Freitag, 14. Februar 2020

NS-Täter. Die Kindheit von Wilhelm Keitel

Wilhelm Keitel brachte es im NS-Staat bis zum Generalfeldmarschall und Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Als letzt genannter stand nur noch Adolf Hitler in der Befehlsstruktur der Wehrmacht über ihm. Er gehörte zu den in Nürnberg angeklagten  Hauptkriegsverbrechern und wurde zum Tode verurteilt.

Über seine Kindheit hat er sehr viel in einen Memoiren berichtet:
Keitel, W. (1998): Mein Leben. Pflichterfüllung bis zum Untergang. Edition q, Berlin

Keitel wurde im Jahr 1882 geboren. „Bereits im Sommer 1888 wurde mir, damals 6jährig, zum ersten Mal bewusst, dass mein `Mütterchen` krank war. Sie sang nicht mehr! Ich wurde auch viel von ihr fern gehalten – und war doch so an ihre Zärtlichkeiten gewöhnt und als einziges Kind auch verzogen, ungeachtet der `Strenge` des Vaters“ (S. 22). Wie diese „Strenge“ des Vaters genau aussah, wird nicht beschrieben. Man kann sich in etwa vorstellen, was sich um das Jahr 1885 herum alles an autoritärem Verhalten darunter verstand.

Seine Mutter war an Tuberkulose erkrankt und sie war schwanger. Am 25.12.1888 wurde ein Junge geboren. Keitel erinnert sich, wie er am 03.02.1889 an der Hand seines Vaters zum Totenbett seiner Mutter geführt wurde (S. 22). Wilhelm war beim Tod seiner Mutter 6 Jahre alt. Die folgenden drei Jahre danach beschreibt er überhaupt nicht in seinen Memoiren. Er erwähnt nur noch, dass sich sein Vater nach dem Tod der Mutter zu einem „einsamen Sonderling“ entwickelt hätte (S. 23). Erst viel später, als älterer Jugendlicher, habe er ein engeres Verhältnis zum Vater aufbauen können (S. 33f).

Im Alter von neun Jahren wurde Wilhelm nach Göttingen in eine Schülerpension geschickt, die von einer Lehrerwitwe geleitet wurde. Er habe dort vier Spielkameraden gefunden, „vier `Leidensgefährten`, die gleichfalls ihrem Elternhaus fern sein mussten“ (S. 24). Dass er Leid in dieser Zeit erlebte, wird durch den zitierten Satz deutlich. An anderer Stelle spricht er von „Einsamkeit“ und einer „meist gedrückten Stimmung“ in dieser Zeit in der Pension (S. 27). Kein Kind geht unbeschadet durch eine jahrelange Trennung von der Familie. Nur in manchen Schulferien konnte er etwas Zeit Zuhause verbringen und dabei auch seinen Bruder erleben.

Die „Hausmutter“ in der Pension nennt Keitel übrigens stets nur abschätzig „die Alte“ (S. 24). Ein Mädchen und ein Junge aus der Pension waren ein heimliches Liebespaar. Wilhelm half oft, diese Verbindung vor der Lehrerwitwe zu verbergen, aus Angst der Beiden "vor Dresche“ (S. 24). Offensichtlich gab es also auch Prügelstrafen oder entsprechende Drohungen in dieser Pension. Später, als Wilhelm fast 12 Jahre alt war, wechselte er zumindest die Pension und war anschließend zufriedener.

Aber auch in der Schule, die Wilhelm besuchte, wurde die Prügelstrafe angewendet: „Der Schulbesuch gefiel mir gar nicht. Der Elementarlehrer Neumann, mein Klassenlehrer, hatte mich (…) innerhalb kürzester Zeit auf die vorderste Bank gesetzt, unmittelbar neben seinen Sohn Georg (…) und abwechselnd bekamen wir `Maulschellen`, weil wir nichts konnten oder nicht wussten, wovon gerade die Rede war“ (S. 24f). Als ca. 17-Jähriger zog er dann  für eine übersichtliche Zeit zu seiner Großmutter, sein Vater hatte kurz vorher erneut geheiratet. Im Alter von fast 18 Jahren meldete er sich für eine Offizierslaufbahn an und wurde zum Soldaten und Offizier ausgebildet. Der Rest ist Geschichte. „Pflichterfüllung bis zum Untergang“ lautet der Untertitel seiner Memoiren…

Mittwoch, 12. Februar 2020

NS-Täter. Die Kindheit von Ernst Kaltenbrunner


Ich habe die Kindheit von Ernst Kaltenbrunner durchgearbeitet.

Meine Quelle dafür ist:
Black, P. (1991): Ernst Kaltenbrunner: Vasall Himmlers: Eine SS-Karriere (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart). Ferdinand Schöningh, Paderborn. 

Ernst Kaltenbrunner war der letzte Chef des Reichssicherheitshauptamtes, der gefürchteten Terrorzentrale des Dritten Reichs. Der SS-Obergruppenführer aus Österreich avancierte im Zweiten Weltkrieg zu einem der mächtigsten Männer des Reichs. 1946 wurde er als Hauptkriegsverbrecher hingerichtet“ (Black 1991, Inhaltsbeschreibung)

Über die Mutter von Ernst Kaltenbrunner hat der Biograf Peter Black nur warme Worte übrig:
Der höchste Grundsatz in ihrem Leben war offenbar aufopfernde Liebe zu ihrem Gatten und ihren Söhnen. Ernst war ihr Liebling; sie widmete ihm viel Aufmerksamkeit und deckte ihn oft, wenn er mit seinem Vater zusammenstieß“ (S. 40) Hier deuten sich bereits Konflikte mit dem Vater an, die noch konkretisiert werden:
 „Im Gegensatz zu dieser engen Mutterbeziehung stand die distanzierte, weniger gefühlsbetonte Beziehung zu seinem Vater, den er als `blonden, stattlichen, immer arbeitsbelasteten Mann` in Erinnerung behielt, `der gut zu uns war, aber manchen Anlass hatte, uns auch den Hosenboden stramm zu ziehen`. Im Allgemeinen war jedoch das Verhältnis zwischen Vater und Sohn nicht schlecht“ (S. 40). Den „Hosenboden stramm gezogen bekommen“ bedeutete damals Prügel auf den Po. Die Hose wurde in der Tat stramm gezogen, damit die Schläge (oft mit Gegenständen ausgeführt) mehr Schmerzen verursachten. Die Gewalt scheint nicht selten erlitten worden zu sein. Zudem gibt der Biograf ja auch im oben angeführten Zitat zu erkennen, dass Vater und Sohn wohl recht häufig „zusammenstießen“.

Klassisch ist, dass der Biograf sogleich darauf bedacht ist, diese Gewalt klein zu reden. Er betont im Nachsatz das allgemein gute Verhältnis zum Vater. Und kurz darauf schreibt er ergänzend: „Nichts in der Familienatmosphäre oder im häuslichen Milieu Kaltenbrunners deutet also auf eine abnormale, zur Kriminalität neigende Persönlichkeit oder auf einen Außenseiter, der unfähig ist, eine sinnvolle Beziehung zu seiner Umwelt zu finden“ (S. 40). Die Kaltenbrunners waren  - dem Biografen nach - eine ganz normale, bürgerliche Familie. Ja, so war das halt damals….

Die Deutungen und Ausführungen des Biografen reihen sich in etliche Biografien ein, die ich bzgl. destruktiver Akteure (NS-Täter, Diktatoren) durchgearbeitet habe. Belastungen in der Kindheit werden teils besprochen, dann aber oftmals sofort wieder gedeckelt und umgedeutet. Aus diesem Grund habe ich in meinem Buch sogar ein gesondertes Kapitel mit dem Titel „Das große Schweigen“ verfasst. Gewalterfahrungen durch den Vater und eine distanzierte Beziehung zu ihm mögen damals mehrheitlich die Norm gewesen sein; dies bedeutet aber nicht, dass die Kinder, die dies erlebt haben, unbeschadet geblieben sind! Außerdem wird hier – trotz der Deutungen des Biografen – erneut meine Grundthese bestätigt, dass als Kind gewaltfrei aufgewachsene Menschen nicht zu Massenmördern werden.

Peter Black hat manche Aussagen aus den „Memoiren“ von Ernst Kaltenbrunner, die sich in Privatbesitz befinden und somit nicht öffentlich zugänglich sind. Es wäre die Frage, ob sich darin evtl. noch weitere Infos zum Erziehungsverhalten des Vaters, ggf. auch der Mutter finden lassen. Da Black die o.g. Gewalterfahrungen beschwichtigend kommentiert, könnte ich mir vorstellen, dass er evtl. auch andere Details ausgeblendet oder übersehen hat.

Auffällig ist auch im Fall Kaltenbrunner, dass den Opfererfahrungen und Demütigungen eine Mutter gegenüberstand, die diesen einen Sohn besondere Aufmerksamkeit zukommen ließ (mehr als den Geschwistern). Dieser Mix aus Ohnmacht und mütterlicher Bevorzugung und Bewunderung ist auffällig häufig bei Diktatoren zu finden. Oder in diesem Fall auch bei einem hochrangigen NS-Täter.

Zudem war die Mutter von Ernst Kaltenbrunner nicht unbelastet: Ihre eigene Mutter war bei der Geburt gestorben, sie wurde von einer Tante mütterlicherseits aufgezogen (S. 39). Wie und ob dies Schicksal in ihren Umgang mit ihren eigenen Kindern hineinspielte, wird nicht beschrieben.

Interessant ist nebenbei bemerkt auch, dass sich der Biograf Black bzgl. einer anderen Gegebenheit widerspricht: Nichts in der Familienatmosphäre habe auf eine abnorme Persönlichkeitsbildung hingedeutet. Allerdings beschreibt Black, dass es in der Familie Kaltenbrunner Antisemitismus gab: „So durchdrang schon vor 1914 eine antisemitische `Stimmung` das Kaltenbrunnersche Familienmilieu“ (S. 41).

Kommen wir aber noch einmal zurück zur Kindheit von Ernst. Es gab auch eine lange Trennung von der Familie, nachdem der Vater seinen Sohn aus dem Heimatort Raab nach Linz aufs Gymnasium schickte: „Am 12. September 1913 zog der Junge, noch nicht ganz zehn Jahre alt, in eine Pension, (…). Seine Erinnerungen an die folgenden Jahre waren nicht angenehm. Er hatte starkes Heimweh nach Raab; außerdem fand er seine Wirtin allzu streng und knauserig“ (S. 44). Erst nach dem Krieg nach 1918 lebte Ernst wieder bei seiner Familie, die ebenfalls nach Linz übersiedelte.
Später, in seiner Zelle in Nürnberg, erinnerte sich Ernst Kaltenbrunner mit Wehmut an seine frühe Zeit in Raab (S. 42f). Die Trennung von Familie und Heimat scheint ihn tief geprägt zu haben.
Was sich alles an Verhalten seiner „Gastmutter“ in Linz unter dem Wort „streng“ verbirgt, kann man nur erahnen. Fest steht, dass er keinen unmittelbaren Schutz durch seine Familie hatte und diese Frau offensichtlich die Aufsicht über ihn führte.

Außerdem stellt sich hier die Frage, wie liebevoll und zugewandt eine Mutter ist, die ihren neunjährigen Sohn für ca. 5 Jahre weg gibt? Sicherlich bestimmte damals der Vater abschließend über die Kinder. Vielleicht ist meine Frage also auch etwas ungerecht dieser Mutter gegenüber. Trotzdem stelle ich sie in den Raum. Denn auch Mütter konnten damals Einfluss nehmen und um ihre Kinder – auch gegen die Ehemänner – kämpfen. Ob und wie eine solche Diskussion im Hause Kaltenbrunner stattfand, erschließt sich nicht in der zitierten Biografie. Zu vermuten ist wohl eher, dass die Mutter dem Willen des Vaters entsprach. Ein guter Bildungsweg zählte damals allgemein viel, sehr viel mehr, als das emotionale Befinden eines Kindes.

Insgesamt betrachtet zeigt sich, dass Ernst Kaltenbrunner als Kind sehr belastet war. Zudem deuten sich weitere Belastungen an (Gewalt- oder Demütigungserfahrungen bei der „Hauswirtin“?) Ich sehe hier deutlich das Fundament für eine massenmöderische Karriere im NS-Staat. Ein solches Fundament führt niemals zwingend zum Terror! Aber ein Mensch, dessen Umgebung sich hin zum Terror entwickelt und der ein solches Fundament aufweist, kann u.U. mitgerissen werden.

Donnerstag, 6. Februar 2020

Zufälle, komplexe Welt und Trauma: Adolf Schicklgruber wäre nicht zu einem "Adolf Hitler" geworden.


Hitlers Vater, Alois Hitler, hatte ursprünglich einen anderen Nachnamen. Er hieß eigentlich Schicklgruber. Aus Überlegungen heraus und der Gelegenheit dafür (sein vermeintlicher Vater hieß wohl „Hüttler“) ließ sich Alois Schicklgruber einst in „Hitler“ umbenennen. Der Biograf John Toland kommentiert dies so: „Seine Entscheidung, den Namen Hitler anzunehmen, war von großer Tragweite; es ist nur schwer vorstellbar, dass 70 Millionen Deutsche in vollem Ernst `Heil Schicklgruber!` gerufen hätten“ (Toland, J. (1977): Adolf Hitler. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach. S. 22)

Diese historische Wendung, diese mehr oder weniger zufällige Namensänderung werde ich wohl für immer im Hinterkopf behalten! Es ist ja bekanntlich so, dass die Fokussierung auf Kindheitserfahrungen und entsprechende Verknüpfungen mit späterem Verhalten - erst recht, wenn dies Verhalten massenmörderisch war - oft belächelt oder kritisch gesehen wird. Denn, so wird gebetsmühlenartig argumentiert, "nicht alle einst misshandelten Kinder werden später zu einem Hitler“. Es ist doch so, dass ein Lebensweg immer durch unzählige Zufälle, Begegnungen, Ereignisse, Erlebnisse und spezifische Rahmenbedingungen geprägt wird, inkl. der eigenen, einzigartigen genetischen Aufstellung. Auch ist beispielsweise klar, dass, wäre Adolf Hitler ein Mädchen geworden, er bzw. sie – bei gleicher Erziehung und Misshandlungsgeschichte, sowie den gleichen tragischen Todesfällen (der jünger Bruder starb, Vater und Mutter verstarben früh, vor Adolfs Geburt hatte seine Mutter dazu noch 3 tote Kinder zu betrauern) in seiner Familie – niemals „die Führerin“ geworden wäre, weil damals Frauen solche Wege patriarchal-strukturell grundsätzlich verbaut waren. So ist das im Leben der Menschen.

Und ich muss Toland beipflichten: Ein „Führer“ wie Adolf Hitler wäre der Welt wohl erspart geblieben, wenn er „Adolf Schicklgruber“ geheißen hätte. Dieser winzige Zufall der Namensänderung hatte große Folgen.

All dies ändert nichts an der Tatsache, dass destruktive Kindheitserfahrungen immer Folgen haben, die sich um so deutlicher abzeichnen, je schwerer und je häufiger die Belastungen in der Kindheit waren und auch je mehr verschiedene traumatische Erfahrungen sich zu einem „Traumapaket“ kumulieren. Daraus folgt NICHT automatisch ein Weg zum Massenmörder oder Terroristen. Dazu braucht es etliche weitere Einflüsse und auch Zufälle.

Ein „Adolf Schicklgruber“ hätte wohl niemals einen NS-Staat begründet und wäre diesem vorgestanden. Etliche andere Menschen laufen (und liefen) in dieser Welt herum, die unfassbare Traumageschichten im Gepäck haben. Und niemals wird sich ein Historiker mit ihnen befassen, weil sie nicht auf die historische Bühne treten, aus welchen Bedingungen, Begrenzungen und Lebensverläufen auch immer, die es so viele gibt, wie es Menschen gibt.

Aber fest steht auch: Ein als Kind liebevoll, empathisch und gewaltfrei behandeltes Kind Adolf  Hitler wäre nicht zum Massenmörder geworden! Und deswegen ist die Analyse der Kindheit von solcher Art Tätern so ungemein wichtig und bedeutsam.

Dienstag, 4. Februar 2020

Belastende Kindheitserfahrungen von Soldaten und Soldatinnen



Ich empfehle einmal, in eine Suchmaschine Begriffspaare wie „Kindheit von Soldaten“ oder „Kindheiten von Soldaten“ oder „Kindheitserfahrungen von Soldaten“ u.ä. einzugeben. Im deutschsprachigen Raum findet man nahezu nichts zu dem Thema! Dass Soldaten übermäßig als Kinder belastet waren, scheint kaum jemanden zu interessieren. 

In meinem Buch habe ich ein eigenes Kapitel dazu verfasst: „15 Die Kindheiten von Soldaten und Soldatinnen“. In dem Kapitel habe ich mehrere Studien besprochen, in denen belastende Kindheitserfahrungen von Soldaten und Soldatinnen erfasst wurden. Die Studienlage zeigt, dass Soldaten enorm in der Kindheit belastet wurden; deutlich über dem Durchschnitt der Bevölkerung und tendenziell eher auf dem Belastungs-Niveau, das man oft auch bei Befragungen von Gewaltstraftätern findet.

Ich habe kürzlich eine weitere, aktuelle Studie gefunden, die meine o.g. Ergebnisse bestätigt:
Scoglio, A. A. J., Shirk, S. D., Mazure, C., Park, C. L., Molnar, B. E., Hoff, R. A. & Kraus, S. W. (2019): It all adds up: Addressing the roles of cumulative traumatic experiences on military veterans. In: Child Abuse & Neglect, Volume 98. Epub 2019.

Für diese Studie wurden 850 Veteranen (498 Männer und 352 Frauen) der US-Army befragt. Die Veteranen waren in einem Zeitraum nach den Terroranschlägen vom „11. September“ im Einsatz, u.a. im Irak und in Afghanistan. Zum Zeitpunkt der Befragung waren sie nicht mehr Angehörige des Militärs. Das Durchschnittsalter der Befragten lag bei 42 Jahren.

Ergebnisse:
  • 73 % aller Befragten wurden als Kind körperlich misshandelt (von denen, die von Misshandlungen berichteten, waren 61,7 % männlich). Körperliche Gewalt unterhalb von dem Level von Misshandlung (Definition in der Studie von "Misshandlung": Schläge in der Familie vor dem 18. Lebensjahr, die Prellungen oder Spuren hinterließen; Körperstrafen, die als grausam empfunden wurden und/oder Körperstrafen, die mit Gürteln, einem Holzbrett oder einem anderen, harten Gegenstand durchgeführt wurden) wurde nicht abgefragt und ist gedanklich hinzuzurechnen. 
  • 22,8 % der Befragten wurden als Kind sexuell missbraucht (von denen, die von Formen von sexuellen Missbrauch berichteten, waren 70,5 % weiblich)
Ich halte es nach meinen Recherchen für keinen Zufall, dass das Militär vor allem Menschen anzieht, die als Kind viel Leid erlebt haben.

Freitag, 31. Januar 2020

Holocaust. "Wann sprechen wir endlich über die Täter?": Offener Brief an Filipp Piatov

Dieser Offene Brief bezieht sich auf den Kommentar von Filipp Piatov in BILD-Online vom 28.01.2020 ( "Wann sprechen wir endlich über die Täter?")

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Lieber Herr Piatov,

mit großem Interesse habe ich Ihren Artikel „Wann sprechen wir endlich über die Täter?“ gelesen.
In vielem sprechen Sie mir aus dem Herzen. Letztlich ist es aber auch so, dass sich Teile der Wissenschaft sehr wohl und ausführlich mit den NS-Tätern befassen und befassten. Nur im öffentlichen Raum und Bewusstsein kommt der Blick auf die Täter viel zu selten vor und darum ging es Ihnen wohl auch.
Nun kommt mein Anliegen bzw. meine Anregung an Sie: Ich teile wie gesagt in fett gedruckten Buchstaben Ihren Satz. „Wann sprechen wir endlich über die Täter?“. Ich persönlich bin darüber hinaus noch einen Schritt weiter. Meine Fragen lauten: „Wann sprechen wir endlich über die wesentlichen Gemeinsamkeiten der Täter? Wann sprechen wir endlich über die Kindheiten der Täter?

Und ja, dies ist ein Bereich, bei dem sich i.d.R. auch die Wissenschaft blind stellt, was erstaunt. Denn mittlerweile kann man viel zu den Kindheitshintergründen der NS-Täter finden.

Ich selbst habe 2019 ein Buch dazu veröffentlicht: „Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen“

Darin habe ich die Kindheiten von Adolf Hitler, Rudolf Heß, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Martin Bormann, Albert Speer, Julius Streicher, Karl Dönitz, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Josef Mengele, Adolf Eichmann, Alfred Filbert, Amon Göth und Reinhard Heydrich analysiert. Die Kindheits-Erfahrungen dieser Akteure reichten von Misshandlungen über Demütigungen, autoritäre Erziehung, emotionaler Kälte, Vernachlässigung, Zwängen, Gehorsamsforderungen, Miterleben von Gewalt, Außenseiterstatus, Ehekrisen der Eltern, Suchtverhalten von Elternteilen, Nahtoderfahrungen bis zu Trennung von der Familie und/oder bis zum Tod von Geschwistern und Elternteilen. Dominierend in der Kindheit der NS-Täter war eine strenge und autoritäre Erziehung. Ich habe ergänzend bisher weitere Kindheiten analysiert, z.B. von Alfred Jodl und Robert Ley. Auch dort wurde ich fündig und fand deutliche Belastungen in der Kindheit. Derzeit arbeite ich weitere Biografien von NS-Tätern durch.

Ergänzend dazu habe ich in meinem Buch das Ausmaß von körperlicher Gewalt gegen Kinder und auch von so etwas wie „elterlicher Zuwendung“ in Deutschland erfasst. Je mehr wir uns den Geburtsjahrgängen um die ca. 1930 annähern, desto mehr Gewalt und desto weniger Zuwendung erlebten nachweisbar die Kinder. Der Psychohistoriker Lloyd deMause hat zwei eindrucksvolle Texte geschrieben, die ich Ihnen – neben meinem Buch – sehr empfehle: „The Childhood Origins of World War II and the Holocaust“ und The Childhood Origins of the Holocaust. Er macht klar, dass die Mehrheits-Kindheit im Deutschen Reich um 1900 ein reiner Alptraum war.

In meinem Buch schließe ich mich seinem Schluss an, dass diese alptraumhaften Kindheiten das Fundament für die NS-Zeit und auch den Holocaust bildeten. Umgekehrt ist es so, dass weit verbreitete alptraumhafte Kindheiten nicht zwangsläufig in einer Gesellschaft zu Auswüchsen führen, die wir ab 1933 sahen. Dazu ist die Welt zu komplex, dazu sind die Einflüsse und Rahmenbedingungen zu unterschiedlich, zu umfassend und auch zu verzahnt. Aber: Die destruktiven Kindheiten bildeten das Fundament! (Nebenbei bemerkt sehen wir dies auch heute noch in Ländern wie z.B. Syrien, Afghanistan, im Irak oder sogar auch in den USA, in diesen Ländern finden wir ein enorm hohes Ausmaß von Gewalt gegen Kinder und weiteren Belastungen von Kindern.)

In meinem Buch habe ich ein persönliches Nachwort geschrieben. Daraus möchte ich hier zitieren:

Mir selbst haben meine jahrelangen Recherchen und jetzt auch mein Text irgendwie Ruhe und auch Frieden gebracht. Mein Großvater väterlicherseits war ein überzeugter Nazi und bei der SS. Meine anderen Großeltern hielten einfach ihren Mund während der NS-Diktatur. Diese familiäre Geschichte und die NS-Zeit in meinem Heimatland an sich haben mich schon früh sehr aufgewühlt. Die Frage nach dem Warum tauchte auf, aber auch die Frage, ob so etwas hierzulande wieder passieren könnte. Ich selbst habe nach meinen Recherchen für mich Antworten gefunden. Ich kann heute aus meiner Sicht sagen, dass sich die NS-Zeit in dieser Form niemals hierzulande wiederholen könnte, egal wie die Rahmenbedingungen sich entwickeln. Mit der neueren Generation in Deutschland (die im Buch oben ausführlich beschrieben wurde), die weitgehend gewaltfrei, nicht-autoritär und umsorgt aufwachen durfte, wird es weder einen großen Krieg, noch einen Genozid geben. Dies wäre, davon bin ich überzeugt, unmöglich. Diese neue Generation wird ganz selbstverständlich auch später ihre eigenen Kinder ähnlich umsorgt und gewaltfrei erziehen und wahrscheinlich sogar noch weitere Verbesserungen erreichen.“

Steinmeier sagte wörtlich in seiner Rede in der Gedenkstätte Yad Vashem: „Weil ich dankbar bin für das Wunder der Versöhnung, stehe ich vor Ihnen und wünschte, sagen zu können: Unser Erinnern hat uns gegen das Böse immun gemacht. Ja, wir Deutsche erinnern uns. Aber manchmal scheint es mir, als verstünden wir die Vergangenheit besser als die Gegenwart. Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr antisemitisches, ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Antwort für die Zukunft, als neue Lösung für die Probleme unserer Zeit. Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt. Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten.“

Natürlich haben wir weiterhin Probleme (Rechtsextremismus, AfD, Antisemitismus usw.) in Teilen unserer Gesellschaft und die werden kurzfristig auch nicht verschwinden. Es war richtig, dass Steinmeier dies angesprochen hat. Was er übersehen und wohl auch gar nicht wirklich darüber nachgedacht hat ist, dass die emotionale Lage der heutigen Nation in Deutschland eine ganz andere ist. Viele Menschen in Deutschland sind heute nicht mehr derart „emotional bewaffnet“ wie Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Kindheiten wurden und werden immer friedlicher in unserem Land. Weitere traumatische Erfahrungen nahmen ergänzend gravierend ab (z.B. sterben Eltern und Geschwister nicht mehr so oft, wie dies um 1900 noch der Fall war; Gewalt durch Lehrer wurde verboten usw.). Und: Seit den 1980er Jahren wurde das psychotherapeutische Angebot in Deutschland stetig und massiv ausgeweitet. Wem es schlecht geht, wer Schlimmes erlebte, wer in Gefahr ist, sich selbst oder Anderen etwas anzutun, der kann auf Hilfen zurückgreifen.

All dies ist ein Modell auch für den Rest der Welt, für Frieden in der Welt. In Deutschland wird es nie wieder so etwas wie Ausschwitz geben, weil die Menschen emotional und psychisch viel weiterentwickelt sind. Und an dieser Entwicklung ist ganz wesentlich die stetige Verbesserung der Kindererziehungspraxis und Kinderfürsorge beteiligt. So etwas in Jerusalem auszusprechen, wäre ganz sicher zu viel gewesen. Es wäre auch einfach unpassend, ja sicher. Aber: Die Medien sollten dieses Thema aufgreifen und darüber debattieren. Darum schreibe ich Sie an. Mein Schreiben veröffentliche ich auch als „Offenen Brief“ in meinem Blog: www.kriegsursachen.blogspot.de.

Viele Grüße

Sven Fuchs

Freitag, 24. Januar 2020

Islamistische Radikalisierung: Religion, Milieu oder doch viel mehr die Kindheit?


Ich habe eine in doppelter Hinsicht interessante Studie zum Thema islamistischer Radikalisierung durchgearbeitet: Aslan, E.,  Akkılıç, E. E. & Hämmerle, M. (2018): Islamistische Radikalisierung: Biografische Verläufe im Kontext der religiösen Sozialisation und des radikalen Milieu (Wiener Beiträge zur Islamforschung). Springer VS, Wiesbaden. 

Ich betone „in doppelter Hinsicht“! Denn der Umgang mit den Ergebnissen und Interviews durch die Forschenden ist auf eine Art schon ein Thema für sich. Die zentrale Forschungsfrage war, wie die Rolle der Religion im Prozess der Radikalisierung ist. Die Autoren schreiben zusammenfassend:
Die vorliegende Studie hat gezeigt, dass es sich bei dieser Form der Radikalisierung um einen aktiven Prozess der Auseinandersetzung des Individuums mit bestimmten religiösen Lehren, Normen und Wertvorstellungen handelt. Dabei radikalisieren sich Individuen nicht isoliert, sondern in direkter Auseinandersetzung mit einem sozialen Umfeld, das in dieser Studie als radikales Milieu bezeichnet wird. Dieses engere soziale Umfeld stellte sich in der Studie als einer der zentralen Punkte für den Radikalisierungsprozess der interviewten Personen dar“ (S. 265).

Nun ist es so, dass ich den Einfluss des radikalen Milieus gar nicht gering reden möchte. Ebenso wenig wie die Suche dieser Akteure nach einem Sinn oder einfach nur der Ausübung einer Religion. Die Ursachenkette ist komplex.
Was mich beim Umgang der Forschenden mit ihren Ergebnisse allerdings gewundert hat ist, dass sie die Kindheitserfahrungen nicht betont und hervorgehoben haben. In anderen Studien (die BKA-Studie „Die Sicht der Anderen“ z.B. ist den Forschenden bekannt) wurde betont, dass destruktive Kindheitserfahrungen und die Suche nach Familienersatz ganz wesentlich den Weg in das radikale Milieu (der „Ersatzfamilie“) begünstigt haben. Daraus leite ich die These ab, dass als Kind weitgehend unbelastet aufgewachsene und geliebte Menschen ein solches Milieu meiden würden, wenn sie durch Zufälle oder Begegnungen darauf stoßen.

Auch das Autorenteam Aslan et al. (2018) (die o.g. Studie) hat ganz deutlich destruktive Kindheitserfahrungen erfasst. Trotzdem wurden wesentlich (ganz im Sinne der Ausgangsforschungsfrage) nur das soziale Umfeld und die Religion hervorgehoben, was erstaunt. Die Studie von Aslan et al. reiht sich letztlich in etliche Extremismusstudien (eine Übersicht hier) ein, die ich hier im Blog oder in meinem Buch bereits besprochen habe. Der rote Faden, der sich auch hier findet, sind belastende Kindheitserfahrungen.

Kommen wir also zu den Ergebnissen der o.g. Studie: 

2016 wurden von dem Forscherteam 29 Interviews durchgeführt, davon 26 in Gefängnissen in Österreich und drei in Jugendeinrichtungen. Diese Befragten standen im Zusammenhang mit der Verübung von terroristischen Straftaten (islamistischen Charakters). Zusätzlich wurden zwei Gruppeninterviews in Gefängnissen geführt. Aus den Befragungen wurden drei Fallbeispiele (Ismail, Givi und Seyidhan) herausgefiltert, die ausführlich besprochen wurden. Am Ende wurden dem noch 11 Fallbeispiele in stark verkürzter Zusammenfassung besprochen. Insgesamt hat man also biografische Einblicke bezogen auf 14 islamistische, männliche Akteure. Für die große Mehrheit der Befragten zeigten sich Belastungen in der Kindheit. Für eine deutliche Minderheit der Fälle wurden zu wenig Angaben gemacht, Belastungen sind aber auch hier somit nicht ausgeschlossen. Der Erziehungsstil der Eltern wurde i.d.R. nicht besprochen. Auch hier bleiben also Fragezeichen. Allerdings kommen die Befragten bzw. ihre Eltern aus Regionen, in denen nachweisbar die Mehrheit der Kinder Gewalt in ihren Familien erlebt. Dies sollte man im Hinterkopf behalten.
Allerdings wird in der Studie sehr deutlich, dass nicht wenige Befragte als Kind traumatisiert wurden (vor allem durch Kriegs- und Fluchterfahrungen). Ich habe die wesentlichen Infos herausgefiltert und nachfolgend dargestellt. Vielleicht wird nach der Durchsicht deutlich, warum ich mich über die Art und Weise der Verarbeitung und die fehlende Hervorhebung von Kindheitserfahrungen durch das Forscherteam wundere:


Ismail

Ismail wurde 1998 in Tschetschenien geboren. Ca. ein Jahr darauf begann der zweite Tschetschenienkrieg. Seine Erinnerungen an diese Zeit haben weitgehend mit dem Kriegsgeschehen zu tun. „Aus seinen Erzählungen geht hervor, dass er bereits früh mit Gewalt konfrontiert wurde. So habe er die meiste Zeit in einem Keller zugebracht, in dem die Familie Schutz vor den Bombenangriffen und den Übergriffen der Kriegsparteien, wie Säuberungsaktionen und Entführungen, suchte“ (S. 98).
Als er sechs Jahre alt war, floh die Familie aus dem Land und siedelte nach Österreich über. An die Flucht kann er sich kaum mehr erinnern. Am Anfang kam die Familie in einer Flüchtlingsunterkunft unter, an die Ismail wenig positive Erinnerungen hat. Als Kind habe er auch in Österreich häufig Angst vor lauten Geräuschen und vor Flugzeugen gehabt. In seiner Kindheit und frühen Jugend sei es ihm schwer gefallen, soziale Kontakte zu knüpfen. Die meiste Zeit habe er mit Computerspielen verbracht.
Die Familie lebte in prekären Verhältnissen, was sich noch zuspitzte, als der Vater an Krebs erkrankte. Nach der dritten Klasse fing der Junge Schlägereien an und kiffte. Eine delinquente Jugenclique, mit der er oft in Parks herumhängte, bekam für ihn zusehends Bedeutung. Aus einem Konflikt mit einer anderen Gruppe heraus, verübte Ismail eine schwere Körperverletzung und wurde angezeigt. Später folgte seine erste Inhaftierung auf Grund von Raubüberfällen. Nach seiner zweiten Inhaftierung bekam er im Gefängnis durch Mitgefangene Interesse für den Islam nach radikaler Auslegung. Dies wird als Wendepunkt beschrieben. Nach seiner Gefängniszeit füllte die Religion das Vakuum, das der Bruch mit seiner delinquenten Clique hinterlassen hatte. Im Umfeld seiner Mosche traf er dann auf islamistische Anwerber und er driftete zusehends ins radikale Milieu ab. Es folgte eine erneute Inhaftierung auf Grund des Verdachts der Straftat der terroristischen Vereinigung.

Givi

Givi wurde Mitte der 1990er Jahre in einem Nachbarland Tschetscheniens geboren. Die Familie war dorthin auf Grund des ersten Tschetschenienkrieges geflohen.  Nach Kriegsende kehrte die Familie wieder in ihre Heimat zurück. Givi war zu der Zeit noch ein Säugling. Als Givi 5 Jahre alt war, verließ der Vater (der vermutlich Alkoholprobleme hatte) die Familie. Givi hat ihn nie wiedergesehen und weiß auch nicht, ob sein Vater noch lebt.
Die Familie kam bei den Großeltern unter. Über seine Großeltern sagt er viel Gutes, sie hätten ihn auch immer vor seiner Mutter „beschützt“, wenn diese „geschimpft hat oder so, ein bisschen Stress gemacht hat“ (S. 139). Was genau seine Mutter tat und was sich hinter dem „Stress“ verbirgt, den er mit ihr hatte, wird nicht klar. Vom fünften bis zum sechsten Lebensjahr erlebte er dann den zweiten Tschetschenienkrieg mit: „Als Kind erlebte er die Gewalt, das Kriegsgeschehen und die Übergriffe gegen Zivilisten waren Teil seines Alltags, und er versuchte sie zu normalisieren, obwohl der Krieg in der Familie der Mutter Opfer forderte“ (S. 140).
2011 floh er mit seiner Mutter nach Österreich. In Österreich intensivierte er dann seine Beschäftigung mit dem Islam vor allem im Rahmen der tschetschenischen Gemeinde. Später bekam er dann Kontakt zur salafistischen Szene Österreichs und radikalisierte sich. Er wurde dann inhaftiert, weil man davon ausging, dass er nach Syrien ausreisen wollte, um sich dort den Terroristen. anzuschließen.

Seyidhan

Seyidhan lebte den Großteil seiner Kindheit in einer Großstadt in der Türkei. Er hatte vier Brüder und drei Schwestern. Der Vater war LKW-Fahrer und oft abwesend. Die Mutter musste sich weitgehend alleine um die 8 Kinder kümmern. An seine frühe Kindheit hat er kaum Erinnerungen. Als Seyidhan 12 Jahre alt war, schickte ihn sein Vater in eine andere Stadt in eine von der Außenwelt weitgehend abgeschottete religiöse Einrichtung (eine Art Internat), da die Kriminalität in seinem Heimat-Viertel sehr hoch war und der Vater auch eine religiöse Ausbildung für seinen Sohn wünschte. Seyidhan konnte von da an seine Familie lange Zeit nicht mehr sehen, nur im Sommer besuchte er seine Familie Zuhause. Wie der Alltag in der religiösen Einrichtung aussah, erschließt sich nicht. Erst im Alter von ca. 19 Jahren kam er zurück in die Stadt, in der seine Familie lebte. Nach seiner Heirat zog er nach Österreich, wo die Eltern seiner Frau lebten. Seyidhan hat ein sehr fundamentalistisches Religionsverständnis, das er in dem Internat vermittelt bekommen hatte und pflegte dies auch in Österreich. Die Bildung eines „Islamischen Staates“ betrachtet er als Ideal.

Amir

Fast keine Angaben über seine Kindheit, der er schlicht als "harmonisch" bezeichnet.

Imran

Fast keine Angaben über seine Kindheit, die er als normal und vom sowjetischen System geprägt beschreibt.

Islam

Erlebte beide Tschetschenienkriege mit. Als der erste Krieg begann, war er sechs Jahre alt. Mehrere Familienmitglieder wurden getötet. Sein Vater - zu dem er ein distanziertes Verhältnis hat und der weitgehend abwesend war - und auch seine Mutter seien streng und sehr traditionell gewesen. Mit 17 Jahren flüchtet er mit Verwandten nach Österreich. Im Rahmen einer Jugendclique wurde er kriminell. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet er sich in Haft, weil im vorgeworfen wurde, dass er nach Syrien zum IS ausreisen wollte.

Jamal

Er flüchtete im Alter von 3 Jahren mit seiner Familie aus Afghanistan nach Österreich. Ansonsten keine vertiefenden Infos über seine Kindheit.

Karim

Stammt aus Ägypten. Keine Infos über seine Kindheit.

Khalid

Floh im Alter von 12 Jahren mit seiner Familie nach Österreich. Sein Vater wurde im Tschetschenienkrieg getötet. Später stieß Khalid im Internet auf ein Video, in dem zu sehen ist, wie sein Vater umgebracht wird. Ab dem Zeitpunkt habe er sich verstärkt mit dem Islam befasst.

Magomed

Im Alter von 4 Jahren flüchtete er mit seiner Familie aus Tschetschenien nach Österreich. Er erinnert sich an den Krieg, u.a. daran, wie das Haus der Familie zerstört wurde. Seine Erziehung zu Hause sei „normal“ verlauf, was auch immer dies bedeuten mag. Als Kind besuchte er den islamischen Religionsunterricht. Seine Lehrer dort seien sehr streng gewesen und hätten die Kinder geschlagen, wenn diese Fehler machten. Ab der 8. Klasse wurde er kriminell. Später im Gefängnis bekam er Kontakt zu Islamisten.

Selim

Im Alter von 3 Jahren zog er mit seiner Familie aus einer armen Region in der Türkei nach Österreich. Den konservativen Eltern war eine religiöse Ausbildung wichtig. Er wurde sowohl in den islamischen Religionsunterricht als auch in Kurse der Moschee geschickt. In diesen Institutionen wurde Gewalt als Erziehungsmethode ausgeübt und Selim machte auch Gewalterfahrungen. Später bekam er Kontakt zu Salafisten. Er wurde auch inhaftiert.

Serkan

Fast keine Infos über seine Kindheit. Im Alter von 6 Jahren zog die Familie von Istanbul nach Österreich. Sein Vater bekam Probleme mit der Polizei und wurde abgeschoben. Seine Mutter blieb mit den Kindern. Von Lehrern sei Serkan diskriminiert worden und kam auf eine Sonderschule.

Rustam

Wuchs in Tschetschenien auf. Seine Erinnerungen an diese Zeit sind von den damaligen Konflikten, die sich in dem Land abspielten, geprägt. Der Vater verließ die Familie (Zeitpunkt unklar).

Yusuf

Wurde in Tschetschenien geboren. Im Krieg verlor er mehrere Verwandte, darunter zwei Brüder. Er selbst erlitt schwere Verletzungen und war fortan invalide. 2004 flüchtete die Familie nach Österreich.

                             

Donnerstag, 23. Januar 2020

Linksextremismus: Die Kindheit von Katharina de Fries


Über die Kindheit von Katharina de Fries hatte ich schon während meiner Recherchen zu meinem Buch gelesen. Sie wurde zwar von der Bundesrepublik Deutschland als RAF-Terroristin verfolgt, allerdings kam es nie zu einem Prozess, da sie nach Frankreich floh. Ich fand keine Belege dafür, dass de Fries Mitglied der RAF war. Deswegen hatte ich sie im Rahmen meiner Fallbesprechungen von RAF-Terroristen in meinem Buch auch nicht aufgenommen.

In meiner „Terror von Links“-Reihe im Jahr 2019 habe ich hier im Blog viele Kindheiten von Linksterroristen besprochen. Auch die Kindheit von Katharina de Fries möchte ich dem nun anhängen. Ich selbst würde de Fries nach meinen Recherchen als Linksextremistin bezeichnen, die u.a. an ideologisch begründeten Raubüberfällen beteiligt war.

Meine wesentliche Quelle ist das Buch: Schmid, U. (2014): Frau mit Waffe: Zwei Geschichten aus terroristischen Zeiten. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.

Ulrike Edschmid hat wochenlange Gespräche mit de Fries (und auch Astrid Proll, deren Kindheit ich in meinem Buch besprochen habe) geführt und draus eine biografische Erzählung gemacht.
So weit ich es aus dem Bericht herausfiltern konnte, war de Fries in den 1970er und 1980er Jahren stark in die militant-linke Szene Berlins eingebunden. In dem Bericht wird u.a. erwähnt, dass sie mit Georg von Rauch befreundet war (Edschmid 2014, S. 56). Oder sie spricht davon, wie „ihre Freunde von Tod und Gefängnis sprachen und sich des Risikos bewusst waren“ (S. 62). Wer diese „Freunde“ alles waren und was diese angestellt haben, lies sie offen.
Ging es an dieser Stelle um Tod oder Gefängnis (und wohl um entsprechend schwere Straftaten ihrer Freunde), so berichtet sie an anderer Stelle vorher im Buch folgendes: „Nachts schlich sie mit ihren Freunden durch die Stadt, sie hinterließ ihre Zeichen. In der einen Hand den Hammer, in der anderen den Brandsatz, auf der Schulter die Leiter, näherten sie sich den Fenstern der Herrschenden und scheiterten am Panzerglas. Es waren Zeichen eines anarchistischen Gerechtigkeitssinns, wobei Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen strikt unterschieden wurden“ (S. 48).

Schmid schreibt an einer Stelle: „Es war kein Zufall, dass die marxistisch-leninistischen Organisationen und die Rote Armee Fraktion gleichzeitig entstanden. Nicht die illegale Aktion hielt sie davon ab, sich ihr anzuschließen, sondern das Leben in der Illegalität, das die Trennung von den Kindern, von den Menschen, die sie liebte, vom Leben bedeutet hätte. Dazu war sie niemals bereit. (…) In tiefster Seele stellte sie sich den bewaffneten Kampf als eine Abenteuerexistenz vor, mit mutigen Frauen und Männern und warmherzigen Familien, die für die Kinder sorgten“ (S. 54). Sie erkannte wohl aber auch die Realitäten, die sich hinter dem Leben der Terroristen verbargen. Und auch dies scheint sie im Rückblick abgeschreckt zu haben. Ich betone hier „im Rückblick“. An den zitierten Zeilen wird auch deutlich, wie schmal der Grat war und wie leicht auch de Fries zur Terroristin im Untergrund hätte werden können.

Kommen wir nach diesem kleinen Überblick zu ihrer Kindheit:

Katharina wurde 1934 geboren und verlebte entsprechend eine Kriegskindheit. Drei Mal sei sie aus einem zerbombten Haus herausgezogen worden. Außerdem wird von dem Heulen der Bomben, den Schreien der Menschen und ihrem Zusammenbrechen berichtet (S. 63).
Aber schon vor dem Krieg begannen massive Probleme. Als Katharina drei Jahre alt war, gingen ihre Eltern fort. Ihr Vater schloss sich in Spanien den Anarchisten an, die Mutter ging zu den Kommunisten. Mit ihrer älteren Schwester wurde sie bei den Großeltern untergebracht. 1938 kamen beide Eltern zurück. Später (der genaue Zeitpunkt erschließt sich nicht) trennten sich die Eltern. Die Mutter verschwand auf Jahre aus dem Leben von Katharina. Der Vater brachte die Kinder erneut zu den Großeltern und scheint ansonsten oft abwesend gewesen zu sein (S. 13f).

Ihr Vater holte eine neue Frau an seine Seite. „Die Stiefmutter war eine harte Frau“, die die jüngere Schwester schlug, „bis das Blut aus der Nase lief“ (S. 17). 1944 wurde der Vater von der Gestapo abgeholt und kam dann in ein Strafbataillon. Später kam er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Eines Tages tauchte er plötzlich wieder Zuhause auf. Zuhause scheiterte er beruflich und musste die Kinder erneut bei den Großeltern unterbringen. Während der gesamten Zeit scheint das Verhältnis von Katharina zur Stiefmutter weiter und extrem eskaliert zu sein:
Nach dieser letzten Rückkehr zu den Großeltern beschloss sie, ihre Stiefmutter umzubringen. Sie war elf Jahre alt, und die Auseinandersetzungen waren ausweglos geworden. Auch die Großeltern hassten die Stiefmutter, alle hassten sie. Der Vater stand dazwischen. Die kleine Schwester machte das Bett naß und wurde dafür von der Stiefmutter geschlagen. Wochenlang lief sie mit Rattengift in der Tasche herum. Im Keller probierte sie es aus. Als sie eine Ratte mit offenem Mund und hochgezogener Lippe fand, schämte sie sich, dass sie das Tier umgebracht hatte“ (S. 22).
Eine Zeit danach wusste sie keinen Ausweg und wollte sich und ihre Schwester in einem Fluss umbringen, was misslang. „Der Hass auf ihre Mutter prägte ihr Verhältnis zu sich selbst. Von Kindheit an hatte sie sich nur dann lieben können, wenn sie sich aus ihrem eigenen Willen heraus bewegen konnte, losgelöst war von dem Schicksal, Frau zu sein“ (S. 24).
Zu den ganzen Umständen kam noch der Hunger dazu. Es gab nichts zu essen. Die Kinder zogen oft los, um irgendwo Nahrung aufzutun.

Zusammenfassend betrachtet ist Katharina de Fries als Kind komplex und schwer traumatisiert worden.

Dienstag, 14. Januar 2020

Jungenbeschneidung in den USA und das "Traumagesamtpaket"


Dank einer kritischen Stimme bin ich auf das Thema Jungenbeschneidung in den USA aufmerksam geworden. Thematisch habe ich das Thema bisher hin und wieder gestreift, mich aber nicht vertiefend damit befasst. Und in meinem Blog habe ich bisher auch nichts dazu geschrieben. Meine Einstellung zur - medizinisch nicht notwendigen - Jugenbeschneidung war und ist ganz klar: Sie verstößt gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ich werde auch in diesem Beitrag nicht vertiefend auf das Thema eingehen können, weil ich mich immer noch zu wenig mit der Materie befasst habe. Mir geht es hier um folgendes: Die kritische Stimme, die mich kürzlich angeschrieben hat, stellte die These auf, dass die Jungenbeschneidung auch politische Folgen haben kann. Außerdem verwies Sie auf den aktuell hohen Anteil von als Kind beschnitten Männern in den USA (und historisch auch etwas weiter zurückgeblickt in Großbritannien). Für den muslimischen und auch afrikanischen Raum und die jüdischen Lebenswelten war mir natürlich bewusst, dass die Jungen dort entsprechend belastet werden. Mein erster Reflex auf das Anschreiben war, dass ich das Ausmaß in den USA anzweifelte. Keinesfalls konnte ich glauben, dass in diesem westlichen Land die Mehrheit der Männer - ohne religiöse Begründung - als Kind beschnitten wurden.

Nun, ich wurde eines Besseren belehrt.

Zwei seriöse Medienberichte haben das Ausmaß der Jungenbeschneidung in den USA thematisiert.

Der erste von mir gefundene Artikel ( DIE ZEIT, 19.11.1998: "Mit Geduld und Stahl") wurde Ende 1998 verfasst. Darin heißt es, dass an sechs von zehn männlichen Neugeborenen (also 60%) in den USA dieser operative Eingriff durchgeführt wurde. Dies betrifft also die heutige Erwachsenengeneration in den USA ab dem 22. Lebensjahr aufwärts. Ursprünglich, so im Artikel weiter, waren christliche Prediger Ende des 19. Jahrhunderts für die Verbreitung der Praxis in den USA verantwortlich. Moralapostel des Viktorianischen Zeitalters begrüßten damals die Jungenbeschneidung als "Präventivmaßnahme gegen Masturbation"...
In dem Artikel wird ergänzend auch folgendes geschrieben: „In einer im Juli veröffentlichten Studie der Healthpartners Medical Group in Minneapolis gaben 55 Prozent von 1769 befragten Ärzten an, bei diesem Eingriff keine Schmerzmittel zu benutzen.“ Neben den Belastungen, die eine Beschneidung an sich schon für den Säugling oder das Kind bedeuten, kommt also noch in ca. der Hälfte der Fälle ein massives Trauma durch den betäubungsmittelfreien Eingriff dazu.

In einem Artikel im Tagesspiegel wurde geschrieben, dass die Weltgesundheitsorganisation für die USA von einer Beschneidungsrate von Jungen und Männern von rund 70 % ausgeht (Tagesspiegel, 28.06.2012: "Beschneidung. In den USA ist es Routine").

Ich muss gestehen, dass diese Zahlen mich wirklich erstaunt haben. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass in den USA die Mehrheit der Jungen beschnitten werden. Dazu oftmals noch ohne Betäubung.

Dieser Sachverhalt sollte gedanklich zum bekannten Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in den USA hinzuaddiert werden. Bzgl. der Analyse einer Gesellschaft geht es immer darum, das "Traumagesamtpaket" zu erfassen. Kinder können Verletzungen oft gut verarbeiten, wenn sie in einem gesunden Umfeld aufwachsen. Wenn sich Verletzungen allerdings anhäufen und zu einem "Traumapaket" kumulieren, dann wird es kritisch. Die Jungenbeschneidung in den USA muss hier ebenso in den Blick genommen werden, wie all die anderen Belastungen, die Kinder in diesem Land erleben. Nur mit Blick auf das Gesamtpaket wird ersichtlich, warum diese Nation so häufig durch politische Destruktivität und Irrationalitäten auffällt.



Montag, 6. Januar 2020

Islamistische Radikalisierung: Kindheit von Oliver N.


Oliver N. konvertierte als Jugendlicher zum Islam und hatte sich dann in relativ kurzer Zeit der Terrorgruppe „Islamischen Staat“ angeschlossen. Es existiert u.a. ein Video, in dem Oliver N. in der syrischen Stadt Rakka sagte: "Ich lade alle ein, hierherzukommen, um die Ungläubigen zu schlachten wie die Schafe“.
Später stellte er sich und kehrte zurück nach Österreich. Dort wurde er zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Über seine Erlebnisse hat er ein Buch veröffentlicht:
N., Oliver & Christ, Sebastian (2017): Meine falschen Brüder: Wie ich mich als 16-Jähriger dem Islamischen Staat anschloss. Kiepenheuer & Witsch, Köln.

Zudem gab es kürzlich eine sehr interessante Doku über ihn und sein Leben:
Panorama - die Reporter (2019, 03. Dez.): „Der IS-Rückkehrer“

In der Doku sagte er an zwei Stellen etwas, das ich hier unbedingt zitieren muss:
Als ich 16 Jahre alt war, bin ich zum Islam konvertiert, durch einen Schulfreund. Das Gefühl, das ich dann erlebt habe, das war unglaublich schön. Ich war da ein Teil einer Gemeinschaft, die so eng miteinander verbunden waren (…). Warum ich mich dem so leicht hingegeben habe? Ich war einfach verloren. Familie, das hat mir gefehlt. Und danach habe ich gesucht. Und wäre da damals eine rechtsradikale Gruppe zu mir gekommen, die mir genau das geboten hätte, dann wäre ich Nazi geworden.“
Und: „Aus meiner Ideologie, aus meiner kranken Ideologie heraus habe ich mir nur gedacht, ich töte ja nur die bösen Menschen: Die Unterdrücker, die Vergewaltiger, die Mörder (…). Du rechtfertigst es mit dem Gedanken, dass sie das Selbe mit Deiner Familie gemacht haben. Ab dem Zeitpunkt, wo ich Muslim wurde, wurde mir beigebracht, dass jeder Mann im Islam mein Bruder ist und jede Frau im Islam meine Schwester ist. Also war es ganz egal, wo die Person ist. Wenn ihr geschadet wird, dann ist das meine Familie, der geschadet wird.“

Wie sehr seine destruktive Kindheit, seine Suche nach Halt und Familie seinen Weg hin zum Terror bedingt haben, wird durch die zitierten Zeilen deutlich. Ebenfalls wird deutlich, wie zufällig und austauschbar die Gruppe und Ideologie im Grunde ist. Das verlorene Opfer von einst fand plötzlich eine „Pseudofamilie“, die ihn „pseudowärmte“, die ihm "eine Bedeutung" gab und die vorgab, angegriffen zu werden und viele Opfer zu beklagen. Seine neue „Familie“ galt es zu schützen und das ging – der kranken Ideologie folgend – nur im IS in Syrien.

Über seine Kindheit spricht Oliver N. nicht gerne. Trotzdem sind einige Eckdaten öffentlich geworden. 

Seine Eltern trennen sich, als er 5 Jahre alt ist, er bleibt zunächst bei der Mutter  (N. & Christ 2017, S. 12) „Ich kam zu meiner Mutter. Es entbrannte ein hässlicher Kleinkrieg zwischen ihr und meinem Vater. Eines Tages standen dann Angestellte des Amts bei uns auf der Matte, meiner Mutter wurde das Sorgerecht entzogen. Mein Vater beantragte das Sorgerecht, doch meine Mutter manipulierte mich so, dass ich nicht zu meinem Vater zurückwollte, und ich war von diesem Tag an ein Heimkind. Später, als ich älter war, tingelte ich von einer Wohngruppe des Jugendamtes zur nächsten“ (N. & Christ 2017, S. 12).

In dem o.g. Panorama Beitrag wurde ergänzend folgendes über seine Kindheit berichtet:
- Im Alter von 6 Jahren kommt er in ein Kinderheim
- Er ist 11 Jahre alt, als sich sein Bruder erhängt

In einem ZEIT-Artikel fand ich ergänzend die Info, dass seine Mutter Alkoholikerin war.

In vielerlei Hinsicht ist der Fall Oliver N. ein Paradebeispiel dafür, was das Fundament für Terror und Extremismus bildet. Aus seinem Fall können wir auch Präventionsmaßnahmen ablesen:

1. Natürlich und zu aller erst Kinderschutz und Elternförderung

2. Es braucht gerade für solche „verlorenen Kinder“ konstruktive Gruppenangebote, in denen sie sich Zuhause fühlen können und in denen sie wirklich Verbundenheit und Anerkennung finden. Wenn sie einmal fest verbunden sind, werden sie – trotz ihrer destruktiven Kindheit – nicht so leicht auf Anwerber destruktiver (politischer oder religiöser) Gruppen hereinfallen.

3. Psychotherapeutische Angebote müssen nicht nur gefördert werden und gut aufgestellt sein, sondern es muss auch mehr "Werbung" dafür geben. Sprich: Jeder Jugendliche, der in Deutschland das Schulsystem durchläuft, sollte innerhalb einen allgemeinen Bildungsplans darüber aufgeklärt werden, dass es psychotherapeutische Angebote gibt und diese besonders von den Menschen angelaufen werden sollten, die in ihrer Kindheit viel Destruktivität erlitten haben. Psychotherapien sind - neben vielen anderen Vorteilen - Extremismusprävention!

Dienstag, 17. Dezember 2019

Rückblick auf das Buchprojekt 2019


So liebe Leute, das Jahr neigt sich dem Ende zu. Für mich ist es also an der Zeit für einen kleinen Rückblick. Das Jahr 2019 steht für mich natürlich vor allem im Zeichen meiner Buchveröffentlichung im Februar.

Obwohl ich hier schon seit Jahren Blogbeiträge verfasse und durch das Internet bisher weit mehr Leser und Leserinnen erreicht habe (bis heute fast 580.000 Seitenzugriffe), als mein Buch wohl je bekommen wird, war das Buchprojekt für mich wirklich aufregend und kostete mich auch etliche Nerven. Ein Buch bleibt und ist nun mal etwas Besonderes.

Was ist seit der Veröffentlichung passiert? Der für mich wesentlichste Erfolg ist, dass meine Thesen und Recherchen jetzt auch in manchen Fachkreisen wahrgenommen werden. So hat sich das Buch mittlerweile in so einigen UNI-Bibliotheken und auch öffentlichen Bücherhallen (kurze beispielsweise Auswahl hier und hier) verbreitet (von Hamburg bis nach Zürich). Fachmenschen wie der Kinderarzt Herbert Renz-Polster (in seinem Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ + in seinem Blog), der Kriminologe Christian Pfeiffer (in seinem aktuellen Buch „Gegen die Gewalt“), die Pädagogin Anke Elisabeth Ballmann (in ihrem Buch „,Seelenprügel: Was Kindern in Kitas wirklich passiert.“), der Traumaexperte Franz Ruppert (in seinem aktuellen Buch „Liebe, Lust und Trauma“ + in einzelnen Vorträgen + er hat mein Buch sehr positiv am Ende eines Podcast-Interviews gewürdigt: Psycho trifft Coach, #13 - Trauma (13.05.2019)) und der Psychoanalytiker und Psychohistoriker Ludwig Janus (z.B. in seinem Beitrag „Die Kindheitsursprünge der Diktaturen des 20. Jahrhunderts“) haben mein Buch zitiert bzw. es verarbeitet. Einzelne Fachleute, die ich hier öffentlich nicht nennen kann, haben mir kurz persönlich eine positive Rückmeldung gegeben.

Ganz besonders hat mich ein Beitrag des Kinderarztes und Wissenschaftlers Hans Michael Straßburg gefreut. Für die Fachzeitschrift „Kinderärztliche Praxis“ hat er kürzlich den Artikel „Wie politisch ist die Kindheit? Und was hat das mit der Kindermedizin zu tun?“ verfasst. Wie man am Titel sehen kann, hat ihn mein Buch, das er im Text auch bespricht, offensichtlich bewegt. Mich hat wiederum sehr bewegt, dass mein Buch auch bei Fachleuten, die täglich mit Kindern zu tun haben, Verbreitung findet und dort wiederum offensichtlich auch etwas bewegt. Das macht mich wirklich stolz und auch glücklich!

Bisherige (Fach-)Rezensionen meines Buches:

- Dr. med. Ludwig Janus: Die Kindheit ist politisch! In: "Gewalt und Trauma: Direkte und transgenerationale Folgen" (Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 19, 2018)
- Ingeborg Salomon: "Entsetzlich wahr" (Rhein-Nekar-Zeitung vom 17.05.2019)
- Dr. Erika Butzmann: "Gewalt - von Anfang an" (Stiftung Zu-Wendung für Kinder vom 30.05.2019) + ergänzend ein kurzes Interview mit mir
- Caroline Fetscher: "Das Paradies sieht anders aus" (Der Tagesspiegel, 02.06.2019) + "Sind Diktatoren auch das Produkt einer traumatischen Kindheit?" (Der Tagesspiegel-Online, 04.06.2019)
- Prof. Dr. Gertrud Hardtmann: Sven Fuchs: Die Kindheit ist politisch! (für socialnet, 26.09.2019)

Außerdem wurden ich und mein Buch auf der 33. Jahrestagung der GPPP im April 2019 in Heidelberg kurz vorgestellt und ich durfte auch ein paar Worte an die ZuhörerInnen richten :-).

Rückmeldungen von Lesern und Leserinnen habe ich persönlich bisher nicht all zu viele bekommen. Allerdings lese ich natürlich sehr aufmerksam die Bewertungen und Kommentare im Online-Buchhandel. Was mir noch aufgefallen ist: Nicht nur einmal habe ich die persönliche Rückmeldung bekommen, dass das Lesen meines Buches nur in Etappen möglich war. Das Buch wühlt auf und ist keine leichte Kost, natürlich! Manche Leser gaben aber auch die Rückmeldung, dass sie das Buch in zwei Tagen verschlungen hatten. Jeder kommt halt individuell anders mit dem klar, was ich zusammengetragen habe. Ich selbst lese immer mal wieder selbst in meinem Buch und muss auch selbst noch weiterhin verarbeiten, was darin steht...

Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass bei den ersten 200 Buchexemplaren leider noch so einige Rechtschreibfehler (trotz Prüfung durch mich und den Verlag) enthalten waren. Falls Euch dies aufgefallen ist und beim Lesen gestört hat, so tut mir dies leid. Ab der Auflage Mai („korr. Nachdruck Mai“) sind die Fehler verbessert worden.

Wir werden sehen, wie es 2020 weitergeht. Ich werde berichten!



Mittwoch, 27. November 2019

Der Vater von Donald Trump prügelte seine Kinder mit einem Holzgegenstand

Fred Trump, der Vater von Donald Trump, hat seine Kinder zur Strafe mit einem Holzgegenstand geprügelt. Diese Information fand ich erst kürzlich in dem Buch: Blair, Gwenda (2000): The Trumps: Three Generations of Builders and a President. Simon & Schuster, New York. Kindle E-Book Edition. 

Ich habe immer wieder in der Vergangenheit versucht, etwas zum Thema „Körperstrafen“ in der Familie Trump zu finden. Der Charakter des Vaters und auch gängige „Erziehungspraktiken“ in den USA machten es sehr wahrscheinlich, dass Donald Trump auch zu Hause Gewalt erlebt hat. Bisher hatte ich dazu fast nichts gefunden. Einzig einen Beleg für väterliche Ohrfeigen gegen Donalds Bruder hatte ich gefunden.

Die o.g. Quelle ist da jetzt noch einmal deutlicher. Gwenda Blair schreibt, dass Donalds Mutter ihrem Mann abends, wenn dieser nach Hause kam, von Fehlverhalten der Kinder berichtete. Der Vater teilte dann die Strafen aus: „Depending on the seriousness of what had occured, malefactors might be grounded for a few days; according to the children`s friends, occasionally wrongdoers were also paddled with a wooden spoon" (Blair 2000, S. 228). Die Mutter delegierte entsprechend die Gewalt (Stichwort: Warte nur, bis Papa nach Hause kommt). Dies muss sie für ihre Kinder ebenso zu einer gefährlichen Figur gemacht haben.

Der Fall Trump ist für mich in mehrfacher Hinsicht klassisch:

- Je länger man sich mit ihm und seiner Kindheit befasst, desto mehr Destruktivität kommt zu Tage. (Dies habe ich so bei etlichen destruktiven Akteuren, die ich in der Vergangenheit analysiert habe,  erlebt. Das Bild wurde immer schlimmer, je mehr man recherchierte!)

- Die Gewalt innerhalb der Familie Trump wird bisher öffentlich viel zu selten thematisiert. Dabei zeigt Donald Trump im Grunde täglich klassische Folgen des Battered-Child-Syndrom und einer starken Identifikation mit dem Aggressor. Dies zu sehen und zu benennen würde natürlich heute nichts verändern (wohl am Wenigsten Donald Trump selbst). Es wird aber deutlich, dass Erfahrungen, die er vor über 60 Jahren machte, heute immer noch nachwirken. Kinderschutz ist also weitergedacht auch ein Weg, politische Hassakteure wie Trump zukünftig zu verhindern.

Was mich sehr gewundert hat (naja, eigentlich auch wieder nicht wirklich, weil ich dies schon so oft erlebt habe) ist, dass das o.g. Zitat z.B. bei der Googel-Suche im Internet - außer bei googel-Books im Buch von Gwenda Blair und jetzt natürlich auch in meinem Blog – nicht zu finden ist. Wenn man „wrongdoers were also paddled with a wooden spoon“ (in Anführungszeichen) in die Suchmaschine eingibt, findet man im gesamten Internet bis zum heutigen Tag dieses Zitat nicht! Das ist schon erstaunlich, weil körperliche Misshandlungserfahrungen in der Familie zumal in der Geschichte des aktuellen Präsidenten doch ein Thema sein sollten (und es nahe liegt, diesen Satz zu zitieren).

Dienstag, 19. November 2019

Kritik an der Doku-Reihe "Warum wir hassen"


Die Doku-Reihe „Warum wir hassen“ (von Steven Spielberg und Alex Gibney) ist derzeit in der Mediathek des ZDF zu sehen. Mehrere Teile gehen der Frage nach den Ursachen von Hass, Gewalt, Genozid, Massenmord und Amokläufen nach. Die gesamte Doku-Reihe ist interessant und auch vom Stil her gut gemacht. Auch die erwähnten Gruppendynamiken und auch evolutionären Wurzeln der Gewalt sind spannend.

Aber: Nur im Teil über Extremismus werden Kindheitshintergünde erwähnt. An Hand von zwei Fallbeispielen (Frank Meeink + Jesse Morton) und durch einen kurzen Kommentar einer Expertin.

Diese Art der Herangehensweise an die Ursachen von Hass und Gewalt habe ich schon oft gesehen. 240 Minuten umfassen alle Teile der Doku. Die im Extremismusteil kurz erwähnten Kindheitshintergründe werden nicht noch einmal erwähnt. Beim Thema Amokläufe, Rassismus, Krieg, Massenmord und Genozide werden Kindheitshintergründe als eine gewichtige Ursache überhaupt nicht in Betracht gezogen. Die kurz erwähnten Kindheitshintergründe im Extremismusteil fallen bezogen auf die 240 Minuten überhaupt nicht ins Gewicht. Die Fallbeispiele stehen außerdem für sich. Eine Expertin kommentiert nur kurz mit 2-3 Sätzen. Das war es. Und vor allem: Es wird nicht die Frage gestellt, ob als Kind geliebte und gewaltfrei aufgewachsene Menschen zu Extremisten, Kriegstreibern oder Massenmördern werden können.

Klassisch ist dieses „Aufflackern“ (wenn ich das so nennen darf) vom Erkennen der tieferen Ursachen. Im Extremismusteil gab es dieses „Aufflackern“. Durch die fehlende Hervorhebung der Bedeutsamkeit von Kindheitshintergründen, durch die fehlende Übertragung dieser Erkenntnisse auf andere destruktive Bereiche der Menschheit und auch durch die fehlende Besprechung von Beispielen wie z.B. der deutlich positiveren Kindheiten von JudenretterInnen (stattdessen wurden, auch das ist "klassisch",  das Milgramexperiment und das Stanford-Prison-Experiment besprochen) bleiben Kindheishintergründe in der Gesamtsicht wenig bedeutsam. Auch in dem der Doku angehängtem Interview mit Steven Spielberg und Alex Gibney wird deutlich, dass Kindheitshintergründe keine besondere Bedeutung beigemessen wird: Mit keinem Wort sprechen die beiden Macher darüber.

Es scheint noch ein weiter Weg, bis die tieferen Ursachen von Hass und Gewalt auch klar und deutlich medial und öffentlich besprochen werden.

Hier noch die oben erwähnten Fallbeispiele und der Kommentar der Expertin. Die Beispiele sind eigentlich überdeutlich. Es ist absolut erstaunlich, dass daraus nicht mehr entwickelt wurde:

Frank Meeink (ehemaliger rechter und gewalttätiger Skinhead):
Als Frank 9 Jahre alt war, zog sein Stiefvater bei ihm zu Hause ein. Er blieb vier Jahre. „Das Prügeln ging gleich in der ersten Woche los. Ich durfte beim Essen nicht reden. Idioten wie ich würden ihm den Appetit verderben, meinte er. Er war brutal. Ich hasste ihn. Er war der erste Mensch, den ich hasste. Irgendwann schmiss er mich raus.“ Frank musste umziehen und kam an eine Schule, mit mehrheitlich schwarzen Kindern.  Dort wurde er massiv gemobbt. „Bei mir hat sich einfach Hass aufgestaut“, sagte Frank Meeink. Ein Cousin brachte ihn dann in Berührung mit rechtsextremem Gedankengut und Feindbildern. Vor allem Juden seien schuld an allen möglichen Missständen. „Endlich sprach es jemand aus: `Du bist das Opfer`. Denn gefühlt hatte ich mich die ganze Zeit schon so.“ und bezogen auf die rechte Gruppe, der er sich immer weiter anschloss, kommentiert Meeink: „Ich freute mich immer, wenn sie kamen. Endlich interessierte sich jemand für mich.“ Dann wurde ihm schließlich der Kopf rasiert und er war Teil der Skinheadgruppe.

Sasha Hevlicek (Gründerin des Institute für Strategic Dialog“) kommentiert gleich nach dem Fall "Frank": "In vielen solcher Fälle liegt ein frühes Trauma vor. Und das führt wie bei Frank zu dem verzweifelten Wunsch, dazuzugehören. Eine Antwort auf die Frage zu finden: Wer bin ich?"
Das war es an Kommentaren in der Doku zu den Kindheitshintergründen!

Ein weiterer Fall wird kurz selbsterklärend aufgeführt: Jesse Morton (ehemaliger Dschihadist).
Morton im O-Ton: „Ich wurde in meiner Kindheit schwer misshandelt. Mit 16 lief ich von zu Hause weg. Und fing an, mit Drogen zu dealen, um zu überleben.“ Er wurde inhaftiert und radikalisierte sich im Gefängnis islamistisch.


Montag, 11. November 2019

Terror von Links - Kindheit von Henning und Wolfgang Beer


Ein Bericht über die Kindheit des ehemaligen RAF-Terroristen Henning Beer sagt sehr wahrscheinlich gleichzeitig auch etwas über seinen Bruder Wolfgang Beer, der ebenfalls RAF-Terrorist war, aus.

Meine Quelle ist: Wunschik, Tobias (1997): Baader-Meinhofs Kinder: Die Zweite Generation der RAF. Westdeutscher Verlag, Opladen.

Als Henning „zehn Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden; von da an lebte er bei seiner Mutter, die an Alkoholsucht litt und mehrfach in psychiatrischen Anstalten untergebracht war. Unter diesen Umständen stellte sein Bruder Wolfgang Beer die einzige feste Bezugsperson für ihn dar. Dieser war es auch, der ihn später in diverse Wohngemeinschaften und Zirkel mit linksextremen Ambiente einführte“ (S. 225).

Ab Februar 1974 hatte Wolfgang Beer eine Haftstrafe zu verbüßen. Henning war plötzlich auf sich allein gestellt. „Er kam in der Wohngemeinschaft seines Bruders unter, wo sich insbesondere Prieß und von Seckendorff-Gudent um ihn kümmerten. Letzterer machte ihn mit linksextremen und revolutionärem Gedankengut vertraut“ (S. 226). Der am 30.11.1958 geborene Henning Beer muss zu dieser Zeit gerade einmal 15 Jahre alt gewesen sein.

Sein Bruder Wolfgang wurde Ende 1953 geboren. Zur Zeit der Trennung der Eltern war Wolfgang entsprechend ca. 15 Jahre alt. Inwieweit auch er die Alkoholsucht der Mutter miterlebt hat, erschließt sich nicht. Die Vermutung liegt im Raum, dass es schon vor der Trennung Probleme im Elternhaus gab. In der o.g. Quelle wird kein einziges Wort zum Vater geschrieben. Dass die Kinder bei der alkoholkranken Mutter unterkamen, spricht nicht gerade für ihn. Da Wunschik schreibt, dass nach der Trennung der Eltern nur der große Bruder Bezugsperson für Henning war, wird der Vater vermutlich aus dem Leben der Kinder verschwunden sein.

Donnerstag, 7. November 2019

Terror von Links - Kindheit von Silke Maier-Witt


Auch über die ehemalige RAF-Terroristin Silke Maier-Witt finden sich einige aufschlussreiche Details aus ihrer Kindheit.
Meine Quelle dafür ist: Wunschik, Tobias (1997): Baader-Meinhofs Kinder: Die Zweite Generation der RAF. Westdeutscher Verlag, Opladen.

Als Silke 6 Jahre alt war (1956), starb ihre Mutter. „Eine erneute Ehe ihres Vaters währte nur etwa ein Jahr. Infolgedessen wuchs das Mädchen zunächst bei ihren Großeltern in Hamburg, dann bei der Schwester ihrer Mutter in Itzehoe auf. Dort wurde sie auch wegen nervöser Störungen behandelt; in der Schule wurde sie `verschickt`. Nach einer erneuten Heirat des Vaters zog Silke Maier-Witt im Oktober 1959 wieder zu ihm. Seine neue Gattin fand jedoch keinen `Draht` zu dem Mädchen und ihrer schon 1946 geborenen Schwester; auch später war das Thema der Wiederheirat des Vaters innerhalb der Familie tabu. (…) Maier-Witt bekam im Elternhaus kaum einmal die Gelegenheit zu vertrauensvollen Gesprächen und wagte auch nicht, ihre Probleme offen auszusprechen. Die häufig aufkeimenden Spannungen wurden stets nur verdeckt ausgetragen. Nach außen hin bot sich das Bild einer intakten Familie, doch `ich war mir schon sehr früh sehr sicher, dass ich so wie meine Eltern nicht werden wollte`“ (S. 215f).

In einem Hamburger Mädchengymnasium, das ihr Vater für sie gewählt hatte, fühlte sich Silke als "soziale Außenseiterin". Als Jugendliche begannen vermehrt Konflikte mit dem Vater. Silke forderte mehr Mitsprache, ihr Vater wehrte ab. Auch Auseinandersetzungen um politische Themen begannen, ebenso wie Fragen nach der Vergangenheit des Vaters während der NS-Zeit.

Tod der Mutter, Trennung vom Vater, wechselnde Bezugspersonen und psychische Probleme (als Folge all dieser Erlebnisse?), Probleme mit der neuen Stiefmutter, Außenseiterrolle und wenig Raum für ihre Bedürfnisse und Probleme. All dies verdichtet sich zu der Schlussfolgerung, dass die Kindheit von Silke Maier-Witt sehr belastet war.

Ergänzend stellt sich mir die Frage, was unter der „Verschickung“ während der Schulzeit zu verstehen ist? In der Nachkriegszeit war es in der Tat üblich, dass Kinder „verschickt“ (in Heime oder zu Lehrzwecken) wurden. Über diese Kinderverschickungen gibt es heute mittlerweile Berichte, die erschaudern lassen. „Hunderttausenden von Kindern brachten Ferien in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren Erfahrungen, die sie besser nie gemacht hätten. Sie wurden, wie man damals sagte `verschickt`. Sommers wie winters nahmen staatliche, konfessionelle und private Erholungsheime für Wochen oder Monate Kleinkinder und Schulkinder auf, um Eltern zu entlasten.“ (Fetscher, C., 08.07.2018, Kindesmissbrauch in der Nachkriegszeit. Ferienverschickung – vor allem tat meist das Heim weh, Tagesspiegel-Online) Die Zustände waren dem Bericht folgend nicht selten katastrophal: Gewalt, Drohungen, Demütigungen, Missbrauch und Misshandlungen gehörten dazu. Hat auch Silke damals ähnliches erlitten?

Mittwoch, 6. November 2019

Terror von Links - Die Kindheit von Susanne Albrecht


Über die ehemalige RAF-Terroristin Susanne Albrecht habe einige wenige, aber aufschlussreiche Informationen über ihre Kindheit gefunden.
Meine Quelle dafür ist: Wunschik, Tobias (1997): Baader-Meinhofs Kinder: Die Zweite Generation der RAF. Westdeutscher Verlag, Opladen. 

Susanne Albrecht wuchs in einer großbürgerlichen und konservativen Familie in Hamburg auf. Wunschik schreibt über ihre Kindheit: „Es herrschte ein strenger Erziehungsstil, gelegentlich erhielt das Mädchen auch Schläge. Kam es wegen der Edukation der Tochter zu Streitigkeiten zwischen den Eltern, fühlte sich Albrecht hierfür verantwortlich. Sich mit ihren Sorgen Dritten anzuvertrauen, kam indes für sie nicht in Frage – nach dem Willen der Eltern durften innerfamiliäre Differenzen keinesfalls nach außen getragen werden. Entsprechend ihrer sozialen Herkunft sollte sie auch bei der Auswahl ihrer Freunde auf deren gesellschaftliche Stellung achten“ (S. 211).

Der Druck der Eltern scheint sich auf viele Bereiche bezogen zu haben. So sollte sie z.B. Klavier lernen und Tennis spielen, hatte daran aber gar keine rechte Freude. Die Eltern übten einen „allgemeinen Leistungsdruck auf ihre Tochter aus und überforderten diese schlichtweg mit ihren Leistungserwartungen“ (S. 215). „Das Mädchen schottete sich zunehmend von ihrer Umwelt ab. Schwierigkeiten mit den Eltern führten dazu, dass sie auf ein Internat nach Holzminden geschickt wurde. Doch dort erwartete sie die `Fortsetzung des Erziehungsstils von zu Hause`“ (S. 211f).
Was genau sie alles im Internat erlitten hat, bleibt offen. Fest steht, dass es dort streng zuging. Außerdem war sie gänzlich aus ihrem alten Umfeld in Hamburg herausgerissen.

Ein weiteres Ereignis scheint mir von Bedeutung zu sein. Als Jugendliche erlebte sie, dass sich ihr damaliger Freund umbrachte. Susanne machte „die Welt der Erwachsenen einschließlich ihrer Eltern hierfür verantwortlich“ (S. 212).

Als Soziologiestudentin politisierte sie sich später zusehends und kam in Kontakt mit Hausbesetzern, zu denen auch spätere RAF-Terroristen gehörten. Ihre Radikalisierung nahm ihren Lauf...

Dienstag, 29. Oktober 2019

Terror von Links - Kindheit von Holger Meins


Über die Kindheit des RAF-Terroristen Holger Meins fand ich nur wenige, aber aufschlussreiche Informationen in dem Buch:
Conradt, Gerd (2001): Starbucks - Holger Meins: Ein Porträt als Zeitbild. ESPRESSO Verlag, Berlin. 

Holger Meins wurde am 26. Oktober 1941 in Hamburg inmitten des Krieges geboren.
Der Vater von Holger sagte in Gesprächen: „Ganz frühzeitig hatte er eine Operation nach einem Leistenbruch, die lebensgefährlich war. In den ersten Monaten durfte er weder schreien noch weinen, weil dann die Gefahr eines `kalten Brandes` aufgetreten wäre und er hätte daran sterben können. In seinen ersten Lebensjahren verlebte er bis zum Kriegsende jeden Sommer an der Ostsee, um mit seiner Mutter und seinem Bruder den Luftangriffen auf Hamburg nicht ausgesetzt zu sein. Ein beeindruckendes Erlebnis für ihn war, dass er während des Winters mit seiner Mutter nicht rechtzeitig in den Luftschutzbunker gekommen war und einen Luftangriff außerhalb der Luftschutzräume miterlebte. Er sprach von einem schönen Feuer: `Da waren herrliche Lichter am Himmel und es machte Bummbumm wie ein Feuerwerk.` Das war für ihn kein erschütterndes Kriegserlebnis. Das hat er mit strahlendem Gesicht erzählt. 
1943 wurden wir ausgebombt. (…). Wir fanden aber in Hamburg einen Unterschlupf am Stadtpark, wo Holger seine Jugend verbrachte. Im Sommer 1948 war er zu einer Kinderverschickung in der Schweiz, bei der Schreinerfamilie Albert Fürer in Bühler“ (S. 13).

Hier haben wir gleich mehrere Informationen. Zunächst die frühzeitige, lebensgefährliche Operation – offensichtlich im Kleinkind- oder Säuglingsalter. Wie wurde damals das Kind dazu gebracht, dass es nicht schreit oder weint? Gab es dazu irgendwelche damals übliche Methoden? Wie konnte dies in diesem jungen Alter überhaupt gelingen? Diese Fragen stehen im Raum.

Holger verlebte ganz eindeutig eine traumatische Kriegskindheit, auch wenn sein Vater die Situation in der Erinnerung sehr beschönigt. Hamburg wurde vielfach bombardiert und Holger war seine gesamte frühe Kindheit über – außer im Sommer – in der Stadt.

Über die Länge der „Kinderverschickung“ erfährt man nichts von dem Vater. Holger muss damals ca. 6 Jahre alt gewesen sein. Da er von Hamburg aus in die Schweiz „verschickt“ wurde, gehe ich davon aus, dass es ein längerer Aufenthalt und insofern eine längere Trennung von der Familie in diesem jungen Alter gewesen ist. Auch über die Situation vor Ort erfährt man fast nichts. Der Vater kommentiert, dass Holger in Briefen für seine gute Rechtschreibung und sein mathematisches Können gelobt und für das Herumspielen mit Werkzeug kritisiert wurde. Außerdem habe sein Sohn „Ich bin gerne hier“ unter die Briefe geschrieben (S. 14).
Da hier auch von „Briefen“ die Rede ist, bestätigt dies meine Vermutung, dass der Aufenthalt länger dauerte. Für ein sechs Jahre altes Kind ist das, egal was nun der Vater dazu kommentiert, eine große Belastung, so weit weg in der Fremde und getrennt von der Familie zu sein.

Der Vater ist eine zentrale Figur in dem Buch. Er stand zu seinem Sohn, auch, als dieser Terrorist und inhaftiert wurde. Es scheint eine doch starke Bindung zwischen Vater und Sohn gegeben zu haben. Fakt ist aber auch, dass der Vater nichts über die Erziehung und den familiären Alltag Preis gibt. Wir wissen schlicht nicht, wie die Eltern konkret mit ihren Kindern umgingen und ob und wenn ja wie Strafen ausgeführt wurden.

Ein Sachverhalt sticht in dem Buch ins Auge: Der Vater überstrahlt alles, die Mutter dagegen bleibt fast gänzlich unerwähnt und ausgeblendet. Dies liegt wohl an folgendem Sachverhalt:
Die Nachbarn kannten Holger alle. Drüben bei Meyers war er fast wie ein halber Sohn, nachdem meine Frau verstorben war. Sie war nervenkrank gewesen, darum hatten wir eine Wohnung im Grünen“ (S. 16).

Was genau sich an psychischer Krankheit hinter dem Wort „nervenkrank“ verbirgt, bleibt unsere Fantasie überlassen. Fest steht aber, dass die Mutter auch alleine für die Kinder sorgte, so z.B. im Sommer, wie oben zitiert. War die Mutter schon damals "nervenkrank" und wenn ja, was erlebten die Kinder mit einer „nervenkranken“ Mutter?

In dem Buch „Starbucks - Holger Meins: Ein Porträt als Zeitbild“ fällt mir besonders ins Auge, dass die Sozialisation und Kindheit von Holger Meins als möglichst normal und freundlich dargestellt wird. Das Buch an sich ist sehr tendenziell und sympathisiert deutlich mit linken Ideen und den damaligen Akteuren. Der Staat, der die Isolationshaft der RAF-Häftlinge verantwortete, erscheint dagegen tendenziell als Gegner. Das Buch erscheint eher als Denkmal für Holger Meins.

Wie auch immer: Trotzdem konnte ich so einige Informationen über die Kindheit von Holger Meins herausziehen. Es wird sehr deutlich, dass Holger sehr belastet aufgewachsen ist.

Freitag, 25. Oktober 2019

Kinder in Moria: "Da ist das Leben des Menschen doch vorbei"

Jeden Tag könnte man über das Leid von Kindern in der Welt berichten…

Ich selbst habe mich in diesem Blog vor allem auf das Thema Kindesmisshandlung fokussiert. Und ich habe das Gefühl, dass ich damit etwas Gutes tue, und ja, auch etwas bewirke.
Heute möchte ich auf die Situation von Kindern im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos hinweisen. Ich kann den Kindern dort nicht helfen, aber mir ist es ein tiefes Bedürfnis, kurz etwas dazu zu schreiben.

Jeder Europäer sollte diesen Bericht sehen: „Kinder in Moria: Auf dem Weg nach Europa | Exklusiv-Reportage aus dem völlig überfüllten Flüchtlingscamp auf Lesbos“ (ARD)

Die Lage dort ist katastrophal, vor allem auch für die Schwächsten, die Kinder. Ein Arzt berichtet, dass Kinder versuchen, sich umzubringen oder sich selbst Verletzungen zufügen. „Ihre Kindheit wird ihnen genommen“, sagt der Mann. Es gibt keine Schulen, keine Beschäftigung, keine Decken, keine Unterkünfte, keine Toiletten, keinen Schutz, zu wenig Essen und und und.

Am Ende des Berichts fragt ein Mädchen eine Reporterin, die sich in das Lager hineingeschmuggelt hat: „Wie lange müssen wir hier noch bleiben?“ Die Reporterin antwortet: „Was schätzt Du denn?“ „Ich frage Sie doch!“, sagt das Mädchen. „Vielleicht ein Jahr“, antwortet die Reporterin. Das Mädchen überlegt eine Weile und sagt: „Da ist das Leben des Menschen doch vorbei

Ich bin dafür, dass zumindest alle Familien mit Kindern nicht länger als eine Woche in solchen Lagern leben sollten! Zumal wir hier von europäischem Boden sprechen. Wenn wir dies wollten, könnten wir dies auch leisten!

Das wäre - neben den menschlichen Aspekten - auch Prävention! Denn wenn diese Kinder irgendwann in andere europäische Länder überführt werden (nicht Wenige auch nach Deutschland) und dort aufwachsen, dann muss es im Interesse der Aufnahmeländer sein, dass diese Kinder möglichst wenig traumatische Erfahrungen gemacht haben. Ansonsten haben die Aufnahmeländer später weit mehr Probleme, als wenn jetzt investiert würde. Die möglichen Folgen von Traumatisierungen im Kindesalter habe ich hier im Blog jahrelang ausführlich behandelt. Das Handeln der EU, gerade bezogen auf die Kinder, die als Flüchtlinge kommen, macht also keinen Sinn. Es wäre viel günstiger, jetzt und sofort zu helfen, als Traumatisierungen durch diese Lager systematisch zu fördern. Was wir heute an Leid gegen Kinder zulassen, kommt übermorgen auf uns zurück.

Mittwoch, 23. Oktober 2019

Terror von Links - Kindheit von Stefan Wisniewski


Der ehemalige RAF-Terrorist Stefan Wisniewski wurde am 08.04.1953 geboren. Wenig später, am 9. Oktober 1953, starb sein Vater im Alter von nur 27 Jahren an einer Nierenentzündung. Die Krankheit, davon ging Stefans Mutter aus, sei Folge der Zeit im Konzentrationslager. Während des Krieges war Stefans polnischstämmiger Vater von den Deutschen verschleppt und interniert worden. Die Mutter bemühte sich um Wiedergutmachung und finanzielle Hilfen, aber vergebens (Krall, 2007).

Geboren wurde Stefan in Klosterreichenbach, einem Dorf im Schwarzwald. Angst habe ihn und seine Familie begleitet. In der Umgebung wohnten damals viele ehemalige SS- und SA-Männer. Die Geschichte des Vaters musste geheim bleiben (Hengst & Schwabe, 2007).

Später scheint es massive Probleme mit Stefan gegeben zu haben: „Als Stefan wieder einmal aus der Schule weggelaufen war, bat Gisela bei Pädagogen um Rat. Es waren Pädagogen der Jugendhilfe. Sie rieten ihr, den Sohn ins Heim zu geben. `Dort landet er früher oder später sowieso`, sagten die Pädagogen. Stefan war ein Jahr im Heim. (…) Heimleiter war ein Pastor, ein stämmiger Mann mit feistem Gesicht und starken Fäusten. Der Pastor vergab an jeden drei Zensuren pro Woche: für Arbeit, Unterricht, Betragen. Hatte man nur eine einzige Sechs darunter, verbrachte man das Wochenende im Isolationsraum. Dort gab es zwei Bretter. Ein niedriges zum Sitzen, ein höheres, um Arme und Kopf aufzustützen“  (Krall, 2007).
Die „starken Fäuste“ des Heimleiters werden in dem zuvor zitierten Text mehrmals erwähnt und hervorgehoben. Ich deute dies dahingehend, dass der Heimleiter auch – neben der psychischen Gewalt - körperliche Gewalt gegen Stefan angewandt haben könnte.

Siebenmal flüchtet Stefan aus dem Heim, innerhalb eines Jahres. „Die Polizei bringt ihn immer wieder zurück“ (Hengst & Schwabe. 2007).

Verwendete Quellen: 

Hengst, B. & Schwabe, A. (2007, 23. April): Stefan Wisniewski. Wie aus einem Provinzler die Furie der RAF wurde. Spiegel-Online.

Krall, H. (2007, 27. April): „Stefan Wisniewski, Sohn eines Zwangsarbeiters“. Welt-Online.

Mittwoch, 16. Oktober 2019

Kindheit von Robert Ley (u.a. Reichsorganisationsleiter der NSDAP)


Robert Ley war ein führender Nationalsozialist. Er gehörte zu den 24 im „Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher“ Angeklagten. Seiner Verurteilung entzog er sich durch Suizid.

In der Hierarchie der NS-Führungsriege rangierte er an fünfter Stelle (Wald 2004, Angabe des Verlags in der Inhaltsbeschreibung bzw. auf der Buchrückseite)

Wie war Robert Ley als Mensch, fragt sich der Biograf Ronald Smelser. Und er antwortet selbst: „Er war schroff und hart, hatte keinerlei Hemmungen, neigte zu Gefühlsausbrüchen, war korrupt und bestechlich, und es fehlte ihm in erstaunlichem Maß an Urteilsvermögen. Er war auch ein notorischer Schürzenjäger und ein starker Trinker. Gleichzeitig war er ein intelligenter Mensch, der echtes Organisationtalent besaß (…). Er war auch ein ungewöhnlich ehrgeiziger Mensch mit einem starken Geltungsbedürfnis. Vor allem war er Adolf Hitler, in dem er einen Gott-Menschen sah, sklavisch ergeben“ (Smelser 1989, S. 13). Im Privaten kam Leys Destruktivität überdeutlich zu Tage. So z.B. gegenüber seiner zweiten Ehefrau, die er wohl nicht nur einmal öffentlich demütigte. „Ein andermal enthüllte Ley anscheinend seine Gattin direkt, indem er versuchte, ihr die Kleider vom Leib zu reißen, damit die Gäste ihren herrlichen Körper bewundern könnten. `Er behandelt mich schamlos`, sagte sie. `Ich bin überzeugt, eines Tages bringt er mich noch um`“ (Smelser 1989, S. 116). Am 29.12.1942 erschoss sich Leys Frau Inge nach einem belanglosen Streit mit ihrem Mann. Smelser meint, dass Inge Ley vermutlich stark unter der Alkoholsucht ihres Mannes litt.

Robert war das siebte Kind seiner Eltern, die insgesamt elf Kinder bekamen. Von den 11 Kinder waren drei im Kleinkindalter oder bei der Geburt gestorben (Wald 2004, S. 15). Ob Robert den Tod dieser Geschwister miterlebte und wie sich diese Tragödie auf die Familie auswirkte, wird nicht beschrieben.
Robert Ley wurde in eine armen Region hineingeboren, seine Familie gehörte aber zu den Privilegierten und war wohl relativ reich. Sein Vater – Friedrich - konnte mit dem Reichtum allerdings nicht umgehen. Er ließ sich auf verlustbringende Geschäfte ein. „In seiner Verzweiflung zündete Friedrich offenbar den Hof an, um die Versicherungssumme zu kassieren. Die Sache wurde aufgedeckt; Friedrich Ley wurde verhaftet, vor Gericht gestellt und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Der junge Robert war damals sechseinhalb Jahre alt, und dieses Erlebnis zeichnete ihn für sein Leben. Mit einem Schlag stürzte die Familie in bittere Armut“ (Smelser 1989, S. 18). Die älteren Geschwister verließen daraufhin die Familie, um Arbeit zu finden. Die Familie brach offensichtlich auseinander. „Der älteste Sohn, der zur Zeit des Brandes 21 Jahre alt war, und der vierte zogen wie andere junge Männer ins Wupper-Tal und Niederbergische. Der zweite ging allein fort, Richtung Rhein. Der dritte arbeitete zunächst als Metzgergeselle im übernächsten Dorf und folgte dann dem ältesten Bruder. Sie versuchten, bei dem Geldverleiher die Schulden abzubauen, aber das gelang nicht“ (S. 16).
Die Familie kam nicht mehr von dem Geldleiher los: „Die beiden Töchter mussten zu ihm in den Dienst, zunächst die ältere, die 14 war, als der Hof abbrannte, dann auch die jüngere. Die zweite – zarte kleine, aber zähe und unerschrockene – habe schließlich aufbegehrt: `Nu is Schluss, wir versinken ja im Elend`“ (Wald 2004, S. 16). Ein wohlhabender Verwandter habe dann Geld vorgeschossen, so dass der Peiniger ausgezahlt werden konnte. „Dass Ley dies im Kindesalter erlebte, muss bei ihm ein Trauma hinterlassen haben; er blieb stets äußerst empfindlich in Bezug auf seine soziale Stellung und entwickelte ein heftiges Geltungsbedürfnis – wie es für eine ganze Reihe hoher NS-Führer typisch war“ (Smelser 1989, S. 19).

Die Mutter zog mit den beiden jüngsten Kindern – darunter auch Robert – in ein verfallenes Anwesen in der Nähe. „Für die Mutter, die vorher schon, so wie der Hof der Leys verschuldete, mehr und mehr zu leisten hatte, riss die Arbeit nicht ab. Das Leben mit den beiden Kleinen war arm und eng, aber nach den Jahren der Ungewissheit und der Aufregung endlich ruhig“ (Wald 2004, S. 15).
 Über seine Mutter berichtete Ley später: „Sie musste öfters auf Gericht gehen, Demütigungen ertragen. Dann weinte sie sich bitter aus, und wir Kinder trösteten sie“ (Smelser 1989, S. 33). Als Robert 11 Jahre alt war, kam sein Vater wieder nach Hause. Ley notierte dazu: „Wir Kinder hatten ihn kaum vermisst. (…) Und die Mutter redete nie von ihm … So war denn die Heimkunft des Vaters wie eine Alltäglichkeit“ (Smelser 1989, S. 33). Robert Leys Tochter schreibt zum Vater-Sohn-Verhältnis ihres Vaters: „Zum Vater (…) bestand Distanz. Der war kein Vorbild“ (Wald, 2004, S. 127). Zur Mutter habe dagegen, so Robert Reys Tochter Renate Wald, eine enge Bindung bestanden. Die Mutter habe auch hohe Erwartungen gegenüber ihrem Sohn Robert gehabt, was seine Lebensperspektive geformt hätte.

1914, als junger Mann, meldete sich Robert Ley als Kriegsfreiwilliger. Er machte diverse Kampferfahrungen und blieb in Frankreich zusammen mit zwei Kammeraden der einzige Überlebende einer 42-köpfigen Batteriebesatzung (Smelser 1989, S. 22).

Leider erfährt man in beiden verwendeten Quellen im Grunde nichts über den Erziehungsalltag bei den Leys. Auf jeden Fall war der Alltag hart. Die Kinder mussten auf dem Hof mitarbeiten. Der Brand und die Haft des Vaters blieben Familientrauma. Mit Blick auf die gezeigten Abläufe und die vielen Kinder ist zu vermuten, dass kaum Zeit für mütterliche Fürsorge gegenüber den Kindern, insbesondere auch den Jüngsten, zu denen damals Robert gehörte, da war. Der Vater an sich war sowohl durch die Haft, als auch danach auf Abstand zu seinem Sohn Robert. Dass Robert Ley als Kind vielfach belastet war, ist überdeutlich.

Ich betone in solchen Fällen auf Grund der Quellenlage immer, dass weder elterliches Gewaltverhalten, noch elterliche Gewaltfreiheit nachweisbar ist. Wir wissen nicht, ob zu all den schweren Lebensumständen auch noch elterliche Strafen und Gewalt dazukam. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass Robert Ley 1890 geboren wurde (dazu noch im ländlichen Raum). Nachweisbar wurde die große Mehrheit der um 1900 Geborenen im Elternhaus geschlagen, oft kamen dann auch noch Prügelstrafen durch Lehrer oder Lehrherren hinzu. Das Leben an sich war damals von Härten geprägt. Ich halte es demnach für sehr wahrscheinlich, dass Robert Ley nicht zu der Minderheit gehörte, die gewaltfrei aufwachsen durfte.



Verwendete Quellen:

Smelser, Ronald (1989): Robert Ley : Hitlers Mann an der "Arbeitsfront". Eine Biographie. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn.

Wald, Renate (2004): Mein Vater Robert Ley. Meine Erinnerungen und Vaters Geschichte. Martina Galunder-Verlag, Nümbrecht.

Dienstag, 15. Oktober 2019

Terror von Links - Kindheit und Jugend von Michael "Bommi" Baumann


Michael Baumann (genannte auch „Bommi“) war Mitbegründer der terroristischen „Bewegung 2. Juni“. Baumann hat in den 1970er Jahren seine Autobiografie veröffentlicht:
Baumann, Bommi (1976) Wie alles anfing - Dieses Buch wurde am 24.11.75 beschlagnahmt und wird jetzt trotz des Verbotes von verschiedenen Personen und Verlagen neu herausgegeben: Verschiedene Verlage und Einzelpersonen, Frankfurt am Main.

In harter und oft derber Sprache schildert er in dem Buch seinen Weg zum Terrorismus. Am Ende des Buches schreibt er: „Ich stehe immer noch hinter allen Sachen, die ich gemacht habe. Ich verdamme nichts und ich verurteile auch nichts daran (…). Ich habe es gemacht und es ist in Ordnung“ (S. 137).
Zu den „Sachen“, die er gemacht hat, gehörten u.a. Bombenanschläge, Banküberfälle, Sachbeschädigungen und Körperverletzung.

Baumann gibt in seinem Buch im Grunde fast keinen Einblick in seine Familie, über seine Eltern oder seine Kindheit. Im Alter von 12 Jahren sei die Familie von Ostdeutschland gen Westberlin umgesiedelt. Als Jugendlicher ließ er sich lange Haare wachsen und sei dadurch massiv diskriminiert worden. „Die ham uns aus Kneipen rausgeschmissen, auf den Straßen angespuckt, beschimpft und sind hintergerannt, also du hast wirklich nur Trouble gehabt. Auf der Arbeit bist du rausgeflogen oder hast gar keine mehr gekriegt (…)“ (S. 8).

Mit seinen Eltern wohnte er in einer Hochhaussiedlung, in der es keine Freizeit- oder Kommunikationsangebote gab und eine hohe Jugendkriminalität vorherrschte. Baumann über diese Zeit in der Siedlung: „Die Vereinzelung war schon ziemlich groß, es war echt ne Leistung, die Sache durchzuhalten, du hast nur Schwierigkeiten gehabt, och selbst unter Jugendlichen noch (…)“ (S. 10).

Über seine Eltern oder deren Erziehungsmethoden gibt er nur indirekt Hinweise:
Die Studenten hatten damals ziemliche Schwierigkeiten sich gegen Bullen zu wehren, einfach von ihren Erziehungsgeschichten her. Die habe ich nicht gehabt, ich habe immer bei Demonstrationen zurückgehauen, wenn sie mich angefasst haben, darum bin ich auch nie verhaftet worden auf `ner Demo“ (S. 21).
An einer anderen Stelle schreibt er darüber, dass seine Gruppe proletarische bestimmt war, nur wenige Mitglieder waren Studenten. Dem gegenüber stand die RAF, die nur wenige Arbeiter als Mitglieder hatte. „Das Problem der Gewalt ist verschieden gehandhabt worden. (…) Ein Intellektueller zieht den Moment, wo er Gewalt anwendet, aus einer Abstraktion, weil er sagt, ich mache Revolution wegen des Imperialismus oder aus anderen theoretischen Beweggründen. Davon leitet er den Anspruch ab, dass er Gewalt einsetzen kann, den anderen gegenüber. (…) Wir haben mit der Gewalt von Kindesbeinen an gelebt, das hat eine materielle Wurzel. Wenn Zahltag ist, der Alte kommt besoffen nach Hause und verprügelt erst mal deine Alte, das sind doch die Geschichten. In der Schule, da keilst du dich, sich mit Fäusten durchzusetzen, das ist für dich eine ganz normale Sache, du keilst dich auf der Arbeitsstelle, du keilst dich in Kneipen, du hast dazu ein gesundes Verhältnis. Für dich ist Gewalt eine ganz andere Sache, die du ganz leicht abwickeln kannst. Da war auch immer der Sprung zwischen der RAF und uns, in der Entstehung der Gewalt, wo sie herkommt“ (S. 92f).

Auch wenn Michael Baumann hier nicht direkt „ich“ schreibt, „ich habe das so erlebt“, so wird in diesen oben zitierten Zeilen doch überdeutlich, das bei ihm Zuhause und in seiner Umgebung Gewalt Alltag war. Insofern reiht sich auch dieser Terrorist bzgl. seiner Sozialisation ein in die Reihe der Linksterroristen, die ich bisher hier im Blog analysiert habe.

Ergänzend muss noch erwähnt werden, dass Baumanns Vater ein Nazi war (Welt-Online, 21. Juli 2016): Der charismatische Proletarier des Terrors. Von Sven Felix Kellerhoff) Dies traf sicher auf viele junge Leute der 68er Generation zu. Gepaart mit seinen deutlichen Andeutungen über die destruktiven Verhältnisse zu Hause, macht dieser NS-Hintergrund seines Vaters das Bild noch einmal mehr rund. Dass gerade auch viele NS-Täter nach dem Krieg auch zu Hause weiter Terror und Gewalt verbreitet haben, ist nachweisbar keine Seltenheit.

Samstag, 12. Oktober 2019

Terror in Halle: Stephan Balliet


Über den Täter Stephan Balliet habe ich mir natürlich schon meine Gedanken gemacht. Wir werden sehen, was zukünftig über seine Kindheit und Sozialisation zu Tage gebracht werden wird.

Seine Taten an sich zeigen, dass es im Grunde gar nicht um Ideologie ging. Ideologie ist nur der Außenanstrich oder der Zündfunke. Nachdem er keinen Zugang zur Synagoge fand, brachte er halt eine zufällig vorbeikommende Passantin um. Er war auf "Sendung" (per Livestream) und es gab kein zurück mehr. Menschen sollten sterben. Gelingt dies bei dem einen Ziel nicht, dann halt beim nächsten oder übernächsten (in dem Fall dann der Dönerladen). Noch deutlicher kann man eigentlich nicht zeigen, dass es um einen tiefen, extremen Hass geht, der dem Außen demonstriert werden soll. Und das gilt auch nach innen, denn Barriet musste damit rechnen, dass er erschossen wird. Der Selbsthass ist der Kern jeder solchen Tat.

Alle weiteren Gedanken und Kommentare kann ich mir sparen, da der Kinderarzt und Autor Renz-Polster am 11.10.2019 einen sehr guten Blogbeitrag zu dem Fall veröffentlicht hat: Halle: Was wir von einem ”Loser” lernen können.  Er zitiert dabei auch aus meinem Blog und meinem Buch.