Heute jährt sich die terroristische Mordserie von Anders Behring Breivik zum 10. Mal. Der Fall Breivik wird mich bzgl. meiner Arbeit an dem Thema wohl nie mehr loslassen.
Sein Fall beinhaltet im Grunde alles, was die Analyse der Ursachen von Gewalt so schwierig macht. Gleichzeitig zeigt der Fall in einer unvergleichbaren Klarheit auf, wo die Ursachen liegen. Deswegen bezeichne ich diesen Fall stets als Lehrstück für die Gewalt-/Extremismusforschung. Die genannten Widersprüche sind schnell erklärt:
Der Fall zeigt zunächst klassische Schwierigkeiten auf, wenn es um die tieferen Ursachen geht. Breivik selbst und seine Familie schwiegen sich über seine Kindheit aus. Breivik behauptete gar in seinem Manifest, dass es überhaupt keine Probleme in seiner Kindheit gab und dass er eher zu viele Freiheiten hatte. Sein seit dem Säuglingsalter von ihm getrennt lebender Vater konnte nicht viel berichten, weil er schlicht nicht da war. Sprich wir wüssten heute vermutlich nur, dass Anders ein Trennungskind war, wenn da nicht ein für so einen Fall wohl einmaliger, besonderer Umstand gewesen wäre. Denn der damals 4-Jährige Anders wurde zusammen mit seiner alleinerziehenden Mutter für 3 Wochen in einer psychiatrischen Einrichtung (SSBU) aufgenommen und analysiert. Wann hat es so einen Umstand je bei einem Massenmörder gegeben?
Das Ergebnis der psychiatrischen Untersuchungsreihe war eindeutig: Dieses Kind erlebte einen reinen Alptraum an Gewalt, Vernachlässigung und emotionaler Misshandlung durch und an Hass-Liebe erinnernde Bindung an seine Mutter, die, dem Gutachten nach, vermutlich an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung litt und selbst als Kind schwerst belastet wurde. „In einem Moment konnte sie sanft und nett zu ihm sein, im nächsten schrie sie ihn an. Ihre Abweisung fiel bisweilen brutal aus. Die Ärzte hörten sie schreien: `Ich wünschte, Du wärst tot!`“, schreibt Åsne Seierstad über Anders Mutter in dem Buch „Einer von uns: Die Geschichte eines Massenmörders“. Was gibt es schlimmeres, als wenn die eigene Mutter, die einen geboren hat, einem sagt, sie wünsche, man wäre tot? Für ein Kind, das so etwas einmal gehört hat (und Anders hat dies bestimmt nicht nur einmal zu hören bekommen, wenn sich die Mutter schon in einer Kontrollsituation wie in der Psychiatrie derart offen auslässt), stirbt etwas in dieser Welt. Und dies ist nur eine von vielen belegten Verhaltensweisen gegenüber dem Kind. Einen Ausgleich gab es nicht, denn Anders war seiner alleinerziehenden Mutter komplett ausgeliefert.
Irgendwann, wenn zu viel zusammenkommt, hilft es Kindern nur noch, innerlich abzuschalten und das „Licht“ auszustellen. Wer nicht mehr fühlt, kann auch nicht mehr verletzt werden und in der Folge irgendwie im Alltag funktionieren und überleben: allerdings als Gefühlszombie (was ich nicht selten so oder so ähnlich durch Menschen gehört und von ihnen gelesen habe, die schwer in der Kindheit misshandelt wurden).
Das psychiatrische Team forderte nach der Begutachtung die umgehende Trennung von Mutter und Sohn. Eine Pflegefamilie wurde als Option eingebracht. Auch erhielt der Vater das Gutachten und versuchte daraufhin das Sorgerecht zu erstreiten, scheiterte aber. (Nach den Taten ihres Sohnes wurde die Mutter befragt und gab falsche Angaben zu den damaligen Abläufen. Sie sagte u.a. aus, dass es keinerlei Befürchtungen bzgl. Anders Entwicklungen als Kind gab und dass die Begutachtung des SSBU ein Resultat des Sorgerechtsstreites mit ihrem EX-Mann war, obwohl es genau umgekehrt war.) Das Kind blieb bei der Mutter, bei der Anders auch noch bis vor seinen Taten gelebt hatte, weil er beruflich gescheitert war. Was wäre gewesen, wenn die Trennung zwischen Mutter und Sohn geglückt wäre? Diese Frage habe ich mir oft gestellt. Nun ist sein Vater laut Medienberichten nicht gerade ein herausragend empathischer Mensch, aber die Vermutung liegt nahe, dass dem Kind einiges an belastenden Erfahrungen erspart geblieben wäre, wenn es eine Rettung aus dieser destruktiven Mutterbeziehung gegeben hätte. Vielleicht hätte der wohlhabende und über die Erlebnisse seines Sohnes informierte Vater auch eine Psychotherapie für seinen Sohn möglich gemacht? All dies bleibt Spekulation, die Dinge liefen anders.
Wie viele Massenmörder, Terroristen und Diktatoren gab und gibt es, über die wir ebenfalls keine Informationen über deren Kindheit erhalten? Manchmal gibt es sogar die gegenteilige Lage, wenn Nachbarn, die frühere Lehrerin oder Verwandte berichten, dass dies doch behütete Kinder gewesen waren. Viele Beobachter stehen dann mit offenem Mund vor den Taten der Täter und fragen ungläubig, wie ein solch normaler Mensch zu seinen Taten fähig sein konnte.
Der Fall Breivik mahnt uns FÜR IMMER zur Vorsicht, zum Hinterfragen und zur Skepsis. Kindesmisshandlung umgibt der Mantel des Schweigens, des Verdrängens, des Ausblendens, der Scham, der Ausblendung von Realitäten und der Ohnmacht. Genau deswegen ist das Dunkelfeld so groß, weil viele Menschen gar nicht wahrnehmen können, was hinter den häuslichen Fassaden passiert. Oftmals können die Betroffenen selbst nicht wahrnehmen, was sie erleiden, was ein Schutzmechanismus ist. Dabei gibt es in jedem Ort, in jeder noch so kleinen Gemeinde Kinder, die auch heute noch von ihren Eltern geradezu gefoltert werden. Diese Kinder gehen zur Schule, sie lächeln, sie lassen sich nichts anmerken, aber es gibt sie. Anders Behring Breivik war eines von ihnen.
Neben der Schwierigkeit, die Wahrheit über die Kindheitshintergründe herauszubekommen, gibt es die nächste Hürde: Auch die Gesellschaft will diese Zusammenhänge oftmals nicht wahrhaben und wahrnehmen. Politisch Aktive (Intellektuelle, Antifaschisten, Linke oder wie auch immer man diese „Stempel“ für Menschen nennen mag) treibt die Sorge um, dass der politische Rahmen, der politische Nährboden aus dem Blick geraten könnte, wenn solche Taten durch Kindheitshintergründe erklärt würden. Dabei verstehe ich deren Sorge im Grunde nicht, denn der Rahmen bleibt weiter ein wichtiger Teil der Ursachenkette. Das Gleiche gilt für Feministinnen. Toxische Männlichkeitsnormen und kulturelle „Angebote“ für Männer, mit ihren Ohnmachtserfahrungen umzugehen und sie ggf. in eine mörderische Machtdemonstration umzuwandeln, bleiben weiter bestehen und zu kritisieren, auch wenn man Kindheitshintergründe als gewichtig benennt.
Dazu kommen die ganzen Menschen, die selbst als Kind misshandelt wurden. Ihr eigenes Leben bieten sie als Argument dafür dar, dass Breiviks Kindheit ja wohl kaum mit der Tat in einen Zusammenhang gebracht werden könnte, weil sie – wie so viele andere Menschen – ja nun mal nicht massenmordend durch die Welt laufen würden.
„Im Kopf des Massenmörders“ heißt ein Artikel von Ulrich Sonnenberg. Die destruktive Kindheit von Breivik bespricht der Autor im Ansatz, aber deutlich. Und er schreibt: „Allerdings ist die Welt voll von schwierigen Kindheiten – einige gehen unter, andere schaffen es, niemand tötet deshalb eigenhändig neunundsechzig Menschen nacheinander. Die Welt ist voller Menschen mit narzisstischen Zügen – ich selbst bin einer von ihnen –, und sie ist voller Menschen, die keinerlei Empathie mit anderen empfinden. Und die Welt ist voller Menschen, die Breiviks extreme politische Ansichten teilen, ohne dass sie aus diesem Grund Kinder und Jugendliche umbringen. Breiviks Kindheit erklärt nichts, sein Charakter erklärt nichts, seine politischen Standpunkte erklären nichts.“
Im Artikelverlauf hebt der Autor dann zwei Fragen hervor: „Wie war es möglich? Wie konnte es geschehen?“ Die Antworten darauf lagen vor seinen Augen, aber er wollte nicht zugreifen, er wollte sie nicht wahrhaben. Wer Breiviks extrem traumatische Kindheit ausblendet, wird niemals Antworten bekommen! Davon bin ich zutiefst überzeugt und dies gilt auch für andere Täter seines Kalibers.
Seine Taten waren nur möglich, sie konnten nur geschehen, weil hier ein Mensch derart als Kind malträtiert wurde, dass er nichts mehr fühlt. Wer innerlich (emotional) tot ist, der kann anderen Menschen auch viel antun. „Kann“ nicht „muss“! Das ist genau der feine Unterschied. Noch eine Frage stelle ich mir – neben der Frage, was passiert wäre, hätte man diesem Kind frühzeitig geholfen - stets bei solchen Fällen: Wäre ein als Kind geliebter, gewaltfrei und weitgehend unbelastet aufgewachsener Mensch jemals zu solchen Taten fähig? Meine Antwort: Nein! Genau darum geht es. Es geht nicht darum, auf all die Menschen zu schauen, die solche Taten NICHT begehen, obwohl sie auf Grund ihrer traumatischen Erlebnisse und von ihrem inneren Hass her dafür prädestiniert wären. Es geht bei solchen Fällen um die simple Frage, was wäre, wenn diese traumatischen Erfahrungen gar nicht gemacht worden wären?
Seit fast 20 Jahren befasse ich mich mit den Ursachen von Gewalt. Ich fand etliche Studien und Biografien, die sich mit Tätern und deren Kindheit befasst haben. Was Autoren wie Ulrich Sonnenberg und viele Andere ausblenden ist, dass es trotz der Schwierigkeiten bei der Aufdeckung von Kindheitshintergründen sehr viel empirisches Material gibt, das ich u.a. in meinem Blog und in meinem Buch zusammengetragen habe.
Der Neurobiologe und Hirnforscher Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth sagte bereits 2011 über Breivik: „Über seine Jugend weiß ich nichts, aber ich bin sicher, dass sich bei genauer Analyse Faktoren der genannten Art finden.“ (Wie Recht er hatte!) Mit „genannter Art“ meint er genetische Vorbelastungen gepaart mit frühkindlichen Traumatisierungen durch Misshandlung, sexuellen Missbrauch und Vernachlässigung. Das ist etwas, was viele Experten, die sich mit Kindheit und Gewalt befassen, heute sagen würden. Unter „genannter Art“ würde ich ergänzend auch immer die Kategorie Geschlecht verstehen, denn es sind vorzugsweise Männer, die solche und ähnliche Taten begehen. Frauen begnügen sich i.d.R. eher damit, etwas provokant formuliert, z.B. ihren Nachwuchs zu misshandeln (oder sich selbst zu verletzten), um eigene Frustrationen und Kindheitserfahrungen im Außen wiederaufzuführen (so wie es auch die Mutter von Anders tat). Sie suchen nicht durch Massenmorde die öffentliche Bühne, um zu zeigen, wie „großartig“ und „mächtig“ sie doch sind, um ihr zerrissenes Ich aufzuwerten. Solche Gewaltakte sind und bleiben i.d.R. Männersache und das muss auch benannt werden.
Ulrich Sonnenberg (sorry, aber sein Zitat bot sich nun Mal als Vorlage an…) wirft, wie so viele andere auch, keinen umfassenden Blick auf die Forschungslage. Zusammenhänge zwischen destruktiven Kindheitserfahrungen und Gewaltverhalten/Kriminalität sind in der wissenschaftlichen Literatur mittlerweile derart deutlich belegt, dass es objektiv überhaupt keinen Sinn macht, diese zu negieren.
Wenn ich an die Taten von Anders Behring Breivik denke, wenn ich der Opfer gedenke, wie heute zum 10. Jahrestag, dann denke ich immer auch an das Kind Anders (nicht an den erwachsenen Täter, der mir vom tiefsten Herzen her komplett egal ist!). Dem Gedenken an das verlorene, misshandelte Kind, das er war, sind wir, davon bin ich überzeugt, seinen Opfern schuldig. Das Gedenken an dieses Kind entschuldigt nichts! Dieses Gedenken steht im Zeichen der Prävention. Denn was sonst sind wir den Opfern schuldig, wenn nicht, dass wir alles Menschenmögliche tun, um solche und ähnliche Taten zukünftig zu verhindern?
(Der Autor Aage Borchgrevink in seinem Buch "A Norwegian Tragedy: Anders Behring Breivik and the Massacre on Utøya" über seine veränderte Sichtweise auf das Massaker von Utøya, nachdem er die Ereignisse und vor allem auch die traumatische Kindheit von Anders Breivik umfassend analysiert hat.)