (vielleicht 15-20 Lieder). Besonders anrührend und interessant fand ich folgende vier Lieder: Zeugnistag, Keine ruhige Minute, Aller guten Dinge sind drei, Nein, meine Söhne geb' ich nicht!

Um wirklich zu verstehen, was ich in diesem Beitrag meine, sollte man die Songtexte nachlesen oder die Lieder hören. Alle vier Lieder handeln im Kern von der bedingungslosen Liebe von Eltern zu ihren Kindern (trotz aller Höhen und Tiefen). Letzteres Lied ist zudem ein deutliches, sehr gelungenes Antikriegslied, das an den Wurzeln ansetzt. Denn all zu oft in der Geschichte haben Eltern ihre Kinder für den Krieg gebrauchsfähig gemacht und sie mit Stolz in den Tod geschickt. Reinhard Mey singt dagegen von einer Erziehung, die Achtung, Liebe, Erbarmen und Vergebung als höchste Werte ansieht, die Ungehorsam und Eigenständigkeit lehrt und die absolut unvereinbar mit dem Krieg ist. Er singt von dem Wahn des Krieges und davon, dass er um keinen Preis der Welt seine Söhne für den Krieg hergeben, sondern eher mit ihnen fliehen würde.

Als ich diese Lieder hörte fragte ich mich, wie denn wohl die Kindheit von Reinhard Mey ausgesehen hat. Für mich lag sogleich die Vermutung nahe, dass es eine sehr liebevolle und respektvolle Kindheit gewesen sein muss, seine Texte sprechen da eine deutliche Sprache, denn auch geliebte Kinder führen ihre Kindheit auf der gesellschaftlichen Bühne wieder auf. Vor allem bei dem Lied „Zeugnistag“ fragte ich mich, ob der Liedermacher da nicht evtl. von den eigenen Eltern berichtet.
Ich wusste, dass es eine Biografie von Mey gibt, ich ging aber nicht davon aus, dass seine Kindheit einen großen Raum einnehmen würde, da wohl eher der Lebensweg des Musikers von Interesse ist, so dachte ich. Ich überlegte sogar, ob ich Mey nicht anschreiben sollte, falls ich nichts Weiteres finden sollte, um ihn nach einigen kurzen Gegebenheiten zu seiner Kindheit zu befragen. Ein abwegiger, absurder Gedanke, natürlich. Warum sollte dieser Mensch einem wildfremden Menschen etwas über seine Kindheit berichten, nur weil dieser “hobbymäßig“ dazu forscht?

Um so erstaunter und erfreuter war ich, als ich in seiner Biografie „Was ich noch zu sagen hätte“ (2005) mit Bernd Schroeder (erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag) ausführliche Berichte über seine Kindheit fand. Ich hörte mich ein lautes „Jaa“ rufen, als Mey auf die Frage von Bernd Schroeder, ob das Lied „Zeugnistag“ autobiographisch sei und er Eltern hatte, die aus diesem Holz geschnitzt waren, antwortete: „Ja, die waren so.“ Mein Hobbyforscher Herz fühlte sich einfach bestätigt!

Reinhard Mey wurde Ende 1942 in Berlin geboren und erlebte somit das Kriegs- und Nachkriegsdeutschland mit. Armut und Not erlebte er als Kleinkind, ebenso die Abwesenheit des Vaters, der erst 1946 aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause kam. Seine ältere Schwester lernte er ebenfalls erst 1946 kennen, sie war 1943 evakuiert worden und kam bei Verwandten unter. Insofern war er ein Kind wie so viele um diese Zeit. Aber eines war anders, die Art und Weise der Erziehung und Zuwendung. Reinhard wuchs bis zur Rückkehr des Vaters rein unter der liebevollen Obhut dreier Frauen auf: Seiner Mutter, Oma und seiner Tante Illi. Diese wollten ihm trotz aller Not unbedingt eine glückliche Kindheit bieten.
Diese drei Frauen waren ein Dreigestirn, das mich mit Liebe überschütte und mir die Gewissheit gegeben hat, geliebt zu werden, was unermesslich wichtig für eine Kindheit ist. Materiell gab es natürlich nichts, und ich war wie alle kleinen Jungen abgemagert und halb am Verhungern. Die drei hatten die Priorität, wie kriegen wir den Kleinen über die Zeit. Sie haben alles versucht, es mir schön zu machen und mir viel Zuwendung gegeben, haben mich in allem gefördert.“ (S. 13) Die Oma („eine wunderbare, liebevolle Frau“) war seine „heimliche Komplizin“, gab es mal Ärger mit Mutter oder Tante wusste die Rat und bog alles wieder gerade. Tante Illi war „eine begnadete Kinderversteherin, ein Bezugspunkt, den sogar unsere Kinder noch sehr geliebt haben.“ (S. 16) Seine Mutter beschreibt Mey als künstlerisch begabt, intelligent, diplomatisch, liebenswürdig, aufmüpfig und als sehr emanzipiert. (Sie hat zeitlebens mehr Geld verdient, als der Vater)
Über den Vater war ihm während dessen Abwesenheit immer viel erzählt worden, insofern empfand er ihn nicht als so fremd, als dieser heimkehrte. Über die Ehe der beiden Eltern und über seine Kindheit sagt Mey:
Meine Eltern haben mir eine sehr gleichberechtigte Partnerschaft vorgelebt. Mein Vater hat sogar Haushaltsarbeiten übernommen, was damals in anderen Familien noch undenkbar war. Jeder hat bei uns dort angepackt, wo Not am Mann war. In jeder Hinsicht gleichberechtigt, ganz egal wie alt man war, ob Mann oder Frau. Das hat mich ganz sicher sehr geprägt. Die Erziehung durch diese drei Frauen und meinen Vater, der überhaupt kein Macho war, haben positiven Einfluss auf mich gehabt. Ich hatte wirklich eine glückliche Kindheit.“ (S. 17+18) Seiner Mutter widmete Mey das liebevolle Lied „Das Foto vor mir auf dem Tisch“. Schroeder fragt darauf: „War denn an diesen Eltern nie zu zweifeln?“ Antwort: „Nein, nie. Ich sage mir jeden Morgen, dass ich dankbar bin, dass sie mich so frei haben aufwachsen lassen, mit einer unglaublichen Toleranz. Mein Vater war auch völlig damit einverstanden, wie die drei Frauen mich erzogen haben. (…) als er wieder da war, ging meine Erziehung ganz genauso weiter.“ (S. 21f) Über seine Eltern berichtet Mey weiter, dass sie immer zärtlich miteinander umgegangen sind, mit großem Respekt und Liebe, bis zum Tod des Vaters gingen sie Hand in Hand zum Kaufmannsladen.

Über seine eigene Rolle als Vater berichtet Mey:
„Ja, man lernt es. Man lernt es sicher schon durch das Elternhaus. Ich glaube, ich hatte das alles gelernt, ohne es zu wissen, aus dem Vorbild, das meine Eltern gegeben haben. Ich habe eben sehr viel Zuwendung und Geduld geschenkt gekriegt, als ich klein war. Das ist mir alles nicht so klar gewesen, aber im Unterbewusstsein hatte sich dieser Schatz bestimmt angehäuft, deswegen ahnte ich oder wusste ich, wie man es machen muss. Im Grunde genommen musst du alle Fehler machen, aber solange du mit Liebe und mit Zärtlichkeit und Geduld dabei bist, macht das gar nichts. Die Liebe und die Zuwendung wetzen alle diese Scharten wieder aus.“ (S. 158)

Reinhard Mey gab ganz offensichtlich die gleiche Liebe und Fürsorge an seine Kinder weiter, die er selbst erlebt hatte. Auch seine ganzen Texte legen Zeugnis davon ab, das Mey lebensbejahend und liebevoll in die Welt geführt wurde (Trotz aller Schrecklichkeiten und der Not der Kriegs- und Nachkriegsjahre). Menschen wie Reinhard Mey sind automatisch aus einem tiefen inneren Gefühl heraus gegen Krieg und Gewalt, wirken konstruktiv und nicht selbst- oder fremdzerstörerisch, weil sie es selbst so erlebt haben. Wie sagte noch Astrid Lindgren in ihrer Rede „Niemals Gewalt!“? „Ein Kind, das von seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese Grundeinstellung sein Leben lang.“ Menschen bzw. die Kindheit von Reinhard Mey beweisen, dass diese Welt durch Liebe gegenüber Kindern gesichert werden und sich in eine aussichtsreiche, hoffnungsvolle Zukunft entwickeln kann.

Freitag, 2. Dezember 2011

Kindheit von Rosa Luxemburg

Ich bin sicher kein guter Kenner oder gar Bewunderer von Rosa Luxemburg. Ich weiß über sie, dass sie gegen den ersten Weltkrieg war, sich dagegen aktiv engagierte, dass sie sehr intelligent und redegewandt war, dass sie sich gegen Autoritäten auflehnte und sich als Frau für damalige Verhältnisse sehr viele Freiheiten nahm. Dazu kommt ihr politisches Engagement, das ich hier nicht weiter ausführen und beurteilen will. Augenscheinlich war diese Frau anders und sehr außergewöhnlich für ihre Zeit. Vor allem war sie von Anfang an nicht bereit, sich bzgl. der Kriegslust der Deutschen verblenden zu lassen. Dies macht mich neugierig auf ihre Biographie und Kindheit, wofür ich das Buch „Rosa Luxemburg. Im Lebensrausch, trotz alledem.“ von Annelies Laschitza (2010) durchgesehen habe.

Rosa Luxemburg war die Jüngste von fünf Kindern. Rosas Vater war Kaufmann und gehörte zur jüdischen Intelligenz seines Wohnortes. Er unterstützte alle möglichen Kultur- und Bildungsbestrebungen. Rosas Mutter brachte all diesen Betätigungen vollstes Verständnis entgegen, „so dass der ganze Ton des Hauses in kultureller Beziehung auf sehr hoher Stufe stand.“ (S. 18) Sie wird als sanfter, milder Charakter beschrieben „und aus dem Munde dieser geliebten Mutter vernahm die aufnahmefähige kleine Rosa die ersten Märchen und Fabeln.“ (ebd.) Die Mutter scheint sich voll auf ihre traditionelle Rolle als Mutter und Ehefrau eingelassen zu haben.

Rose Luxemburg wuchs in einem behaglichen Familienkreis auf, in dem vorwiegend polnisch gesprochen wurde und großes Interesse an anderen Sprachen, Religionen und Kulturen geweckt und gefördert wurde. (…) Trotz strenger Zensur besorgte der freisinnige Vater, die Respektsperson der Familie, insgeheim ausländische Zeitungen, die gelesen und besprochen wurden. Jedes Kind konnte seinen Neigungen nachgehen und sich nach Herzenslust ausleben.“ ( S. 25)
Als Nesthäkchen wurde Rosa von ihren Geschwistern verwöhnt, besonders auch in der Zeit, als sie im Alter von fünf Jahren krankheitsbedingt fast ein Jahr im Bett oder Zimmer verbringen musste. In dieser Zeit lernte das aufgeweckte Kind auch lesen und schreiben. Nach einer Erkrankung des Vaters ging es der Familie finanziell allerdings schlecht. Ein Jugendfreund Rosas berichtete, dass sie Familie Mangel zu leiden hatte (allerdings ohne zu verbittern, wie er sagte), nicht selten wurde sogar das Bett zum Wucherer gegeben. „Ich erinnere mich, wie Rosa erzählte, sie hätte einst mit einem Papierfetzen die Lampe angezündet, später jedoch erwies sich, dass es das letzte Geld im Hause gewesen war, das der Vater mit Mühe erworben hatte; der Alte bestrafte seine Tochter nicht, sondern tröstete sie, nachdem er sich von dem ersten Eindruck erholt hatte, mit Scherzen über das teure Streichhölzchen.“ (S. 20)
Über Rosas Kindheit existieren nur wenig Daten. Diese Szene beschreibt allerdings einen für damalige Verhältnisse absolut ungewöhnlichen Vater. Die Tochter verbrennt das letzte Geld, sie ist ein Kind und wusste es halt nicht besser. Der Vater versteht dies und tröstet sie, statt sie auszuschimpfen oder zu bestrafen. In solchen Szenen zeigt sich, ob Eltern destruktiv oder liebevoll sind. Rosas Vater war offensichtlich ein liebevoller Vater.

Mit zehn Jahren gab es allerdings einen Bruch in Rosas Leben. Weihnachten 1881 erlebte sie ein Pogrom gegen Juden mit. Viele Juden wurden verletzt, gedemütigt, manche getötet. Ein wütender Mob zog auch durch die Straße, in der Rosa und ihre Familie wohnte. Diese schrecklichen Erlebnisse vergrub Rosa tief in sich und nahm sich in der Folge vor, sich für ein menschliches Leben einzusetzen, in dem solche Gewaltexzesse unmöglich sein sollten. (vgl. S. 33)

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Homophobie und Hass in Uganda

Im aktuellen Amnesty Journal wird unter dem Titel „Der Hass auf die Liebe“ über Homophobie in Uganda berichtet. Wenn man A weiß, dass in Uganda Gewalt gegen Kinder extrem weit verbreitet ist und B sich etwas mit den möglichen Folgen der Gewalt gegen Kinder auskennt, ergibt dieser Artikel weit aus mehr Informationen, als oberflächlich in ihm stehen. In Uganda wurde in der vergangenen Legislaturperiode durch einen Abgeordneten der Regierungspartei ein Gesetzentwurf eingebracht, der unter bestimmten Voraussetzungen die Todesstrafe für Homosexuelle vorsieht. Dieser Entwurf wurde bisher nicht verabschiedet, wohl auch auf Druck der internationalen Gemeinschaft.

Der Hass auf Homosexuelle scheint in diesem Land (wie in vielen afrikanischen Ländern) sehr weit verbreitet zu sein. Die ugandische Boulevardzeitung „Rolling Stone“ hatte groß getitelt – so Amnesty – „100 Fotos von Ugandas Top Homos“. Dazu auf der Titelseite die Überschrift „Hängt sie“ und ein großes Foto von David Kato, der vier Monate nach dieser Zeitungsausgabe erschlagen worden ist. Der Chefredakteur der Zeitung dazu: „Zwischen unserer Kampagne und dem Tod David Katos besteht kein Zusammenhang. Wir haben schließlich dazu aufgerufen, dass die Homos gehängt werden, doch Kato wurde mit einem Hammer erschlagen.

Der Chefredakteur Muhame weiter: „Die Homosexualität ist die Mutter der Korruption und das Sprungbrett der Kriminalität. (…) David Kato und seine homosexuellen Freunde haben unser Land und unsere Kinder terrorisiert. Ich habe mich über David Katos Tod gefreut.“ Nach Ansicht des Chefredakteurs breitet sich die, angeblich aus dem westlichen Ausland importierte, Homosexualität „unsichtbar, wie eine stille Epidemie“ in Uganda aus und zerfrisst die Moral des Landes wie ein Krebsgeschwür gesundes Gewebe. Er spricht von der „Seuche Homosexualität“.

In der psychohistorischen Forschung spricht man von der „Internen Opfer-Lösung“, wenn Hassgefühle aus der Kindheit an Minderheiten ausagiert werden. Finden sich keine internen Opfer mehr, drohen die Hassgefühle auch gegen äußere Feinde ausagiert zu werden, in Form von kriegerischen Konflikten (Anmerkung: Uganda führte in den 70er Jahren Krieg gegen Tansania, danach kam es immer wieder zu bürgerkriegsähnlichen Konflikten, an denen Rebellenarmeen beteiligt waren. Seit 2006 hat sich dieser innere bewaffnete Konflikt etwas beruhigt.).

In den Aussagen des Chefredakteurs findet sich die Sprache des misshandelten Kindes wieder (siehe von mir fettgedruckte Teile). Von einer Gefahr für Kinder ist die Rede, von der Mutter und von Vergiftung/Seuche. Vor allem letzteres wird von Menschen, die folterähnliche Erziehungspraktiker erfahren haben, real so erlebt. Das abgespaltene Trauma droht ständig durch Trigger ins Bewusstsein zu rücken, der Mensch fühlt eine Panik vor innerer Vergiftung und vor Zerfall. Das „Gift“, das „Krebsgeschwür“ wird zur „Lösung des Konfliktes“ außen in Feinden gesucht und dort bekämpft. Der Amnesty Titel „Hass auf die Liebe“ zeigt auch hier eine Wahrheit. Menschen, die nie geliebt wurden, empfinden nur noch Hass, vor allem auch auf alle, die fühlen und lieben können.

Aktuelle Gruppenfantasien

Über mögliche Gruppfenfantasien habe ich seit EHEC und dem Libyen-Einsatz nichts mehr geschrieben. Zwischenzeitlich regierte ja weiterhin die ökonomische Krise die Schlagzeilen. Allerdings, so meine Wahrnehmung, waren die Krisennachrichten der letzten Wochen nicht zu emotional, sondern liefen nebenbei daher wie eine Selbstverständlichkeit. Derzeit ändert sich die emotionale Lage, so mein Eindruck. Der französische Sozialist Montebourg wirft Angela Merkel aktuell vor, sie wolle "den Euro töten" und mache „Bismarcksche Politik". (Welt, 30.11.11)
Der SPIEGEL titelt aktuell mit einem gespaltenen Euro.

Die Krisennachrichten werden auch in anderen Medien wieder emotionaler und wort- bzw. bildgewaltiger. Dazu kommen seit einiger Zeit immer wieder Berichte über den Säuglingstod in Krankenhäusern, aber auch gehäuft Berichte über Kindestötungen und Gewalttaten (Breivik, rechter Terror und ähnliches). Nebenbei erleben wir einen Eskalationsprozess mit dem Iran. Mittlerweile titel z.B. die Welt sogar damit, dass Deutschland in Gefahr sei: „Iran plant offenbar Anschlag in Deutschland

Ich bin kein systematischer Beobachter und gebe wie gehabt nur hier und da mal meine persönlichen Gedanken zu emotionalen Prozessen zu Protokoll. Wir werden sehen, ob sich die Gruppenfantasien in den kommenden Wochen weiter verdichten und es zu weiteren irrationalen Bildern und Wortgefechten kommt.

Mittwoch, 30. November 2011

Neue Details aus Breiviks Kindheit

Dank eines Leserkommentars hier im Blog bin ich auf einen aktuellen Artikel in der Welt aufmerksam geworden. Bereits im Juli hatte ich ja schon etwas über Breivik und dessen Kindheit geschrieben: „Attentäter Breivik: Natural born Killer?“. Die Welt berichtet nun über neue Details aus Breiviks Kindheit:

Als Anders Behring Breivik vier Jahre alt ist, soll die Mutter die Kinderschutzbehörde um Entlastung gebeten haben, und ein Psychologe wurde benannt, um den Bedarf zu beurteilen. Aber Entlastung war dem Psychologen zufolge nicht genug. Er beurteilte die Situation als so ernst, dass er empfahl, den Jungen unverzüglich und dauerhaft in ein Kinderheim zu bringen. Der Psychologe war der Auffassung, dass die Mutter ein gefühlsmäßig instabiles Verhältnis zum Sohn hatte. Er fürchtete, dass das Kind psychischen Schaden nehmen könnte. Der Junge kam nicht ins Kinderheim. Aber der Vierjährige wohnte eine Zeit lang bei einer Pflegefamilie. Auch die Pflegeeltern sollen besorgte Meldungen abgegeben haben.“

Man muss dazu anmerken, dass die Herausnahme eines Kindes aus seiner Familie und die Unterbringung in einem Heim die allerletzte Option der Kinderschutzbehörden ist. Wenn dies damals empfohlen wurde, dann lagen wirklich sehr ernsthafte Gründe dafür vor. Uns fehlen weitere Details, aber man kann sich vorstellen, dass Breiviks Mutter wohl nicht nur einfach überfordert war, sondern auch sehr destruktiv und für den Psychologen deutlich erkennbar auf ihren Sohn eingewirkt haben muss.
Bei diesem Thema sind die Entwicklungen fast immer die gleichen. Je mehr Details aus der Kindheit von Serientätern und Mördern ans Licht kommen, desto deutlicher zeichnen sich Gewalt- und Vernachlässigungserfahrungen ab. Nie ist es umgekehrt, findet man immer mehr Beweise für echte Liebe und Geborgenheit.

Kürzlich habe ich das Buch „Muttersöhne“ von Volker E. Pilgrim durchgesehen. Der Autor arbeitet leider etwas unsauber, was Quellenangaben angeht. Auch sein Sprachstil ist teils sehr gewöhnungsbedürftig. Ebenso ist seine Sicht teils sehr eingeengt. Trotzdem bringt das Buch dem Leser eine Wahrheit nahe: Die grausamsten männlichen Täter der Geschichte sind oftmals die, welche einen abwesenden und wenn anwesend destruktiven, strafenden Vater hatten und eine besitzergreifende, emotional missbrauchende Mutter, die ihrem Sohn ihr persönliches Leid und ihr Schicksal als ggf. entrechtete Frau aufbürdet, ihn als Partnerersatz und emotionale Krücke benutzt (man schaue auch im Grundlagentext bzgl. der Kindheit von Diktatoren). In der Psychohistorie wird von Lloyd deMause aufgezeigt, dass Kriegen oft Bilder von monströsen Frauen und vor allem Schlangenwesen und krakenähnlichen Monstern vorrausgehen. Er sieht darin – vor allem in seinen älteren Schriften – einen Zusammenhang zum Phänomen „fötales Drama“ und auch einem Geburtstrauma. Ersteres entsteht vor allem durch Rauchen, Alkoholkonsum, schwere Stress- und Angstbelastungen der Mutter, emotionale Ablehnung des Fötus, Gewalt gegen die Mutter usw. Die Bilder von Kraken, Medusa und ähnlichem sieht er hier als unbewussten Ausdruck dieses frühen Dramas. Ich teile seine Sicht, dass bereits der Fötus Destruktivität erlebt und sich dies auswirkt. Ich meine aber, dass die Krake, Medusa, Schlangenfrau usw. vor allem auch etwas mit dem emotionalen Missbrauch durch Mütter zu tun hat. Wie eine Krake umschlingen emotional missbrauchende Mütter kaum sichtbar die Psyche ihrer Kinder und saugen diese aus. Viele Kinder, die so etwas erleben, sind quasi emotionale Krücken für ihre Mütter, viele brechen unter dieser Last zusammen.
Anders als bei schlagenden Vätern, wird es für die betroffenen Kinder schwerer sein, diesen Missbrauch als eine Form von Gewalt und Grausamkeit gegen sich zu erkennen, da dieser Prozess verdeckter, geschickter, manipulativer und eben auf der psychischen Ebene stattfindet. Dazu kommt, dass es ein kulturelles Bild von der immer ihre Kinder liebenden, sich aufopfernden Mutter gibt. Die Grausamkeit von destruktiven Vätern zu erkennen, fällt sicher leichter, als die Grausamkeit der eigenen Mutter. Doch gerade das Erkennen dessen (und auch bewusste Fühlen), was einem angetan wurde, schützt die Menschen oft davor, selbst zu Tätern zu werden. Breivik war offensichtlich nicht in der Lage, die Grausamkeit seiner Mutter als solche zu erkennen. Er lebte sogar bis kurz vor der Tat noch bei ihr und seinem Manifest fügte er am Ende des Textes ein trautes Foto mit Mutter und Schwester bei. Diese Blindheit vor der eigenen Kindheitsgeschichte ist die Quelle dafür, dass solche Leute ihren Hass nach außen tragen, ohne im Grunde zu wissen, warum sie hassen. Trotzdem ist der Täter voll in die Verantwortung zu nehmen!

Dienstag, 29. November 2011

Destruktive mögliche Lebenswege: Tomi Ungerer

Der Kinderbuchautor und Künstler Tomi Ungerer durfte zu seinem 80. Geburtstag auf Welt-Online„ das Trauma bei Kindern preisen: "Ohne Angst kein Mut".

Kürzlich hatte ich ja den Text „Kritik und Abwehr“ geschrieben. Nicht alle traumatisierten Kinder werden logischerweise später zu Mördern. Das Leben ist sehr komplex und vielfältig. Manche werden zu Kinderbuchautoren und selbsternannten Pazifisten, wie Tomi Ungerer. Was aber manches mal bleibt, ist die Destruktivität des unverarbeiteten Traumas, die ihren Ausdruck sucht und findet. Ungerer hat im Interview recht offen und selbstgerecht gesagt: „Man muss die Kinder traumatisieren, um ihnen eine Identität zu geben.“ Sprich, man muss sie ängstigen, damit sie mutig werden, so Ungerer weiter. Was das für seine eigenen Kinder bedeutete, schildert er so: Mit seinen sieben und neunjährigen Kindern ging er ins Konzentrationslager, „damit sie einen Galgen und einen Gasofen sehen“. Oder er zwingt die Kinder, sich eine zerquetschte Katze auf der Straße anzusehen, damit sie ihre Lektion lernen, an Straßen vorsichtig zu sein… Er berichtet auch von direkter Gewalt gegen seine Kinder: „Meine Frau traf einmal den Lehrer meines Sohnes Lukas. Er sagte: "Ich habe Ihren Sohn angeschrien. Wissen Sie, was er darauf gesagt hat? ,Schreien Sie weiter. Sie schreien genauso wie mein Vater. Mir imponiert das nicht.'" Welt Online fragte darauf: „Sie haben viel geschrien zu Hause? „ Antwort: „Kinder, die nicht angeschrien werden - was sollen sie im Leben tun, wenn einmal ein Typ auf sie zukommt und losschreit? (…). Welt Online: „Gab es auch Ohrfeigen?“ Antwort Ungerer: „Ab und zu mal einen Klaps. Manchmal bin ich aber auch in der Küche auf die Knie gegangen und habe zu meinen Kindern gesagt: "Ich bin auch nicht so nett. Jetzt sollt ihr mich strafen." Dann sind sie auf mich losgegangen und haben draufgehauen. Ich bin immer meinem Instinkt gefolgt.

Ich kenne die Bücher dieses Autors nicht. Aber mir ist klar, jemand, der so denkt und handelt, kann keine konstruktiven Bücher schreiben, erst recht nicht für Kinder. Seine Werke müssen von Destruktivität durchzogen sein. Ungerer ist ganz offensichtlich mit der Macht identifiziert, Weichheit und Angst ist etwas, das er bekämpft. Strafen und Angstmachen von Kindern ist für ihn etwas, das er mit Verantwortung und Fürsorge gleichsetzt. So reden Menschen, die es selbst nie anders kennengelernt haben. Dieser Künstler ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Missachtung und Instrumentalisierung von Kindern immer ihren destruktiven Ausdruck findet, je nach individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten, Zufällen usw. ergeben sich dabei unterschiedliche Lebenswege. Man kann nicht sagen, dass es vereinfach gedacht ist, einen Gewalttäter (gar auch politsicher Art) auf Grund dessen Kindheit zu analysieren, weil ja so viele andere misshandelte Kinder nicht zu einem Gewalttäter wurden. Man muss den Blick offen haben, für die Gesamtheit an destruktiven Lebenswegen, die diese Welt bietet. Die zerstörerischen Wege werden von denjenigen eingeschlagen, die selbst als Kind Zerstörung und Missachtung erfahren haben. Diejenigen, die echte Zuwendung erlebt haben, sehen frühzeitig die Warnschilder und Weghinweise, sie werden entsprechend umkehren und andere Wege suchen oder den Weg selbst bauen.

Abschließend möchte ich noch sagen, dass es ganz erstaunlich ist, wie Welt-Online hier jemanden ganz selbstherrlich und unter "Vorbild"-Aspekten Gewalt gegen Kinder als nützliches Erziehungsmittel darstellen lässt, ohne dies redaktionell zu kommentieren. Was mich noch mehr erstaunt hat: Tomi Ungerer ist laut wikipedia „Botschafter für Kindheit und Erziehung“ für dem Europarat seit 2000….

Freitag, 25. November 2011

Psychogramm eines Nazitäters und die Probleme von Historikern

Historiker haben es nicht leicht, wenn es um die genaue Erfassung von Kindheiten geht. Erst kürzlich habe ich den Historiker Robert Gerwarth angeschrieben, weil dieser in seiner aktuellen Biografie über den NS-Täter Reinhard Heydrich nur sehr wenig über dessen Kindheit und die familiäre Atmosphäre im Hause Heydrich berichtete (berichten konnte). Freundlicherweise erhielt ich eine Antwort des Autors. Es gäbe leider keine Hinweise auf einen gewalttätigen Familienhintergrund im Hause Heydrich, so Gerwarth u.a. in seiner Antwort. Da die Informationslage bzgl. Heydrichs Kindheit sehr dünn ist, werden wir wohl kaum Gewissheit über das bekommen, wie dessen Kindheit wirklich war. Für mich ist klar, dass der Massenmörder Reinhard Heydrich als Kind psychischen und/oder physischem Terror ausgesetzt gewesen sein muss, seine Taten sprechen eine zu deutliche Sprache. Anders als z.B. bei Hitler, wird sich dies wohl nicht stichhaltig belegen lassen.

Aufschlussreich in diesem Zusammenhang finde ich einen Beitrag von Ute Althaus: „Krieg im Kinderzimmer. Psychogramm eines Nazitäters.“ In: Galler, F. / Janus, L. / Kurth, W. 2006: Fundamentalismus und gesellschaftliche Destruktivität. Jahrbuch für psychohistorische Forschung. Band 6. Mattes Verlag, Heidelberg.
Althaus befasst sich mit der Kindheit ihres Vaters, der als begeisterter Nazi zum Kampfkommandanten aufstieg und nach dem Krieg zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Er hatte in Ansbach/Bayern kurz vor Ende des Krieges einen Studenten höchst persönlich gehängt, weil dieser zum Widerstand gegen die Nazis aufgerufen hatte (Der Täter selbst sah sich als „Herr über Leben und Tod“ und an Pflichten gebunden, wie er in seiner Verteidigungsschrift darlegte). Diese Analyse der eigenen Familiengeschichte untermalt die Autorin mit interessanten Auszügen aus Erziehungsratgebern, die um das Jahr 1900 geläufig waren. Ihr Vater, Ernst, wurde 1895 geboren, die Zeit, so Althaus, die man mit der „Schwarzen Pädagogik“ verbindet.
In den vielen Briefen (vor, während und nach dem Krieg) ihres Vaters entdeckt die Tochter ein wesentliches Gefühl, das dieser ausdrückt: Wut und Hass. Sie schreibt: „Eine bedingungslose Liebe, die nicht an Leistung gebunden ist und die Eigenständigkeit des Kindes respektiert (…) hat Ernst in seinem Elternhaus nicht kennen gelernt. Liebevolle, weiche Gefühle werden eher entwertet.“
Ernst selbst idealisierte seine Eltern weitgehend. Über den Vater schreibt er u.a.: „Ja, Väterchen, du bist ein treuer sorgender Hausvater gewesen. Hab Dank, du rastloser Sämann, hab Dank“ Auch dort, wo die Dornen wachsen und die Steine liegen und die Körner nicht auf Grund fielen, hat sie ausgeworfen seine Liebe.“
Was hätte der Historiker über die Kindheit dieses Mannes geschrieben, wenn er z.B. diesen letzt genannten Brief ausgewertet hätte, ohne auf Daten rückgreifen zu können, die einer Tochter zur Verfügung stehen? Vielleicht hätte hier gestanden: Ernst wuchs in einer normalen Umgebung auf und schrieb liebevoll über seinen Vater.
Diese Idealisierung destruktiver Eltern ist ein bekanntes psychisches Phänomen und dient dem Selbstschutz des Kindes. Forschende haben es dadurch nicht gerade leicht, die Realitäten von Kindheiten zu erfassen. Ich selbst erinnere mich an einen Mann, der Anfang der 30er Jahre geboren wurde. Ich wusste durch Dritte von ihm, dass er schwer von seinem Vater misshandelt worden war. In einem Gespräch sagte er einmal über seine Eltern: „Ich bin immer viel von meinen Eltern kritisiert worden.“ Diese Generation hat eingeimpft bekommen, sich nicht über erfahrenes Leid zu beschweren. Aus schweren Misshandlungen wird so im Selbstbericht „Kritiküben“.

Zusammenfassend schreibt Althaus:
Als Gleicher unter Gleichen wird ihm ein Platz in der Volksgemeinschaft versprochen, um den Preis, dass er sich dieser Bewegung mit Haut und Haar verschreiben muss. Der Volkskörper sei alles, der Einzelne nichts. Auch hier sind Ernsts Eigenständigkeit und Individualität nicht gefragt. Das sind für ihn vertraute Töne seiner Kindheit und lösen bei ihm die entsprechenden Reaktionen dem Führer gegenüber, wie seinem Vater gegenüber, aus: er klammert sich an den, der ihm seine Eigenständigkeit und Würde abspricht, und verherrlicht dessen vermeintliche Stärke. Für diese Selbstaufgabe wird ihm bei den Nazis im Unterschied zu seiner Familie Macht versprochen. Gleichzeitig bekommt er einen Focus und eine Legitimation für seine Wut und seinen Hass geliefert.

Mittwoch, 23. November 2011

Kritik und Abwehr

Die Kritik an Thesen, wie sie in diesem Blog vertreten werden, ist im Grunde immer die gleiche.

Man kann doch nicht alles nur auf die Kindheit schieben!“ ist wohl die häufigste Reaktion, die gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit dem Thema verhindert (verhindern soll). Doch wer hat denn überhaupt gesagt, dass ich und Andere "alles nur" auf die Kindheit schieben? Menschliches Verhalten resultiert aus unzähligen Einflussfaktoren: Da sind die Erbanlagen und Gene bzw. der angeborene Charakter, der bei jedem Menschen anders ist; da ist das Geschlecht, da sind unterschiedliche kulturelle und/oder milieubedingte Einflüsse, Peergroup, Erwartungshaltungen des Umfeldes, Zufälle des Lebens, Schichtzugehörigkeit, Einflüsse des jeweiligen Zeitgeistes, Alter usw. usf. Wer bitteschön sagt denn, dass diese Dinge keinen Einfluss auf einen Menschen ausüben? Ich sage dies nicht.

Ich sage nur, dass ein Mensch, der in einem erheblichen Maße destruktiv handelt - womit ich sowohl selbstschädigendes als auch fremdschädigendes Verhalten meine – in seinen Emotionen gestört sein muss. Wer wirklich fühlt, wer Mitgefühl kennt, kann keinen anderen Menschen umbringen, gezielt quälen, foltern, vergewaltigen, missbrauchen, schlagen, demütigen usw. oder andere Menschen dazu befehlen. Das ist für mich quasi ein „psychologisches Naturgesetz“. (Eine Ausnahme bzgl. kurzfristigen, nicht sadistischem Gewaltverhalten bildet eine ausweglose persönliche Situation, in der aus Notwehr gehandelt wird. Jeder Mensch hat die Anlage, mit „gesunden“ Aggressionen zu reagieren, wenn er direkt angegriffen wird.) Ein Verschütten von Emotionen, eine psychische Abspaltung von Mitgefühl findet vor allem durch den Einfluss von häufiger elterlicher Gewalt (ob nun psychischer oder körperlicher Art) und Lieblosigkeit statt. Dazu haben z.B. Arno Gruen oder auch Alice Miller etliches geschrieben, aber auch in diesem Blog findet man einiges dazu. Umgekehrt bilden Kinder, die wirklich von ihren Eltern geliebt werden, die Geborgenheit, Nähe, Anwesenheit und lebhafte Kommunikation erfahren, die nicht geschlagen und gedemütigt werden ein reichhaltiges Gefühlleben (vor allem auch Empathie) und echtes Selbstbewusstsein aus. Sie stehen lebenslang auf den Säulen dieser frühen Erfahrungen und bilden eine sichere Identität aus. Sie müssen keine Gefühle abspalten, einfach weil sie keine Gewalt erfahren haben.

Insofern komme ich dann z.B. zu Aussagen wie diese: „Alle Massenmörder müssen als Kind gedemütigt, missbraucht und/oder misshandelt worden sein.“ oder „Es ist unmöglich, dass ein Massenmörder ein wirklich geliebtes Kind war.“ Aus solchen Sätzen wird einem dann mangelnde Seriosität, Vereinfachung oder monokausales Denken unterstellt.
Einmal wurde mein Kommentar in einer großen Zeitung von der Redaktion gelöscht, weil ich seriöse Quellen für meine Behauptung, dass destruktive, gewaltvolle Kindheiten eine wesentliche Ursache von Krieg und Massenmord darstellen, nennen sollte. Obwohl es unzählige Beispiele dafür gibt, dass privilegierte, reiche und gebildete Menschen, Lehrer und Doktoren usw. zu bereitwilligen Mördern innerhalb von Kriegen wurden und viele Kriege an sich auch dann ausbrechen, wenn Nationen ökonomisch wachsen und ihren Wohlstand vermehren, kann man dagegen bei jeder Diskussion um Krieg und Massenmord getrost sagen: „Die Armut und Ausbeutung ist die Wurzel allen Übels.“ Wer wird dafür seriöse Quellen verlangen oder gar zensieren?

Die nächste Reaktion der Kritiker ist meist folgende: Wenn Massenmörder alle misshandelte Kinder wären, dann müssten wir ja viel mehr Massenmörder und Serientäter haben, weil so viele Kinder Gewalt erfahren, dem ist aber nicht so. Ich erinnere mich auch noch an eine Reaktion, wo dann ein Mann meinte, er sei Trennungskind, das sei eine schwere Zeit gewesen, er hätte allerdings keinen Amoklauf in Planung. Damit war für ihn die Diskussion beendet... Das ist nun wieder ein zweifacher Irrtum, dem die Kritiker unterliegen. Erstens: Ich und Andere sagen nicht, dass jedes misshandelte Kind zu einem Mörder, Terroristen, Nazi usw. wird. Trotzdem wären die Täter nicht zu Mördern, Terroristen, Nazis usw. geworden, wenn sie geliebte Kinder gewesen wären. Diese Feinheit in der Argumentation muss man schon verstehen.

(Ich sehe aber auch, dass viele einst misshandelte Kinder einen sehr destruktiven Lebensweg gehen. Dieser muss nicht von Gewalt gegen Andere geprägt sein. Oft ist er eher von Gewalt gegen sich selbst bestimmt, indem man sich z.B. destruktive, schlagende Partner sucht, Suchtverhalten zeigt, lebensgefährliche Sportarten betreibt, sich prostituiert, in Sekten eintritt, sich in SM Studios schlagen lässt usw. usf. Das Leben bietet unzählige Möglichkeiten, Fühllosigkeit, (Selbst-)Hass, Nicht-Identität und Verzweiflung auszudrücken. Zudem gibt es in unserer Welt viele Möglichkeiten, legal Gewalt auszuüben. Ich denke da an den Beruf Soldat, US-Präsident oder an Spekulanten an der Börse, die z.B. Lebensmittelpreis in die Höhe treiben und dadurch tausende Menschen umbringen. Dazu kommen verdeckte Formen der Gewalt wie die Misshandlung der eigenen Kinder, Angestellter, dem Lebenspartner oder Gewalt gegen Tiere. Gewalt gegen Kinder kann viele Folgen haben, Terror und Mord ist nur eine mögliche Form. Eine Ausnahme stellen dabei allerdings Kriege dar, in denen ein großer Teil der Bevölkerung von hier auf jetzt plötzlich zu bereitwilligen Mördern werden (Weltkriege, Ruanda, Kambodscha usw.). In diesen Situationen zeigt sich, wie sich die erlebte familiäre Gewalt plötzlich massenhaft auf der gesellschaftlichen Bühne entladen kann, wie „normale Menschen“ zu grausamsten Taten fähig werden.)

Zweitens: Gewalt gegen Kinder ist nicht gleich Gewalt gegen Kinder. Eine Trennung der Eltern mag belastend sein, manche Kinder haben in ihrem Leben vielleicht vier oder fünf mal körperliche Züchtigungen erfahren, andere wurden ein paar mal angeschrien, manche vielleicht sogar ein zwei mal misshandelt usw. Solche Erfahrungen sind schlimm, aber sie reichen nicht aus, um einen Menschen tief zu spalten und mörderische Rachegefühle zu erzeugen. Je schlimmer die Taten und Grausamkeiten sind, die ein Mensch begeht, desto schlimmer und grausamer war seine Kindheit, würde ich sagen. Menschen, die Babys auf den Grill legen während sie deren Eltern vergewaltigen (geschehen in Ruanda) sind keine Trennungskinder und ähnliches. Menschen, die so etwas tun, wurden als Kind (meist) von ihren Eltern regelrecht gefoltert. Alles, was menschlich an ihnen war, haben sie dadurch verloren. Auch ein US-Präsident, der wirklich über den gewinnbaren Atomkrieg nachdenkt, ist emotional absolut leer. Nachweisbar wurden diese Präsidenten als Kind schwer misshandelt.

Aber, auch schwer misshandelte Kinder können später durchs Leben kommen ohne anderen Gewalt anzutun. Meist sind es Kinder, die einen „helfenden Zeugen“ in ihrer Nähe hatten, Geschwister, einen Elternteil oder die Oma, die sich liebevoll um sie bemühten und ihnen beistanden. Solche positiven Erfahrungen mildern die destruktiven Folgen der Gewalt ab. (dazu kommen heutige Möglichkeiten der Therapie)

Das Thema ist komplexer, als es erscheint. Doch all die Leute die rufen: „Man kann doch nicht alles nur auf die Kindheit schieben!“ werden diese Zeilen wohl leider kaum lesen.

Die wesentliche Reaktion auf die Konfrontation mit diesem Thema ist allerdings Schweigen. Ich könnte dafür etliche Beispiele aus der Vergangenheit anführen. Neulich erst warf ich in einem Forum einer Zeitung etwas zur Kindheit eines Kriegsherren ein. Es gab über 250 Diskussionsbeiträge im Forum und über 45.000 Zugriffe auf diesen Themenstrang. Über 100 mal wurde ein Link auf meinen Blog angeklickt, etliche andere Forumsuser werden zudem meinen Beitrag im Forum gelesen haben. Kein einziger User antwortete auf meinen sachlichen Hinweis. Und dass, obwohl im Artikel selbst über den Kriegsherren etliches über dessen traumatische Kindheit stand.

Die zweit häufigste Reaktion ist Abwehr. Dazu gehören auch Bemerkungen wie: „Auch ein sehr liebevoll erzogenes Kind kann zu einem Massenmörder werden.“ oder „Massenmörder sind halt verrückt, da kann man nichts machen.“ Aber natürlich auch alle erdenklichen Argumente, bis hin zu der Behauptung, es gäbe keine Studien, die einen Zusammenhang von Opfererfahrungen und Gewaltverhalten festgestellt hätten. Ich erinnere mich an eine frühere Onlinediskussion, die ich eröffnet habe. Ein User ging meine Argumente sehr scharf an und lehnte sie grundsätzlich ab. Im Laufe der Zeit kamen noch andere User dazu und die Diskussion weitete sich aus. Plötzlich bekam ich eine private Nachricht von der Person, die meine Beiträge am Schärfsten kritisiert hatte. Er meinte, dass er selbst Heimkind gewesen sei und seine Kindheit ihn nie losgelassen hätte. Seiner Familie gegenüber hätte er nie etwas gesagt und er würde ihnen ein großes Schauspiel liefern. Als ich auf ihn einging, bekam ich als Antwort, dass seine Nachricht ein „Ausrutscher“ gewesen sei und er bisher doch immer gut damit gefahren sei, seine Kindheit nicht zu erwähnen. Dieses Beispiel zeigt sehr gut, dass Kritik in diesem Bereich nicht immer rational sein muss. Die Kritik kann kommen, einfach weil man „es nicht wahrhaben will“, weil das Aufzeigen solcher Zusammenhänge an eigenen Wunden rührt, weil klar würde, dass auch mancher Schatten im eigenen Leben mit der eigenen Kindheit zusammenhängen könnte.

An dieser Stelle möchte ich auch nochmal einige Gedanken aus dem Nachwort des Grundlagentextes zitieren, die hier sehr gut hinpassen:

Ich erinnere mich an eine allgemeine Vorlesungsreihe an der Universität Hamburg zum Thema NS-Zeit und Ursachen (Titel: „Denn sie wussten und wollten, was sie taten. Der Holocaust und seine Täter“ Ringveranstaltung am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Uni Hamburg, WS 2002/2003)
Diese wöchentliche Abendveranstaltung wurde vorwiegend von Menschen besucht (und auch veranstaltete), die diese Zeit selbst miterlebt hatten. Entsprechend emotional verliefen die Lesungen. Ich möchte hier in diesem Zusammenhang eines anmerken. Es wurden im Laufe der Lesungsreihe viele interessante Aspekte dieser Zeit vorgestellt. Auch wurden verschiedene politisch-soziologische und wirtschaftliche Zusammenhänge als Ursachen für die NS-Zeit aufgeführt, die alle wirklich sehr logisch und nachvollziehbar und sicherlich auch wahr waren und sind. Das spannende für mich war aber folgendes. Einer der hauptverantwortlichen Dozenten für diese Reihe reichte einmal – so ca. in der Mitte der gesamten Lesereihe - ein Blatt mit dem Inhalt der entsprechenden Lesung an diesem Abend im Publikum durch. Auf der Rückseite dieses Blattes hatte er – ganz entgegen des Themas dieses Lesungstages - die Inhaltsangabe des Buches „Der Fremde in uns“ von Arno Gruen kopiert, in dem vor allem die „Identifikation mit dem Aggressor“ bzw. destruktive Kindheitserfahrungen als Ursache für Krieg und speziell auch den 2. Weltkrieg benannt sind. Auf diese rückseitige Inhaltsangabe machte der Dozent nicht aufmerksam, er reichte sie einfach stillschweigend herum. Überhaupt waren destruktive Kindheitserfahrungen als eine mögliche Ursache von Krieg und Täterschaft in dieser Veranstaltungsreihe kein Thema. Trotzdem machte der Dozent leise auf Arno Gruens Thesen aufmerksam. Warum? Warum so heimlich und leise? Dies machte mich zunächst stutzig, aber ich fand es auch irgendwie bezeichnend. Die Generation, die diese Zeit miterlebt hatte, umkreiste in ihrer Analyse letztlich einen wahren Kern, den wirklich offen zu beleuchten sie wohl nicht ertragen konnte.
Am 06.02.2003 fand mit dem Schlussthema „Wie können Menschen zu Tätern werden?“ die Abschlusssitzung der gesamten Lesereihe statt. Auch hier wurde wieder nicht auf destruktive Kindheitserfahrungen als mögliche Ursache hingewiesen (und das obwohl die Lesereihe am Fachbereich Erziehungswissenschaft statt fand). Als ich dann nach der Lesung im Plenum freundlich darauf hinwies, dass mir das psychoanalytische Ursachenverständnis von Krieg und Täterschaft gefehlt hätte und dies obwohl ein leitender Dozent in einem Beiblatt sogar auf „Der Fremde in uns“ und somit auf den Zusammenhang mit destruktiven Kindheitserfahrungen hingewiesen hätte, bekam ich als Reaktion aus dem Plenum „ein Raunen“ und teils offene Anfeindungen. An eine Frau erinnere ich mich noch besonders. Sie stand auf und rief irgendetwas wie: „Eine Welt, wie sie sie wollen, gibt es nicht!“ Und ich hätte unrecht mit meinen Gedanken usw.
Zumindest die hauptverantwortlichen Dozenten bedankten sich höflich für meine Kritik, wiegelten diese nach meiner Erinnerung aber auch mit einigen Ausschweifungen über den Lesungsverlauf ab, nahmen sie somit nicht wirklich an und überhörten auch meinen Hinweis auf Arno Gruens Buch, das sie mit keinem Wort weiter erwähnten. Mir persönlich wird diese Lesereihe immer in Erinnerung bleiben, ich habe dort viel gelernt, vielleicht mehr, als ich durch Bücher hätte lernen können.

Samstag, 19. November 2011

Zwischengedanken: Kindheit und Gesellschaft

Viele Länder, die für dauerhafte schwere Konflikte, hohe Kriminalitätsraten, Kriege, Krisen, Diktaturen und/oder Rekrutierungsgebiete für Terroristen stehen, weisen gleichzeitig sehr hohe Raten an Gewalt gegen Kinder auf.
Einige ausgesuchte Beispiele laut UNICEF Report 2009 „Progress for Children“ (Seite 8):

(Die Prozentzahl gibt den Anteil der Kinder zwischen 2 und 14 Jahren an, die körperliche und/oder psychische Gewalt (meist durch nahe Bezugspersonen) erleben, wobei der Großteil der Kinder beides erlebt, körperliche und psychische Gewalt. Im Bericht selbst steht, dass die Zahlen nur die Oberfläche angeben, da Gewalt gegen Kinder oft im Verborgenen stattfindet und nicht berichtet wird. Eine genaue Definition was Gewalt beinhaltet, gibt UNICEF nicht, wohl weil die Daten aus etlichen unterschiedlichen Studien stammen.)

Besetzte palästinensische Gebiete = 95 %

Vietnam = 94 %

Yemen = 93 %

Syrien = 87 %

Irak = 84 %

Weißrussland = 83 %

Serbien = 73 %

Bzgl. der Situation in Afrika hatte ich kürzlich viele Daten zusammengestellt, die ein extrem hohes Ausmaß der Gewalt belegen und die - sofern Studien vorlagen, die in die Tiefe gehen - auch eine hohe Intensivität und Häufigkeit der Gewalt nachweisen: „Gewalt gegen Kinder in Afrika

Bzgl. der Kindererziehungspraxis und der Gewaltverbreitung in Kambodscha habe ich ebenfalls aktuell einige erschreckende Daten zusammengestellt: „Kambodscha: Massenmord, Kindheit und Mütter aus einem anderen Leben

In einem anderen Text über die „Kindheit in den USA“ habe ich herausstellen können, dass in diesem kriegerischen Land im Vergleich zu anderen Industrienationen die Lage der Kinder besonders schlecht ist und sehr viele geschlagen werden (teils auch noch legal an vielen Schulen).

Die Journalistin Eva Karnofsky hat in ihrem Text „Familiäre Gewalt und Kindesmissbrauch in Kolumbien“ deutlich die sehr schlechte Situation der Kinder vor Ort beschrieben. Kolumbien hat mit eine der höchsten Kriminalitätsrate weltweit.

Nicht zu vergessen Deutschland um das Jahr 1900 und davor. Der Psychohistoriker Lloyd deMause hat u.a. in seinem Buch „Das emotionale Leben der Nationen“ belegt, dass die deutsche Kindheit ein „Alptraum von Mord, Vernachlässigung, prügeln und Folter von unschuldigen, hilflosen menschlichen Wesen“ war.

Die Zusammenhänge von destruktiven Kindheiten und gesellschaftlicher Destruktivität sind einfach offensichtlich. Trotzdem werden sie immer noch weitgehend verleugnet. Dafür gibt es sicherlich emotionale Gründe, aber auch fehlende Flexibilität im Denken und ein mangelhaftes Wissen darüber, was Gewalt gegen Kinder für diese bedeutet, für ihr Leben, Denken und Fühlen, sind mit ein Grund dafür, warum diese Zusammenhänge nicht gesehen werden. Demnächst werde ich mich einmal daran setzen, typische Kritikpunkte aufzugreifen und zu kommentieren. Denn mir fallen immer wieder die selben Grundmuster auf, was die Kritik angeht, die diesen Themenbereich hier betreffen.

Freitag, 18. November 2011

Kambodscha: Massenmord, Kindheit und Mütter aus einem anderen Leben

Mitte der 70er Jahre begann die Schreckensherrschaft der Roten Khmer. In Kambodscha wurden Schätzungen zu folge 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung direkt oder indirekt durch die Roten Khmer umgebracht (zwischen einer und zwei Millionen Opfer). Kambodscha war vorher sozial und ökonomisch relativ gut entwickelt. Vor dem Bürgerkrieg war Kambodscha eines der reichsten Länder Südostasiens. Doch Pol Pots Herrschaft „versetzte das einst reiche und hochzivilisierte Land in Südostasien zurück in die Steinzeit.“ (vgl. Planet Wissen)

Die Psychohistorie vertritt die (empirisch belegbare) These, dass Kriege meist in Zeiten von Wachstum und Wohlstand ausbrechen. (Stichwort „Wachstumspanik“, siehe dazu hier im letzten Drittel des Textes) Insofern passen auch die Ereignisse in Kambodscha in dieses Bild. Vor allem der enorme Hass gegen alles Fortschrittliche wurde in diesem Konflikt überdeutlich. Destruktive, sehr gewaltvolle Kindheiten müssen in diesem Land weit verbreitet gewesen sein, ansonsten wäre die massenhafte „Wachstumspanik“ und der Massenmord nicht möglich gewesen. Pol Pot wurde Ende der 20er Jahre geboren, viele seiner Soldaten wohl in den 40er und 50er Jahren. Was Kindheit zu dieser Zeit in diesem Land bedeutete, ist mir nicht bekannt und sicherlich ist dies auch kaum erforscht. Aber, wir können heute auf einige Studien zurückgreifen, die die Kindheiten und vor allem auch Gewalterfahrungen der heutigen Generation untersuchten. Diese Daten lassen Rückschlüsse auf das zu, was die Generationen vorher erlebt haben. Sie zeigen ein hohes Ausmaß von elterlicher Gewalt. Die Generationen davor werden entsprechend noch weit aus häufiger davon betroffen gewesen sein. Hier liegt der Schlüssel, um den Massenmord in seiner Tiefe zu verstehen.

Hier die Daten, die ich gefunden habe:

Für eine Studie von „Save the Children Sweden“ (2005) (“What children say: Results of comparative research on the physical and emotional punishment of children in Southeast Asia and the Pacific”) wurden in acht Ländern in Südostasien und im entsprechenden Pazifikraum 3.322 Kinder ausführlich befragt. Bzgl. Kambodscha stellte man folgendes fast: Über 80 % der Kinder berichteten von Gewalt vor allem in Form von Schlägen mit der Hand oder Gegenständen wie Stöcken oder Peitschen und auch von Tritten. Die Kinder wurden im Schnitt etwas weniger als einmal die Woche körperlich bestraft, ca. 1 % wurde täglich körperlich bestraft. Mütter wurden dabei 6 Prozentpunkte häufiger als Täterinnen angegeben als Väter.

Für eine andere große Studie aus dem Jahr 2006 („Stop violence against us!“ Summary Report 1. A preliminary national research study into the prevalence & perceptions of Cambodian children to violence against and by children in Cambodia. ) wurden 1.314 Kinder im Alter zwischen 12 und 15 Jahren befragt. In der Einleitung zu der Studie wurden zunächst einige vorliegende aufschlussreiche Zahlen besprochen. Laut der Studie „Children's Views on the Implementation of the UNCRC in Cambodia' (2004) gaben 52 % der befragten Kinder an, dass es zu körperlicher Gewalt gegen ein Familienmitglied kam. Eine Studie von Raghda Saba von der “University of Phnom Penh's, Psychology Departmen” kam nach einer Befragung von 400 Kindern 1999 zu dem Ergebnis, dass 41 % Zeugen häuslicher Gewalt waren, 58 % der Kinder wurden selbst innerhalb der Familien geschlagen. Ein Studienzusammenschluss kam bei einer Befragung von 500 Kindern 2001 zu dem Ergebnis, dass 44 % von ihren Eltern geschlagen wurden. 1.374 Frauen und 1.286 Männer wurden für eine andere Studie (1996) vom „Ministry of Women's Affairs“ befragt. 71.6% der Frauen und 57.3% der Männer meinten, dass man Kinder schlagen sollte, um sie zu disziplinieren.
Die vorliegende o.g. Studie kam ihrerseits zu dem Ergebnis, dass 36,4 % der Mädchen 50,5 % der Jungen "manchmal" (was auch immer das heißt) von ihren Eltern geschlagen werden. 34 % der Mädchen und 41% der Jungen wurden zudem in der Schule von Lehrkräften geschlagen, obwohl dies gesetzlich verboten ist. 15,7 % der Jungen und 13,3 % der Mädchen berichteten, dass sie vor dem Alter von 9 Jahren sexualisiert an ihren Geschlechtsteilen angefasst wurden. 18,9 % der Jungen und 13,5 % der Mädchen berichteten dasselbe, wenn es um das Alter über 9 Jahren ging. 23,5 % der Jungen und 21,4 % der Mädchen berichteten, dass sie Zeugen einer Kindesvergewaltigung innerhalb ihrer Dorfgemeinschaft wurden.

Für eine weitere große Studie (Cambodia Ministry of Education Youth and Sports Pedagogical Research Department, 2004: Cambodia National Youth Risk Behaviour Survey: Summary Report. (unterstützt durch UNICEF and UNESCO) ) wurden 9.388 Kinder und Jugendliche im Alter von 11 – 18 Jahren befragt. 26 % der Befragten gaben an, dass sie innerhalb von 30 Tagen vor der Befragung Gewalt in ihren Familien erlebt haben. Leider wurden in der Studie nicht die Gewalterfahrungen im gesamten Kindesalter oder innerhalb eines Jahres erfragt (was sonst üblich ist), insofern ist die Zahl von 26 % nur ein grober Hinweis. Wenn man zusätzlich bedenkt, dass Gewalt gegen Kinder am Häufigsten im Kleinkind- und Grundschulalter ausgeübt wird, hier allerdings Kinder und Jugendliche zwischen 11 und 18 Jahren befragt wurden, dann ist die Zahl von 26 % schon wieder etwas erhellend und zeigt eine hohe Gewaltbetroffenheit. Die Studie zeigte zudem, dass 27 % der Mädchen und 11 % der Jungen schon einmal (manche auch mehrmals) über Selbstmord nachgedacht haben. Armut und Probleme mit den Eltern waren die Hauptmotive, über Selbstmord nachzudenken.


Die gezeigten Daten bieten einen ersten erschreckenden Überblick. Die Kultur in diesem Land ist uns im Westen sehr fremd. Dies wurde mir nochmal besonders deutlich, als im zweiten Report einer bereits oben zitierten Studie auf die historische Entwicklung von Kindheit in Kambodscha eingegangen wurde. Traditionell gilt demnach in Kambodscha ein großes Machtgefälle zwischen Älteren und Jüngeren, insbesondere Kindern. Dies hat sicherlich weitreichende Auswirkungen auf den alltäglichen Umgang mit Kindern, den ich von hier aus nicht weiter beurteilen kann.
Ein traditioneller Schlüsselglaube ist hier hervorzuheben. Die Mutter aus dem vorherigen Leben, so der weit verbreitete Glaube, kann einen großen Einfluss auf ein neu geborenes Kind (aber auch das ältere Kind) ausüben, sie kann sogar versuchen, es zurück in ihre Welt zu holen. Gleich nach der Geburt wird eine Zeremonie abgehalten, um der vorherigen Mutter klar zu machen: „Dieses Kind gehört jetzt dieser Mutter. Nicht mehr Dir, verschwinde!“ Die Angst vor dem Einfluss der vorherigen Mutter bleibt aber weiterhin bestehen. In dem Bericht heißt es: „The world view of the mother is such that occurrences that happen to the young child can be attributed to the previous birth mother being angry with the way the child is being brought up. As such, many mothers, for example, are encouraged not to be seen to be either too affectionate or too aggressive towards the child in case it creates jealousy or anger in the previous birth mother. If a child smiles before 3 months old it can be interpreted as a signal that it can see its preceding mother. Where she is jealous or angry she might again try to 'take the child back'.
Die Bedeutung dieses Glaubens für die Entwicklung eines Kindes sollte nicht unterschätzt werden. Was bedeutet es für ein Kind, wenn es auf die Welt kommt und die eigene Mutter voller Ängste ist, weil da noch die andere Mutter aus dem vorherigen Leben im Hintergrund steht? Ein zu liebevoller oder zu aggressiver Umgang mit dem Kind ist zu vermeiden, die vorherige Mutter könnte sonst böse oder eifersüchtig werden und der Säugling darf bloß nicht lachen! Symbolisch steht also etwas grundlegendes zwischen Mutter und Kind: eine andere Mutter. Wie kann so eine emotional gesunde Entwicklung und Wachstum glücken? Ich bin weit davon entfernt, diese Kultur verstehen zu können. Aber, diese aufgezeigte Tradition könnte neben der weit verbreiteten Gewalt ein weiterer wichtiger Hintergrund für die Entstehung des massenhaften Hasses gewesen sein, der sich in den 70er Jahren so brutal entlud.

Montag, 14. November 2011

Erich Fromms: Anatomie der menschlichen Destruktivität

Erich Fromm hat Anfang der 70er Jahre seine berühmte Schrift „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ veröffentlicht. Das Buch hatte ich schon lange im Keller und habe es kürzlich durchgesehen.

Treffend finde ich Fromms Einsicht, dass menschliche Destruktivität und Grausamkeit nicht angeboren ist, sondern durch die Umwelt hervorgerufen wird. Das Herz seiner Analyse sind erstens seine anthropologischen Studien, zweitens seine Kategorisierungen von destruktiven Verhaltensweisen und vor allem drittens seine Studien zu Adolf Hitler, Stalin und Himmler. Kritisch betrachten möchte ich vor allem den dritten Part.

Sadismus wird nach Fromm (bzgl. der Ursachen bezogen auf die soziale Umwelt) nur verschwinden, „wenn die ausbeuterische Herrschaft einer Klasse, des einen Geschlechts oder einer Minderheitengruppe beseitigt ist.“ (Fromm, 1986, S. 335) Dazu kommen: „Individuelle Faktoren, die dem Sadismus Vorschub leisten, sind all jene Bedingungen, die dem Kind oder dem Erwachsenen ein Gefühl der Leere und Ohnmacht geben (ein nicht sadistisches Kind kann zu einem sadistischen Jugendlichen oder Erwachsenen werden, wenn neue Umstände eintreten). Zu jenen Bedingungen gehören solche, die Angst hervorrufen, wie zum Beispiel „diktatorische“ Bestrafung. Hiermit meine ich eine Art der Bestrafung, deren Intensität nicht streng begrenzt ist, die nicht in einem angemessenen Verhältnis zu einem speziellen Verhalten steht, sondern willkürlich vom Sadismus des Bestrafenden genährt und von einem angsterregenden Intensität ist. Je nach Temperament des Kindes kann die Angst vor Strafe zu einem beherrschenden Motiv in seinem Leben werden, sein Integritätsgefühl kann langsam zusammenbrechen, seine Selbstachtung kann abnehmen, und es kann sich so oft verraten fühlen, dass es sein Identitätsgefühl verliert und nicht mehr „es selbst“ ist. Die andere Bedingung, die zu einem Gefühl vitaler Machtlosigkeit führt, ist eine Situation psychischer Verarmung. Wenn keine Stimulation vorhanden ist, nichts, was die Fähigkeit des Kindes weckt, wenn es in einer Atmosphäre der Stumpfheit und Freudlosigkeit lebt, dann erfriert ein Kind innerlich. Es gibt dann nichts, worin es einen Eindruck hinterlassen könnte, niemand, der ihm antwortet oder ihm auch nur zuhört, und es wird von einem Gefühl der Ohnmacht erfasst. Ein solches Gefühl der Machtlosigkeit muss nicht unbedingt zur Bildung eines sadistischen Charakters führen; ob es dazu kommt oder nicht, hängst von vielen anderen Faktoren ab. Es ist jedoch eine der Hauptursachen, die zur Entwicklung des Sadismus sowohl auf individueller als auch auf sozialer Ebene beitragen.“ (ebd., S. 336f)

Dies ist die zentralste und deutlichste Textstelle in seinem Werk bzgl. des Einflusses von Kindheit. Danach muss man schon mehr mit der Lupe nach annähernd ähnlichen Textstellen suchen, obwohl Gewalt gegen Kinder und deren Vernachlässigung – wie er oben selbst sagte – die Hauptursache für die Entstehung von Sadismus darstellt. Das verwundert doch sehr. Bzgl. Stalin geht er dann gar nicht auf dessen Kindheit ein, sondern beschreibt rein dessen Sadismus und das „Wesen des Sadismus“. Bei Heinrich Himmler geht er schon mehr in diese Richtung und beschreibt kurz dessen schwachen, autoritären Vater und mehr noch die ihren Sohn in emotionaler Abhängigkeit haltende Mutter, ihre „primitive Liebe“ zu ihm und ihr Handeln, das sein Wachstum blockierte. Am erstaunlichsten ist seine Studie über Adolf Hitler, die auch die ausführlichste von allen dreien ist. Fromm schreibt:

Der Charakter der Eltern und nicht dieses oder jenes einzelne Erlebnis übt den stärksten Einfluss auf ein Kind aus. Für jemand, der an die stark vereinfachende Formel glaubt, dass die schlechte Entwicklung eines Kindes etwas der „Schlechtigkeit“ seiner Eltern proportional ist, bietet die Untersuchung des Charakters von Hitlers Eltern eine Überraschung, denn – soweit aus den uns bekannten Daten zu ersehen ist – waren sowohl sein Vater als auch seine Mutter stabile, wohlmeinende und nicht destruktive Leute. Hitler Mutter Klara scheint eine gut angepasste, sympathische Frau gewesen zu sein. (…) Man hat Alois Hitler gelegentlich als einen brutalen Tyrannen beschrieben – vermutlich deshalb, weil dies eine einfache Erklärung für den Charakter seines Sohnes wäre. Er war aber kein Tyrann, sondern nur ein autoritärer Mensch, der an Pflicht und Verantwortungsgefühl glaubte und der Ansicht war, dass es seine Aufgabe war, das Leben seines Sohnes zu bestimmen, bis dieser mündig war. Soweit bekannt, hat er ihn nie geschlagen. (…) Wie ist es zu erklären, dass diese beiden wohlmeinenden, stabilen, normalen und nicht destruktiven Menschen das spätere „Ungeheuer“ Adolf Hitler zur Welt brachten?“ (ebd., S. 417ff)
Danach beschreibt Erich Fromm auf mehreren Seiten ausführlich Hitlers Lebensweg, den er in seiner Gesamtheit und auch in Anbetracht der Einflüsse durch seine Umwelt für besonders wichtig hält. Entgegen seinen anfänglichen Ausführungen, ließt sich aus seinen weiteren, einleitenden Beschreibungen über Hitlers Beziehung zu seiner Mutter eine tiefe Störungen heraus. Zusammenfassend schreibt Fromm: Man kann sagen, „dass Hitlers Mutter für ihn nie zu einer Person geworden ist, zu der er eine liebevolle oder zärtliche Zuneigung empfand. Sie war für ihn Symbol der beschützenden und zu bewundernden Göttin, aber auch die Göttin des Todes und des Chaos.“ (ebd., S. 425)
Ich finde viele Gedankengänge und (auch andere) Arbeiten von Erich Fromm wichtig. Seine Arbeit über die „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ führt allerding weitläufig in die Leere. Obwohl er selbst Hinweise auf den tyrannischen Charakter von Hitlers Vater wahrgenommen hat und eine gestörte Mutterbeziehung beschreibt, sind beide Eltern für ihn „stabile, wohlmeinende und nicht destruktive Leute“. Er schließt insofern einen großen Einfluss durch Gewalt und Destruktivität seitens dieser Eltern auf das Kind Adolf Hitler aus. Seine weitere Analyse muss insofern scheitern, vor allem wird dies auch deutlich, wenn wir uns die heutige Datenlage bzgl. der familiären Gewalt in der Familie Hitler ansehen. (diesen kritischen Textteil habe ich mit in den Grundlagentext über Hitler aufgenommen)

Entsprechend der Zwiespältigkeit seiner Analyse (Motto: „Destruktive Kindheit ist enorm wichtig, aber reden wir bloß nicht zu viel darüber“) lässt er auch in seinem Epilog mit dem Titel „Über die Zwiespältigkeit der Hoffnung“ die Kindheit komplett außen vor. Wachsende Produktivität, Arbeitsteilung, Bildung von Überschuss, Errichtung von Staaten, Eliten und Hierarchie, sprich die moderne Zivilisation wird von ihm scharf kritisiert und als die Wurzel menschlicher Destruktivität dargestellt (passend dazu auch sein Werk „Haben oder Sein"). Gegenwärtige sozioökonomische Bedingungen seinen zu hinterfragen und zu ersetzen. Neue Werte müssten her und unser persönliches Verhalten müsste sich ändern. Kein Wort davon, Kinder vor Gewalt und Vernachlässigung zu schützen, diese zusätzlich durch Kita und Schule anzuregen und zu fördern.

Man muss sicher auch sehen, dass Anfang der 70er Jahre Gewalt gegen Kinder noch nicht all zu sehr Thema war und viele Studien fehlten. Erich Fromm war aber ein weitsichtiger Mensch, trotzdem blendete er – entgegen seiner beiläufig erwähnten Erkenntnisse – das Thema Kindheit weitläufig aus. Das ist etwas, was mir immer wieder begegnet, auch durch Psychologen. Alles in allem wird die Lektüre von Fromms Werk keine großen Erkenntnisse bringen. Einfach auf Grund dieser gewissen Blindheit bzgl. dem Leid der Kinder und dem Focus auf die "böse" moderne Zivilisation und die gute und nicht destruktive Gesellschaftsform, die er bei manchen primitiven Stämmen meinte erkannt zu haben.

Quelle: Fromm, E. 1986: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek. (Erstveröffentlichung 1973)

Donnerstag, 10. November 2011

Kindheit und Terror in Ruanda

Über Ruanda Informationen zur dortigen Kindererziehungspraxis und der Verbreitung von Kindesmisshandlung zu bekommen, ist schwer. Jetzt habe ich ein interessantes Interview mit Simon Gasibirege gefunden. Simon Gasibirege ist laut taz der bekannteste Psychologe Ruandas. Bis 1995 lebte er mehrere Jahrzehnte im Exil. Heute ist er Psychologieprofessor an der Nationaluniversität von Ruanda in Butare, wo er das "Centre for Mental Health" leitet. Zudem arbeitet er mit Opfern und Tätern des Völkermordes vor allem im Hinblick auf Gacaca-Prozesse.

Er sagt: „Was mir immer stärker auffällt sind Formen häuslicher Gewalt, sexualisierter Gewalt, generell der Gewalt untereinander. Die Menschen sind erfüllt von einer großen Wut, einer großen Frustration, und sie bringen diese Gewalt unkoordiniert, impulsiv nach außen. Ich forsche seit 2006 zu häuslicher Gewalt, und wir beobachten häufig, sowohl bei den Überlebenden des Genozids als auch bei den Tätern, überall im Land, dass es in den Familien zu Gewalt kommt, die sich auf unterschiedliche Weisen ausdrückt. Es gibt den Fakt, dass Menschen geschlagen, zusammengeschlagen, sogar getötet werden. Aber es gibt auch andere Formen häuslicher Gewalt, die weniger sichtbar sind, und zwar die Flucht vor der Verantwortungsübernahme durch die Männer. Eine Form besteht darin, dass die Männer sich die wenigen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel aneignen und sie für Alkohol ausgeben. Das hat dramatische Konsequenzen und führt zur Verarmung der Familie. Die Kinder können nicht studieren, die Frau arbeitet alleine.“

Gefragt nach einem Zusammenhang zwischen dieser Entwicklung von häuslicher Gewalt und dem früheren Genozid bejaht er dies. Ich selbst habe im Grundlagentext dargestellt, dass Kriege sich auch auf das Private, auf den Umgang mit Kindern auswirken können. Insofern stimme ich dieser Sichtweise von Gasibirege grundsätzlich zu. ABER: Er sagt auch, dass er selbst erst seit 2006 zum Thema häusliche Gewalt in Ruanda forscht. Doch was war vorher? Wie sah es in den Familien VOR dem Völkermord aus? Ich bin mir sicher, dass das hohe, von ihm wahrgenommene Ausmaß an Gewalt in den Familien nicht erst nach dem Völkermord aufgetreten ist. Schon vorher muss die familiäre Atmosphäre in den meisten Familien in Ruanda von alltäglicher Gewalt und Terror geprägt gewesen sein. Der Völkermord war derart bestialisch, umfassend und brutal, dass dies einfach sehr wahrscheinlich ist. Denn letztlich „erzählen“ Gewalttaten immer auch etwas von dem Ausmaß an inneren Terror, an Leere und eigenem emotionalen Tod.
Vielfach gingen den Tötungsakten während des Völkermordes andere Formen der Gewalt voraus, wie Plünderungen, sexuelle Demütigungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen oder Folterpraktiken (siehe wikipedia) „Teilweise wurden Opfer aufgefordert, ihre eigenen Ehepartner oder Kinder umzubringen. Kinder wurden vor den Augen ihrer Eltern erschlagen. Blutsverwandte wurden von Tätern zum Inzest untereinander gezwungen.“ Die Täter wollten ihre Opfer leiden sehen und insbesondere die letztgenannten Taten sprechen eine eindeutige Sprache bzgl. möglicher Zusammenhänge zu eigenen schweren (auch sexuellen) Gewalterfahrungen in der Kindheit.

Alice Miller hat in ihrem Buch „Evas Erwachsen. Über die Auflösung von emotionaler Blindheit.“ (2001) ab Seite 68 etwas über Ruanda geschrieben:
Ich habe mich öfters gefragt, wie es eigentlich in Ruanda zu einem so schrecklichen Massaker kommen konnte. Dort werden nämlich Kinder sehr lange von ihren Müttern auf dem Rücken getragen und gestillt, was uns eher den Eindruck einer paradiesischen Geborgenheit vermittelt und keine Misshandlungen vermuten lässt. Erst vor kurzem erfuhr ich, dass auch Kinder für ihre Liebe ihrer Mütter einen hohen, bisher offenbar bagatellisierten Preis zahlen müssen, indem sie sehr früh zum Gehorsam gedrillt werden. Sie erhalten von Anfang an „Klapse“, wenn sie den Rücken ihrer Mütter mit ihren Ausscheidungen beschmutzen. So weinen sie schon aus Angst vor den „Klapsen“, wenn sie nur das Bedürfnis nach Entleerung verspüren, was der Mutter ermöglicht, rasch zu reagieren und das Kind vom Rücken abzunehmen, um ihm Reinlichkeit beizubringen. Dank dieser Konditionierung durch „Klapse“ werden Säuglinge sehr früh sauber und später auch „zur Ruhe“ erzogen. Mir scheint, dass die Massaker in Ruanda auf diese Misshandlungen der Säuglinge zurückgeführt werden können.“ Danach hängt Miller noch einen Bericht aus Kamerun an, der davon zeugt, dass fast alle Kinder in diesem Land in Schule und Elternhaus geschlagen werden.

Ich denke, Alice Miller hat hier einen wichtigen Hinweis gebracht. Miller hat sich hier trotzdem unglücklich ausgedrückt. Züchtigungen gegen Säuglinge haben schwere Auswirkungen, das ist unbestritten. Trotzdem glaube ich nicht, dass alleine diese „Reinlichkeitserziehung“ und Züchtigungen den Ausschlag für diesen Völkermord gab. Es bedarf langfristiger, häufiger (vor allem auch schwerer) Gewalt gegen Kinder, um einen solchen Massenmord in der Tiefe möglich zu machen, um umfassende Rachegefühle, tiefen Menschenhass und das „handwerkliche“, freudige Zerstückeln von Menschen zu ermöglichen. Der angehängte kurze Bericht in Millers Buch über die weite Verbreitung von Gewalt in Kamerun sollte wohl einen weiteren Hinweis darauf geben. Letztlich wäre es wünschenswert, zukünftig eine umfassende Studie zur Kindererziehungspraxis vor dem Völkermord in Ruanda durchzuführen. Vielleicht wird diese irgendwann kommen und mehr Klarheit bringen.

Montag, 7. November 2011

RAF-Terror und Kindheit

Am 29.10.11 kam auf NDR Info der Beitrag „Zwischen "Wir hier" und "Ihr dort" - wie sahen sich die RAF-Aktivisten und Mitglieder der Revolutionären Zellen selbst? Studie des Instituts für Kulturanthropologie der Universität Göttingen“ Autor: Michael Kurth.

Inge Viett (ehemaliges RAF Mitglied) wurde in dem Beitrag aus ihrer Autobiographie „Nie war ich furchtloser“ wie folgt zitiert: „Nie in meinem Leben war ich sicherer und furchtloser als in dieser Zeit im Untergrund. Dem Ort, der ein neues anderes Sein außerhalb der hässlichen Welt gestattete. Nie war ich freier, nie war ich gebundener an meine eigene Verantwortung als in dem Zustand völliger Abnabelung von der staatlichen Autorität und von gesellschaftlichen Vorgabe. Kein Gesetz, keine äußere Gewalt bestimmte mehr mein Verhältnis zur Welt, zu meinen Mitmenschen, zum Leben, zum Tod.
So empfand sie die erste Zeit in der Gruppe. Im NDR Info Bericht wird nachfolgend über die Realität innerhalb der Gruppe berichtet. Dort herrschte massiver Gruppendruck, jede Kritik wurde als Verrat empfunden und sanktioniert, niemandem konnte man sich anvertrauen und starke Spannungen bauten sich immer mehr auf. Inge Viett wird dann erneut zitiert, wie sie sich an diesen Abschnitt in der RAF erinnert: „Es waren die miesesten und unfähigsten Jahre in meinem Guerilladasein. Zurückgefallen in totale Unfreiheit, Entscheidungslosigkeit, unwürdigen Anpassungsdrang, Will- und Orientierungslosigkeit, in Krankheit, Vereinsamung und Lebensunlust. Zurückgefallen in die Kindheit. Wie hatte das geschehen können?

Diese beiden Zitate bringen das gequälte Kind und die emotionalen Beweggründe der Terroristin zum Vorschein. Inge Viett spricht emotional sehr berührt und glücklich von „einem Zustand völliger Abnabelung von der staatlichen Autorität“ durch ihren Gang in den Untergrund. „Nie war ich furchtloser“ heißt auch ihre Autobiographie, was zeigt, wie wichtig ihr dieser Zustand, dieses Gefühl von Freiheit und Furchtlosigkeit war. Das Wort „Abnabelung“ macht überdeutlich die Verbindung zu ihrer Kindheit klar. Doch was sie später in der Gruppe fand, war erneut ein Zurückgefallensein in die Kindheit, in Abhängigkeit, Willenlosigkeit und Unterdrückung. Das, was sie nie wieder wollte, vor dem sie floh, es hatte sie wieder eingeholt.

Gewalttäter sprechen oftmals verdeckt über das, was ihnen als Kind angetan wurde. Man muss nur hinsehen, sich ihre Worte genau anschauen. Dann erfährt man, worum es eigentlich geht.

Ich ändere auch einfach mal einige Wörter in ihrem Zitat wie folgt: „Nie war ich freier, nie war ich gebundener an meine eigene Verantwortung als in dem Zustand völliger Abnabelung von der elterlichen und vormundschaftlichen Autorität und von erzieherischen Vorgaben. Kein Gesetz, keine familiäre Gewalt bestimmte mehr mein Verhältnis zur Welt.“

Wie ihre Kindheit aussah, beschreibt sie letztlich selbst: Totale Unfreiheit, Entscheidungslosigkeit, unwürdigen Anpassungsdrang, Will- und Orientierungslosigkeit, in Krankheit, Vereinsamung und Lebensunlust.

Über Inge Viett habe ich bisher nicht viel gelesen. Auf wikipedia erfährt man über ihre Kindheit, dass das Jugendamt ihrer Mutter das Sorgerecht entzogen hatte und sie dann in einem Kinderheim, später in einer Pflegefamilie unterkam, aus der sie allerdings nach neun Jahren floh. Das sagt doch schon alles, oder?

Nachtrag vom 17.09.2019: Ich habe die Kindheit von Inge Viett ausführlich in meinem Buch besprochen. Wenn ich heute meinen Beitrag hier aus dem Jahr 2011 lese, dann war ich damals genau auf der richtigen Spur. Vietts Kindheit war unfassbar traumatisch! Ich habe selten über Kindheitserfahrungen gelesen, die so massiv und komplex traumatisch waren. 

Samstag, 5. November 2011

Gewalt gegen Kinder in Kenia, Uganda und Äthiopien

Ich bin auf eine weitere umfassende und erschreckende Studie über das Ausmaß an Gewalt in afrikanischen Ländern gestoßen: The African Child Policy Forum, 2006: Violence Against Girls in Africa: A Retrospective Survey in Ethiopia, Kenya and Uganda. Ethiopia. (Hauptautorin: Joanna Stavropoulos)

In dieser Studie wurden jeweils 500 junge Frauen im Alter von 18 bis 24, die aus unterschiedlichen sozialen Milieus stammen, in den Hauptstädten von Äthiopien, Kenia und Uganda zu Gewalterfahrungen vor dem 18. Lebensjahr befragt.

Die wesentlichen Ergebnisse:

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Körperliche Gewalt

Mindestens eine Form von körperliche Gewalt (definiert als Schläge mit einem Gegenstand, Prügel, Tritte, Würgen/Verbrennungen, sehr harte Arbeit, Heißes oder bitteres Essen in den Mund der Mädchen einflößen, Einsperren, Essensgabe verweigern) erlebten in

Kenia: 99 %
Uganda: 94,2 % (Zusatzinfo: 59 % der Frauen, die Schläge erlebten, hielten diese für gerechtfertigt)
Äthiopien : 84 % (wobei dieses Land von den drei untersuchten die höchste Rate an Gewalt gegen Mädchen unter fünf Jahren aufweist!)

Unterteilung einiger Formen von Gewalt:

Schläge mit einem Gegenstand erlebten in

Kenia: 81 %
Uganda: 86 %
Äthiopien: 71 %

Davon zwischen 35 bis 42 % der Befragten öfter als 10 mal (der höchste mögliche Wert)


Prügel erlebten in

Kenia: 60 %
Uganda: 55 %
Äthiopien : 60 %

Davon in Äthiopien und Kenia über 30 % und in Uganda um die 15 % öfter als 10 mal (der höchste mögliche Wert)


Tritte erlebten in

Kenia: 40 %
Uganda: 27 %
Äthiopien : 43 %

Davon in Äthiopien und Uganda um die 10 % und in Kenia um die 18 % öfter als 10 mal (der höchste mögliche Wert)


Würgen/Verbrennungen erlebten in

Kenia: 21 %
Uganda: 20 %
Äthiopien : 12 %


Einsperren erlebten in

Kenia: 14 %
Uganda: 18 %
Äthiopien: 10 %

Die Gewalt fand in allen drei Ländern am häufigsten im Alter zwischen 10 und 13 statt. Unter 5 Jahren wurde am wenigsten Gewalt berichtet, dazu muss angemerkt werden, dass gerade in dieser Altersspanne sehr viel vergessen wird. Die TäterInnen waren meist Familienangehörige und Lehrer. In Äthiopien und Kenia führen fast durchgängig die Mütter die Rangliste an, während in Uganda vor allem Stiefmütter als Täterinnen am häufigsten genannte wurden. Die schwersten Formen der Gewalt bezogen auf die Folgen erlebten die Mädchen in Uganda. Je nach den ersten beiden o.g. Gewaltformen mussten 60 bis 70 % auf Grund von Prügel/Schlägen einen Arzt aufsuchen. In Äthiopien und Kenia dagegen ca. 15 bis 20 %. Über die Hälfte der äthiopischen Mädchen, die Schläge oder Tritte erlebten, berichten zudem in Folge dieser Gewalt von Prellungen/Blutergüsse, Schrammen, Blutungen, gebrochenen Knochen oder ausgeschlagenen Zähnen. Über 32% berichten von denselben Folgen auf Grund von Schlägen durch einen Gegenstand. Insofern muss man hier fragen, ob den Mädchen vielleicht kein Arzt zur Verfügung stand, weil nur 15 % wie oben angegeben einen aufsuchten.

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Sexuelle Gewalt

Mindestens eine Form sexueller Gewalt erlebten in

Kenia: 85,2 %
Uganda: 95 %
Äthiopien: 68,5 %

(Ca, 40 – 50 % der Befragten erlebten sexuelle Gewalt durch Berührungen)


Vergewaltigung erlebten in

Kenia: 26,3 %
Uganda: 42 %
Äthiopien: 29,7 %

(Ja nach Land erlebten 40 bis über 70 % Vergewaltigungen unter 5 mal (die geringste mögliche Form). Alle anderen erlebten dies über fünf mal!)


Zudem wurde gefragt, ob die Befragten als Mädchen/Jugendliche für sexuelle Dienste verkauft wurden. Dies erlebten in

Kenia: 5,2 %
Uganda: 10,2 %
Äthiopien: 9,3 %

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Psychische Gewalt

Mindestens eine Form von psychischer Gewalt (Bloßstellen, Beschimpfungen, Anschreien, Drohung verlassen zu werden, Ignoriert werden, Wegnahme von Geld und Besitz, Diskriminierung auf Grund der Rasse, Ethnie oder Religion, Familienmitglied sagte, das Mädchen wäre am besten nicht geboren worden, Miterleben von Gewalt und Tötung eines Menschen, Gezwungen werden, einem anderen körperliche Gewalt zuzufügen oder eine Waffe zu benutzen, Androhung von Verletzungen und Tod) erlebten in

Kenia: 96,4 %
Uganda: 99,6 %
Äthiopien: 100 %

Unterteillung von vier ausgesuchten Formen von psychischer Gewalt


Ein bis zwei mal (niedrigste Stufe, wobei die höchste Stufe über 10 mal ist) Mitansehen müssen, wie eine bekannte Person umgebracht wird:

Kenia: 59,6 %
Uganda: 89,3%
Äthiopien: 77,3 %

Ein bis zweimal (niedrigste Stufe, wobei die höchste Stufe über 10 mal ist) Androhung von körperlichen Verletzungen oder Tod

Kenia: 60,9 %
Uganda: 61,5 %
Äthiopien: 67,2 %

Familienmitglied sagte ein bis zwei mal (niedrigste Stufe, wobei die höchste Stufe über 10 mal ist) das Mädchen wäre am besten nicht geboren worden (als Täterin am meisten genannt Mütter und Stiefmütter)

Kenia: 33,3 %
Uganda: 49,7 %
Äthiopien: 26,4 %

Ein bis zweimal (niedrigste Stufe, wobei die höchste Stufe über 10 mal ist) Androhung, verlassen zu werden (als Täterin am meisten genannt Mütter und Stiefmütter, gefolgt von Vätern und Stiefvätern)

Kenia: 44,8 %
Uganda: 29 %
Äthiopien: 28,4 %

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Insgesamt ist dies ein unglaublich erschütterndes Bild. Bzgl. der Folgen lässt sich in Anbetracht dieser Gewalterfahrungen stark vermuten, dass ein großer Teil der dortigen Frauen auf Grund ihrer Erfahrungen schwer traumatisiert sind.

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die befragten Frauen in den jeweiligen Hauptstädten leben. Studien (z.B. auch aus Äthiopien, siehe Link unten) und Erfahrungswerte zeigen allerdings, dass Kinder auf dem Land meist häufiger und schwerer von Gewalt betroffen sind, als Kinder in der Stadt. Man fragt sich in Anbetracht obiger Zahlen, ob es denn überhaupt noch schlimmer geht? Leider muss ich bzgl. der Gewalt gegen Kinder sagen: Es geht immer schlimmer, man kann sich kaum vorstellen, was Kindern alles angetan wird.

Die Grundsätzliche Besprechung der Zahlen siehe unter “Gewalt gegen Kinder in Afrika

Die Schlussworte der Studie enden mit dem Zitat einer jungen kenianischen Frau. Auch ich möchte dieses als Schlusswort nutzen:

“Thank you for conducting this research. I like to be treated like a human being not an animal.”

Mittwoch, 2. November 2011

Gewalt gegen Kinder in Tansania

Kurz nachdem ich etwas zur Gewalt gegen Kinder in Afrika geschrieben habe, bin ich auf eine aktuelle repräsentative Studie aus Tansania gestoßen. Diese ergänzt das Bild, dass ich in meinem Beitrag aufgezeigt habe.

3.739 Jungen/Männer und Mädchen/Frauen im Alter von 13 bis 24 Jahren wurden befragt. Hier die wesentlichen Ergebnisse:

- 27,9 % der Mädchen/Frauen und 13,4 % der Jungen/Männer berichteten von mindestens einer Form von sexueller Gewalt vor dem achtzehnten Lebensjahr.

- Fast 6 % der weiblichen Befragten berichteten, zum Geschlechtsverkehr gezwungen worden zu sein.

- Ca. drei Viertel (um die 75 %) aller Befragten erlebte mindestens eine Form körperlicher Gewalt. Unter körperlicher Gewalt wurden Schläge, Stoßen, mit der Faust schlagen, Tritte, zusammengeschlagen werden und Angriffe oder Drohungen mit einer Waffe wie einem Messer oder einer Pistole vor dem 18. Lebensjahr durch Verwandte, einer Autorität (wie Lehrer) oder Lebenspartner verstanden.

- Die Bedrohung mit einer Waffe wurde in der Studie zusätzlich gesondert dargestellt. 3,3 % der Mädchen/Frauen und 3,1 % der Jungen/Männer berichtet von einem solchen extremen Erlebnis.

- Die meiste Gewalt ging von Verwandten (dabei am häufigsten durch die eigenen Eltern) und Lehrern aus. Die weiblichen Befragten erfuhren häufiger Gewalt durch ihre Mütter, die männlichen durch ihre Väter.

- Der größte Teil der Befragten (78 % der weiblichen und 67,4 % der männlichen von Gewalt Betroffenen) erlebte mehr als fünf mal (der höchste mögliche Wert in der Studie) körperliche Gewalt.

- Ca. ein Viertel der Befragten hat emotionale Gewalt erfahren. Dazu gehörten Beschimpfungen, sich ungewollt fühlen oder die Drohung, verlassen zu werden.

- Die meisten der Befragten haben zudem verschiedenen Formen von Gewalt erfahren. Beispielsweise haben 84% der weiblichen Befragten, die als Kind sexuelle Gewalt erlebten, zusätzlich auch körperliche Gewalt erfahren.

- Die Studie zeigte auch, dass 60 % der weiblichen und 50 % der männlichen Befragten es für gerechtfertigt halten, wenn ein Ehemann seine Frau aus bestimmten Gründen schlägt. Dies zeigt eine hohe Akzeptanz von Gewalt und eine erschreckend hohe Identifikation mit den Tätern.

Alles in allem ist die Gewaltbetroffenheit der Kinder in Tansania sehr erschreckend, sowohl was das Ausmaß der Gewalt, als auch die Häufigkeit und Intensität angeht.


Quelle: United Republic of Tanzania, 2011: Violence Against Children in Tanzania. Findings from a National Survey 2009. Durchgeführt unter der Mithilfe von United Nations Children’s Fund, U.S. Centers for Disease Control and Prevention, Muhimbili University of Health and Allied Sciences