In dem Buch „Peter der Grosse und seine Zeit“ von dem Historiker Robert Massie fand ich aktuell einige wirklich sehr eindrucksvolle, erschreckende und interessante Passagen über die häusliche Welt und die Rolle von Frauen in der russischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts. Den Bezug zum heutigen Russland kommentiere ich im Schlussteil.
In der damaligen Vorstellung „wurden Frauen als naive, hilflose, nicht übermäßig intelligente Wesen angesehen, ohne moralischen Verantwortungssinn, mit leidenschaftlichem Hang zur Promiskuität. Die puritanische Vorstellung, dass schon in jedem kleinen Mädchen das Böse lauerte, beeinflusste die russischen Menschen bereits seit ihrer Kindheit.“ (Massie 1982, S. 36)
In besser gestellten Familien durften Kinder verschiedenen Geschlechts niemals miteinander spielen. Die heranwachsenden Töchter hielt man hinter Schloss und Riegel und „unterrichtete sie im Gebet, in Gehorsam und in Handarbeiten“ (ebd. S. 36).
„Gewöhnlich wurde ein Mädchen schon in der frühen Pubertät einem Mann versprochen, den sie nie zuvor gesehen hatte. (…) Wenn sich alle einig waren, wurde die junge Tochter, das Gesicht hinter einem Schleier aus Leinen versteckt, vom Vater dem zukünftigen Ehemann vorgestellt. Der Vater nahm dann eine kleine Peitsche, schlug seiner Tochter damit leicht auf den Rücken und erklärte: `Sieh, du Liebling unter den Töchtern, dieser letzte Schlag gemahnt dich an die väterliche Gewalt, unter deren Zucht du bisher gelebt hast, jetzt wirst du aus meiner Hand entlassen; bedenke, dass du nicht so sehr der Gewalt entronnen als in eine andere übergegangen bist. Wenn du deinem Gatten nicht den Willen tust, wie du es schuldig bist, wird er es dich statt meiner merken lassen.` Daraufhin übergab der Vater dem Bräutigam die Peitsche, der, entsprechend dem Brauch, äußerte, `dass er die Peitsche nicht für nötig erachte`. Er nahm sie aber gleichwohl als ein Geschenk seines Schwiegervaters an und band sie sich an seinem Lederriemen fest“ (ebd. S. 37).
Danach folgten die Hochzeitszeremonien. „Später, während die Gäste sich zur Tafel begaben, gingen die Jungverheirateten sogleich ins Bett. Zwei Stunden standen ihnen zur Verfügung, dann wurden die Türen des Hochzeitszimmers aufgerissen, und die Gäste scharrten sich um das Paar, um zu erfahren, ob der Ehemann die ihm Anvertraute noch unberührt vorgefunden hatte“ (ebd. S. 37).
Die junge Frau besaß keinerlei Vorrechte. Zu ihren Aufgaben gehörte es, sich um das Haus zu kümmern, Kinder zu gebären und für ihren Mann zu sorgen. „Wenn der Mann mit seiner Frau nicht zufrieden war, hatte er die Möglichkeit, sie zu züchtigen. Wenn nur eine leichte Strafe notwendig war, konnte er sie schlagen. Der Domostroi, der Kodex für die Haushaltsführung (…), diente den Oberhäuptern der russischen Familien als Leitfaden für die verschiedenen häuslichen Angelegenheiten, wie dem Konservieren von Pilzen bis hin zur Züchtigung von Ehefrauen. In bezug auf letzteres empfahl er, `ungehorsame Frauen streng, jedoch nicht zornerfüllt auszupeitschen`. Sogar eine gute Frau sollte von ihrem Mann belehrt werden, `indem er von Zeit zu Zeit die Peitsche gebraucht, wobei er aber freundlich bleibt, niemanden anderen zusehen lässt, vorsichtig vorgeht und Fausthiebe vermeidet, welche blaue Flecken verursachen`. In den unteren Gesellschaftsschichten pflegten russische Männer ihre Frauen auch bei den geringsten Anlässen zu schlagen. `Einige von diesen Barbaren hängen ihre Frauen an den Haaren auf und peitschen sie ganz nackt`, schrieb Dr. Collins. Manchmal starben die Frauen an den Folgen der Züchtigungen; dann waren die Männer frei und konnten wieder heiraten“ (ebd. S. 38).
Der Autor beschreibt auch, dass manche Frauen zurückschlugen und ihre Männer umbrachten. Das sei aber selten vorgekommen, weil die Strafen für die Frauen sehr grausam waren: Sie wurden bis zum Hals in die Erde eingegraben und gingen langsam und jämmerlich zugrunde.
Der Ehemann durfte dagegen nach der Tötung seiner Frau wie beschrieben neu heiraten und sein Leben leben. Die Kirche gestatte dem Mann insgesamt drei Eheschließungen. Eine weitere Möglichkeit, sich seiner Ehefrau zu entledigen, war, sie in ein Kloster zu stecken. Für die Außenwelt galt sie dann als „tot“, der Mann durfte erneut heiraten.
„Die gesellschaftliche Verachtung der Frauen hatte grausame Folgen für die russischen Männer des 17. Jahrhundert. Ein echtes Familienleben gab es nicht, das intellektuelle Leben stagnierte, die rohesten Sitten herrschten vor, und die Männer fanden nur Ablenkung im Alkohol.“ (ebd. S. 39).
Am meisten jedoch, das möchte ich hier diesem Zitat anmerken, hatten die Frauen zu leiden und mit ihnen die Kinder, die all diese Rohheiten von Beginn an miterleben mussten. Aus diesen Kindern wurden dann die Erwachsenen, die die "Traditionen" fortführten. Man kann auch nicht erwarten, dass sich aus furchtbar missbrauchten, unterworfenen und gedemütigten Mädchen/Frauen gute Mütter entwickeln. Als Mütter hatten und haben Frauen stets Macht über Kinder. Traumatisierte Mütter werden auf die eine oder andere Art mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch zu einer Belastung oder sogar zu einer Gefahr für die eigenen Kinder, gerade auch in einer Zeit wie dem 17. Jahrhundert.
Geschichte ist nicht einfach nur Geschichte. Sie wirkt fort (Stichwort auch „transgenerationales Trauma“). Nun ist es sicherlich so, dass im 17. Jahrhundert auch in Europa raue Sitten herrschten. Allerdings spricht einiges dafür, dass Russland rückständiger war und sich Fortschritt langsamer vollzog: Z.B. herrschte die Leibeigenschaft sehr viel länger in Russland vor, ebenso die hohen Raten von Analphabeten. Das restliche Europa entwickelte sich dagegen schneller: "Etwas mehr als die Hälfte der Bauern waren Leibeigene. Ihre Eigentümer, die Grundherren, gehörten gewöhnlich dem Adel an. Zu einer Zeit, da die Leibeigenschaft nahezu überall in Westeuropa verschwunden war, um die Mitte des 17. Jahrhunderts, hatte man sie in Russland gesetzlich festgeschrieben" (de Madariaga 2006, S. 25).
Noch im Jahr 1858 lebten ca. 40 % der Russen als Leibeigene. Sie wurden am 19.02.1861 durch die Aufhebung der Leibeigenschaft in die Freiheit entlassen (d'Encausse 1998, S, 18).
In einer parlamentarischen Anfrage (europäisches Parlament) vom 2. März 2017 heißt es:
„Präsident Putin hat das Gesetz über häusliche Gewalt erlassen, mit dem häusliche Gewalt in Russland entkriminalisiert wird. Ungeachtet der von den russischen Gesetzgebern vorgebrachten juristischen Argumenten für eine Angleichung von Strafen sind wir der Auffassung, dass in diesem Fall von einer Angleichung nach unten das Signal einer toleranten Haltung gegenüber der Misshandlung von und Gewalt gegen Frauen und Kinder ausgeht. In Russland werden jedes Jahr 14 000 Frauen von ihren Partnern getötet, und die Zahl der Straftaten in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt ist in den vergangenen Jahren weiter angestiegen.“
Im Magazin „AMNESTIE!“ vom Februar 2006 (herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion) wird unter dem Titel "Häusliche Gewalt. «Privatsache» Auch in Russland" formuliert. „Anlässlich einer Meinungsumfrage im Jahr 2003 gaben rund 40 Prozent der männlichen und weiblichen Befragten an, dass Schläge durch den Ehemann je nach den Umständen gerechtfertigt seien. Die Mehrheit betrachtete erzwungenen ehelichen Sexualverkehr nicht als Straftat. (…) «Gewalt ist unser Schicksal», davon sind viele Frauen in Russland überzeugt. Und der Staat unternimmt kaum etwas, um das zu ändern. In der Russischen Föderation gibt es kein Gesetz gegen Gewalt in der Familie, sie wird als «private Angelegenheit» betrachtet. (…). 70 Prozent der Frauen in Russland erleben laut einer Studie mindestens einmal in ihrer Ehe Gewalt.“
Es ist für mich ganz und gar deutlich, dass das Hier und Jetzt in Russland mit seiner grausamen (unverarbeiteten) Vergangenheit in Verbindung steht. Das meine ich natürlich in Bezug auf Gewalt innerhalb von Familien, aber auch in Bezug auf politische Gewalt und Krieg. Eine Gesellschaft, die seit Jahrhunderten in ihren kleinsten Einheiten (den Familien) Terror, Gewalt, Gehorsam und Unterwerfung gewohnt ist, ist auch anfälliger für blinden Gehorsam im politischen Raum, für Mitläufertum, Kriegsbegeisterung, Identifikationen mit starken Führern, Gleichgültigkeit und Täterschaft. Insofern betone ich hier erneut: Die Probleme in Russland sind nur langfristig wirklich zu lösen, indem die Familie und vor allem auch Kindheit Stück für Stück befriedet und demokratisiert wird.
Leider ist die Realität so, dass die unzähligen russischen Soldaten, die aktuell für Gewalt, Terror und Gräueltaten verantwortlich sind, die Kriegsgewalt auch wieder mit nach Hause tragen werden. Traumatisierte Soldaten sind keine guten Väter und Ehemänner! Noch dreht sich also der Kreislauf der Gewalt in Russland. Das ist tragisch, aber nicht unveränderbar.
Quellen:
d'Encausse, H. C. (1998). Nikolaus II.: Das Drama des letzten Zaren. Paul Zsolnay Verlag, Wien.
de Madariaga, I. (2006). Katharina die Grosse. Das Leben der russischen Kaiserin. Hugendubel Verlag, Kreuzlingen / München.
Massie, R. (1982). Peter der Grosse und seine Zeit. Athenäum Verlag, Königstein/Ts.