Donnerstag, 28. April 2022

Die grausame und rohe russische Familie des 17. Jahrhunderts und der Bezug zur heutigen Zeit

In dem Buch „Peter der Grosse und seine Zeitvon dem Historiker Robert Massie fand ich aktuell einige wirklich sehr eindrucksvolle, erschreckende und interessante Passagen über die häusliche Welt und die Rolle von Frauen in der russischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts. Den Bezug zum heutigen Russland kommentiere ich im Schlussteil. 

In der damaligen Vorstellung „wurden Frauen als naive, hilflose, nicht übermäßig intelligente Wesen angesehen, ohne moralischen Verantwortungssinn, mit leidenschaftlichem Hang zur Promiskuität. Die puritanische Vorstellung, dass schon in jedem kleinen Mädchen das Böse lauerte, beeinflusste die russischen Menschen bereits seit ihrer Kindheit.“ (Massie 1982, S. 36)

In besser gestellten Familien durften Kinder verschiedenen Geschlechts niemals miteinander spielen. Die heranwachsenden Töchter hielt man hinter Schloss und Riegel und „unterrichtete sie im Gebet, in Gehorsam und in Handarbeiten“ (ebd. S. 36). 

Gewöhnlich wurde ein Mädchen schon in der frühen Pubertät einem Mann versprochen, den sie nie zuvor gesehen hatte. (…) Wenn sich alle einig waren, wurde die junge Tochter, das Gesicht hinter einem Schleier aus Leinen versteckt, vom Vater dem zukünftigen Ehemann vorgestellt. Der Vater nahm dann eine kleine Peitsche, schlug seiner Tochter damit leicht auf den Rücken und erklärte: `Sieh, du Liebling unter den Töchtern, dieser letzte Schlag gemahnt dich an die väterliche Gewalt, unter deren Zucht du bisher gelebt hast, jetzt wirst du aus meiner Hand entlassen; bedenke, dass du nicht so sehr der Gewalt entronnen als in eine andere übergegangen bist. Wenn du deinem Gatten nicht den Willen tust, wie du es schuldig bist, wird er es dich statt meiner merken lassen.` Daraufhin übergab der Vater dem Bräutigam die Peitsche, der, entsprechend dem Brauch, äußerte, `dass er die Peitsche nicht für nötig erachte`. Er nahm sie aber gleichwohl als ein Geschenk seines Schwiegervaters an und band sie sich an seinem Lederriemen fest“ (ebd. S. 37).

Danach folgten die Hochzeitszeremonien. „Später, während die Gäste sich zur Tafel begaben, gingen die Jungverheirateten sogleich ins Bett. Zwei Stunden standen ihnen zur Verfügung, dann wurden die Türen des Hochzeitszimmers aufgerissen, und die Gäste scharrten sich um das Paar, um zu erfahren, ob der Ehemann die ihm Anvertraute noch unberührt vorgefunden hatte“ (ebd. S. 37). 

Die junge Frau besaß keinerlei Vorrechte. Zu ihren Aufgaben gehörte es, sich um das Haus zu kümmern, Kinder zu gebären und für ihren Mann zu sorgen. „Wenn der Mann mit seiner Frau nicht zufrieden war, hatte er die Möglichkeit, sie zu züchtigen. Wenn nur eine leichte Strafe notwendig war, konnte er sie schlagen. Der Domostroi, der Kodex für die Haushaltsführung (…), diente den Oberhäuptern der russischen Familien als Leitfaden für die verschiedenen häuslichen Angelegenheiten, wie dem Konservieren von Pilzen bis hin zur Züchtigung von Ehefrauen. In bezug auf letzteres empfahl er, `ungehorsame Frauen streng, jedoch nicht zornerfüllt auszupeitschen`. Sogar eine gute Frau sollte von ihrem Mann belehrt werden, `indem er von Zeit zu Zeit die Peitsche gebraucht, wobei  er aber freundlich bleibt, niemanden anderen zusehen lässt, vorsichtig vorgeht und Fausthiebe vermeidet, welche blaue Flecken verursachen`. In den unteren Gesellschaftsschichten pflegten russische Männer ihre Frauen auch bei den geringsten Anlässen zu schlagen. `Einige von diesen Barbaren hängen ihre Frauen an den Haaren auf und peitschen sie ganz nackt`, schrieb Dr. Collins. Manchmal starben die Frauen an den Folgen der Züchtigungen; dann waren die Männer frei und konnten wieder heiraten“ (ebd. S. 38).
Der Autor beschreibt auch, dass manche Frauen zurückschlugen und ihre Männer umbrachten. Das sei aber selten vorgekommen, weil die Strafen für die Frauen sehr grausam waren: Sie wurden bis zum Hals in die Erde eingegraben und gingen langsam und jämmerlich zugrunde.  

Der Ehemann durfte dagegen nach der Tötung seiner Frau wie beschrieben neu heiraten und sein Leben leben. Die Kirche gestatte dem Mann insgesamt drei Eheschließungen. Eine weitere Möglichkeit, sich seiner Ehefrau zu entledigen, war, sie in ein Kloster zu stecken. Für die Außenwelt galt sie dann als „tot“, der Mann durfte erneut heiraten. 

Die gesellschaftliche Verachtung der Frauen hatte grausame Folgen für die russischen Männer des 17. Jahrhundert. Ein echtes Familienleben gab es nicht, das intellektuelle Leben stagnierte, die rohesten Sitten herrschten vor, und die Männer fanden nur Ablenkung im Alkohol.“ (ebd. S. 39). 

Am meisten jedoch, das möchte ich hier diesem Zitat anmerken, hatten die Frauen zu leiden und mit ihnen die Kinder, die all diese Rohheiten von Beginn an miterleben mussten. Aus diesen Kindern wurden dann die Erwachsenen, die die "Traditionen" fortführten. Man kann auch nicht erwarten, dass sich aus furchtbar missbrauchten, unterworfenen und gedemütigten Mädchen/Frauen gute Mütter entwickeln. Als Mütter hatten und haben Frauen stets Macht über Kinder. Traumatisierte Mütter werden auf die eine oder andere Art mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch zu einer Belastung oder sogar zu einer Gefahr für die eigenen Kinder, gerade auch in einer Zeit wie dem 17. Jahrhundert. 

Geschichte ist nicht einfach nur Geschichte. Sie wirkt fort (Stichwort auch „transgenerationales Trauma“). Nun ist es sicherlich so, dass im 17. Jahrhundert auch in Europa raue Sitten herrschten. Allerdings spricht einiges dafür, dass Russland rückständiger war und sich Fortschritt langsamer vollzog: Z.B. herrschte die Leibeigenschaft sehr viel länger in Russland vor, ebenso die hohen Raten von Analphabeten. Das restliche Europa entwickelte sich dagegen schneller: "Etwas mehr als die Hälfte der Bauern waren Leibeigene. Ihre Eigentümer, die Grundherren, gehörten gewöhnlich dem Adel an. Zu einer Zeit, da die Leibeigenschaft nahezu überall in Westeuropa verschwunden war, um die Mitte des 17. Jahrhunderts, hatte man sie in Russland gesetzlich festgeschrieben" (de Madariaga 2006, S. 25).
Noch im Jahr 1858 lebten ca. 40 % der Russen als Leibeigene. Sie wurden am 19.02.1861 durch die Aufhebung der Leibeigenschaft in die Freiheit entlassen  (d'Encausse 1998, S, 18). 

In einer parlamentarischen Anfrage (europäisches Parlament) vom 2. März 2017 heißt es:
Präsident Putin hat das Gesetz über häusliche Gewalt erlassen, mit dem häusliche Gewalt in Russland entkriminalisiert wird. Ungeachtet der von den russischen Gesetzgebern vorgebrachten juristischen Argumenten für eine Angleichung von Strafen sind wir der Auffassung, dass in diesem Fall von einer Angleichung nach unten das Signal einer toleranten Haltung gegenüber der Misshandlung von und Gewalt gegen Frauen und Kinder ausgeht. In Russland werden jedes Jahr 14 000 Frauen von ihren Partnern getötet, und die Zahl der Straftaten in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt ist in den vergangenen Jahren weiter angestiegen.“ 

Im Magazin „AMNESTIE!“ vom Februar 2006 (herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion) wird unter dem Titel "Häusliche Gewalt. «Privatsache» Auch in Russland" formuliert. „Anlässlich einer Meinungsumfrage im Jahr 2003 gaben rund 40 Prozent der männlichen und weiblichen Befragten an, dass Schläge durch den Ehemann je nach den Umständen gerechtfertigt seien. Die Mehrheit betrachtete erzwungenen ehelichen Sexualverkehr nicht als Straftat. (…) «Gewalt ist unser Schicksal», davon sind viele Frauen in Russland überzeugt. Und der Staat unternimmt kaum etwas, um das zu ändern. In der Russischen Föderation gibt es kein Gesetz gegen Gewalt in der Familie, sie wird als «private Angelegenheit» betrachtet. (…). 70 Prozent der Frauen in Russland erleben laut einer Studie mindestens einmal in ihrer Ehe Gewalt.“ 

Es ist für mich ganz und gar deutlich, dass das Hier und Jetzt in Russland mit seiner grausamen (unverarbeiteten) Vergangenheit in Verbindung steht. Das meine ich natürlich in Bezug auf Gewalt innerhalb von Familien, aber auch in Bezug auf politische Gewalt und Krieg. Eine Gesellschaft, die seit Jahrhunderten in ihren kleinsten Einheiten (den Familien) Terror, Gewalt, Gehorsam und Unterwerfung gewohnt ist, ist auch anfälliger für blinden Gehorsam im politischen Raum, für Mitläufertum, Kriegsbegeisterung, Identifikationen mit starken Führern, Gleichgültigkeit und Täterschaft. Insofern betone ich hier erneut: Die Probleme in Russland sind nur langfristig wirklich zu lösen, indem die Familie und vor allem auch Kindheit Stück für Stück befriedet und demokratisiert wird. 

Leider ist die Realität so, dass die unzähligen russischen Soldaten, die aktuell für Gewalt, Terror und Gräueltaten verantwortlich sind, die Kriegsgewalt auch wieder mit nach Hause tragen werden. Traumatisierte Soldaten sind keine guten Väter und Ehemänner! Noch dreht sich also der Kreislauf der Gewalt in Russland. Das ist tragisch, aber nicht unveränderbar.


Quellen:

d'Encausse, H. C. (1998). Nikolaus II.: Das Drama des letzten Zaren. Paul Zsolnay Verlag, Wien. 

de Madariaga, I. (2006). Katharina die Grosse. Das Leben der russischen Kaiserin. Hugendubel Verlag, Kreuzlingen / München. 

Massie, R. (1982). Peter der Grosse und seine Zeit. Athenäum Verlag, Königstein/Ts.


siehe ergänzend auch den Blogbeitrag "Kindheit in Russland"

Dienstag, 26. April 2022

20. Jahrestag vom Amoklauf von Erfurt und mein Bekannter, der sich als 18-Jähriger umgebracht hat

Ich erinnere mich heute, am 20. Jahrestag der Amoktat von Erfurt, an einen Bekannten von mir aus der Schulzeit. Er war der feste Freund meiner damaligen besten Freundin. Über die Kindheit von Robert Steinhäuser (dem Amoktäter von Erfurt), habe ich natürlich versucht zu recherchieren, fand aber fast nichts. Offensichtlich haben die Familienmitglieder kaum Einblicke gegeben. 

Mein damaliger Bekannter hat sich umgebracht, als er ca. 18 Jahre alt war… 

Kaum jemand hätte dies vorher für möglich gehalten. Er war sehr beliebt. Er war aber auch ein eher ruhiger Mensch, der vieles mit sich ausmachte. Als er alle Tabletten geschluckt hatte, rief er noch seinen besten Freund an, unterhielt sich, wurde immer müder, nahm auf seine Art Abschied. Niemals hätte dieser Bekannte eine Amoktat verübt, er war gänzlich zu keiner Gewalt fähig. Wohl aber gegen sich selbst. 

Sein Vater war ein reicher Architekt. Sein Sohn sollte in eine ähnliche Richtung gehen, das hatte der Vater beschlossen! Mein Bekannter hatte nicht viel Spaß an der Schule und er hatte auch keine hohen Ziele. Sein Traum war es, Maurer zu werden. Für den Vater undenkbar! 

Die Eltern lebten getrennt. Über seine Mutter sprach mein Bekannter gar nicht. Sein Vater kontrollierte alles. Ein Innenarchitekt hatte das Jugendzimmer meines Bekannten eingerichtet. Wir alle fanden das „cool“. Ein solches Zimmer hatte keiner von uns. Für meinen Bekannten hatte das Zimmer keinen Wert, es war nicht seins, er hatte dort kaum etwas bestimmt und gestaltet. In seinem Zimmer wirkte mein Bekannter wie ein Fremdkörper. 

Was genau alles in dieser Familie passiert ist, vermag ich nicht zu sagen. Eines war klar: Dem Bekannten wurde die Luft zum freien Atmen genommen. 

Auf der Trauerrede sprach der Pastor die Verantwortung des Vaters sehr deutlich an. Ich nahm das damals mit gemischten Gefühlen auf. Dieser Vater hatte ein Recht darauf, sich in diesem Moment zu verabschieden und zu trauern. Im Raum stand ein Stück weit eine Anklage, vor weit über 300 Menschen. Auf der anderen Seite war dieser offene Umgang eine Wohltat, so empfanden wir alle es, weil wir wussten, wie kalt und kontrollierend dieser Vater war. 

Dieser Vater wollte seinen Sohn gewiss nicht in den Selbstmord treiben. Aber es stimmt, er hatte seinen Anteil und damit muss er leben.  

Auch die Eltern von Robert Steinhäuser wollten ganz gewiss nicht, dass ihr Sohn eine solche Tat begeht. Falls sie irgendwann die Kraft und den Willen aufbringen, wünsche ich mir mehr Klarheit und Offenheit. Wie sah die Kindheit von Robert aus? Wie war die Bindung zwischen den Familienmitgliedern? Wie war die Familienatmosphäre? 

Antworten schulden wir den Opfern und Hinterbliebenen. 


Telefonseelsorge Hotline:

0800 1110111


Freitag, 22. April 2022

Studie: Erziehungsnormen/Kindheit und rechtsextreme Einstellungen

Es ist immer wieder erstaunlich, was für „Schätze“ sich finden lassen, wenn man lange genug „gräbt“. Nachfolgende Studie habe ich kürzlich durch einen Hinweis in einem Buch gefunden. Vorher ist mir die Studie nirgends aufgefallen, entsprechend scheint sie weitgehend in der „Schublade“ der Wissenschaft/Extremismusforschung verschwunden zu sein. Dabei bringt diese Studie (ähnlich wie die Nachfolgestudie, die ich hier im Blog bereits besprochen habe) wichtige Erkenntnisse zwischen dem Zusammenhang von Kindheitserfahrungen und rechtsextremen Einstellungen:

Utzmann-Krombholz, H. (1994). Rechtsextremismus und Gewalt: Affinitäten und Resistenzen von Mädchen und jungen Frauen. Ergebnisse einer Studie. Ministerium für die Gleichstellung von Frau und Mann des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Düsseldorf. 

Zwischen dem 25.08.1993 und dem 06.10.1993 wurden repräsentativ für Nordrhein-Westfalen 1.045 deutsche Jugendliche im Alter zwischen 14 und 24 Jahren befragt. 

Erfreulich ist, dass mehr als 80 % der Befragten angaben, dass sie eine glückliche Kindheit hatten. 

Ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild, verbunden mit Ausländerfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft, fand man bei 8 bis 10 % der Jugendlichen, von diesen sind drei Viertel männlich.  

Neben dem wichtigen Einflussfaktor Geschlecht fand man auch starke Zusammenhänge zwischen destruktiven Kindheitserfahrungen und rechtsextremen Einstellungen: 

Auffallend ist die überraschend stringente Beschreibung der Kindheitserfahrungen. Danach gibt es eindeutige Zusammenhänge zwischen einer strengen Erziehung, zu der auch Schläge gehöhrten, und einem rechtsextremen Einstellungsmuster. Diese Jugendlichen hatten nach ihrem Empfinden keine glückliche Kindheit, sie fühlten sich mit ihren Problemen alleine gelassen und von ihren Eltern vernachlässigt. Die Eltern verstanden sich nicht gut, hatten keine Zeit für ihre Kinder, aber man wahrte den äußeren Rahmen, in dem man sehr viel Wert auf gute Manieren legte (…). Sie sind im hohen Maße verunsichert und haben starke Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Über ihr Leben entscheiden andere, sie selbst haben wenig Einfluss auf die Gestaltung ihres Lebens. (…). Dieses Gefühl von Ohnmacht und Orientierungslosigkeit lässt sie nach einem festen Rahmen suchen, `Zusammenhalt` ist für sie der wichtigste Wert (…) “ (S. 34f.). 

Im Anhang finden sich auch Zahlen bzgl. dem Extremwert „stimme voll und ganz zu“ (S. 111f.):

„Ich hatte eine glückliche Kindheit“: 32 % aller Befragten, 11 % der rechtsextrem Eingestellten.

„Wenn ich Probleme hatte, dann waren meine Eltern für mich da“: 35 % aller Befragten, 15 % der rechtsextrem Eingestellten.

„Meine Eltern hatten nicht viel Zeit für mich“: 10 % aller Befragten, 28 % der rechtsextrem Eingestellten.

„Meine Eltern verstanden sich ausgesprochen gut“: 23 % aller Befragten, 9 % der rechtsextrem Eingestellten.

„Ich habe mich als Kind oft einsam gefühlt“: 5 % aller Befragten, 13 % der rechtsextrem Eingestellten.

„Wenn ich etwas angestellt habe, dann gab es schon mal Ohrfeigen“: 11 % aller Befragten, 20 % der rechtsextrem Eingestellten.

„Ich wurde als Kind oft geschlagen“: 4 % aller Befragten, 10 % der rechtsextrem Eingestellten.

„Ich wurde ziemlich streng erzogen“: 9 % aller Befragten, 29 % der rechtsextrem Eingestellten.


Donnerstag, 21. April 2022

Kindheit von Zacarias Moussaoui

Zacarias Moussaoui erklärte vor Gericht, dass er eigentlich für das Terrornetzwerk al-Qaida ein Flugzeug ins Weiße Haus habe lenken sollen, allerdings kam er vorher in Haft.  Er gilt als Helfer für die islamistischen Anschläge vom 11. September 2001 in den USA und wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Über seine Kindheit habe ich bereits in meinem Buch kurz berichtet (nachfolgend der kurze Auszug). Seine in Marokko aufgewachsene Mutter heiratete seinen erheblich älteren Vater im Alter von vierzehn Jahren. Später, als die Familie in Frankreich lebte, verließ sie mit ihren Kindern ihren Mann; Zacarias war da drei Jahre alt (Auchter, T. (2012): Brennende Zeiten. Zur Psychoanalyse sozialer und politischer Konflikte. Psychosozial Verlag, Gießen, S. 236). Seine Schwestern sagten vor Gericht aus, dass Zacarias von seinem Vater misshandelt wurde. Der Vater sei Alkoholiker gewesen und habe die Familie terrorisiert (Focus-Online 2006, Arzt hält Moussaoui für paranoid). Die Mutter sei, so eine Gutachterin vor Gericht, auch während all ihrer Schwangerschaften von ihrem Ehemann misshandelt worden. Zacarias kam mehrmalig in Waisenhäusern unter (Reihnische Post-Online 2006, Moussaoui hatte angeblich schwere Kindheit). Aber auch seine Mutter war autoritär und dominant. Und sie schlug ihre Kinder (Auchter 2012, S. 237).

Nun habe ich die Zeit gefunden, eine weitere, sehr eindrucksvolle Quelle für seine Kindheit zu sichten:

"Zacarias Moussaoui, mein Bruder" von Abd Samad Moussaoui (2002, Pendo Verlag, Zürich)

Seit Jahren recherchiere ich über die Kindheiten von Extremisten, Terroristen und Gewalttätern. Dass der Bruder eines solchen Täters ein ganzes Buch schreibt, in dem ausführlich und ganz offensichtlich auch ohne Scheukappen die Familiengeschichte und destruktive Kindheitssituation beschrieben wird, ist wohl einmalig (selten schreiben Familienmitglieder von Tätern Bücher. Und dann kommt eher etwas heraus wie „Liebe ist nicht genug - Ich bin die Mutter eines Amokläufers“ von Sue Klebold, was – wie der Titel schon zeigt – eher wenig Erhellendes über die Kindheit der Täter zu Tage bringt, sondern wohl eher der Entlastung der Mutter dienen soll…).

Die Mutter (Aischa) der Brüder hatte bereits eine schwierige Kindheit. Ihr Vater starb 1953, da war Aischa sieben Jahre alt. Ihre Mutter war zu der Zeit kaum vierzig Jahre alt und hatte nun alleine fünf Kinder zu versorgen, ohne dass ihr Mann ihr Geld hinterlassen hätte (Moussaoui 2002, S. 16). Die Mutter konnte nicht alle ernähren. Aischa wurde zu einem Cousin gegeben und musste dafür dort im Haushalt helfen. „Wie ihre Geschwister auch wuchs Aischa also ohne Vater auf. Schon sehr früh dachte sie nur an eines: nichts wie weg. Als sie vierzehn Jahre alt war, lernte Aischa meinen Vater kennen, Omar Moussaoui“ (S. 17). Die Verwandten erzählten später, Aischa hätte unbedingt so früh heiraten wollen. Die Version von Aischa selbst war eine andere: „Unsere ganze Kindheit über hat Aischa uns gegenüber behauptet, sie wäre gegen ihren Willen mit vierzehn verheiratet worden. Nach der Hochzeit brachte meine Mutter nacheinander zwei Kinder zur Welt, die sehr bald starben. Als sie siebzehn war, kam Nadia auf die Welt, meine älteste Schwester“ (S. 17). Ein weiteres Mädchen folgte. Die Familie zog dann nach Frankreich. Die beiden Brüder wurden in Frankreich geboren, als die Mutter Aischa Anfang 20 war. 

Zacarias war der Jüngste. Drei Jahre nach seiner Geburt ließen sich seine Eltern scheiden. Die Mutter begründete dies mit der Gewalttätigkeit ihres Mannes (S. 19). Die Mutter zog mit den Kindern nach Mulhouse, wo sie Arbeit gefunden hatte. „Kaum waren wir in der elsässischen Stadt angekommen, steckte unsere Mutter uns ins Waisenhaus (…). Plötzlich standen wir also ohne Vater und ohne Mutter da. An diese düstere Zeit unserer Kindheit habe ich nur wenige Erinnerungen, aber sie sind furchtbar“ (S. 19). Aischa kam während dieser Zeit ca. einmal die Woche zu Besuch, aber sie nahm die Kinder nie mit zu sich.
Eines Tages nahm sie ihre Kinder dann allerdings wieder bei sich Zuhause auf. Aischa arbeitete von früh bis spät. „Zu Hause trat meine Schwester Nadia, die damals zwölf Jahre alt war, im Haushalt an ihre Stelle. Sie kaufte ein, kochte, putzte und kümmerte sich um uns. Abends machte sie uns zu essen, morgens half sie uns beim Anziehen. Und wir hatten uns still zu verhalten, sonst setzte es was“ (S. 22). Hier deuten sich also auch Körperstrafen seitens der älteren Schwester an (!) und natürlich wird die mütterliche Vernachlässigung überdeutlich

Später zog die Familie erneut um, diesmal in ein sogenanntes „Problemviertel“. Die Jungs wurden dort offensichtlich des Öfteren in Prügeleien verwickelt. Von manchen Nachbarn wurden sie außerdem rassistisch beleidigt. Die Wohnung war sehr klein, so dass sich das Leben für die Kinder vor allem draußen abspielte. „In der Wohnung war es nicht lustig. Meine Mutter kümmerte sich nicht um uns, sie hatte immer etwas anderes zu tun. Es wäre illusorisch gewesen, von ihr auch nur ein liebevolles Wort oder eine zärtliche Geste zu erwarten, sie war dazu nicht in der Lage. Mit meinen Schwestern hatte sie immer Krach, obwohl sie enorm viel leisteten“ (S. 24). 

Manchmal versuchte der Vater, die Kinder zu besuchen. Die Mutter hatte ihre Kinder allerdings so sehr vor dem Vater gewarnt, dass sie oft wegliefen, wenn er sie sehen wollte. Die Mutter hatte ergänzend gedroht, dass sie nicht mehr ihre Mutter sein werde, wenn sie mit dem Vater mitgehen würden (S. 25). Der Vater stellte schließlich seine Besuchsversuche ein. Später erfuhren die Kinder, dass ihr Vater eine Zeit im Gefängnis gesessen hatte, was sie zutiefst schockierte (S. 53).

Schließlich trat auch ein Stiefvater ins Leben der Kinder. Er störte wohl nicht, blieb aber recht unsichtbar. Die Dominanz in der Familie übte die Mutter Aischa aus. Sie war auch sehr kontrollierend und manipulativ. Und sie war gewalttätig: „Um uns zu bestrafen, wurde nicht selten ein Teppichklopfer zweckentfremdet“ (S. 29). Zuhause gab es oft „Ärger, Geschrei und Schläge“ (S. 30). 

Zwischen der Mutter und ihrer Tochter Jamila eskalierten die Konflikte schließlich so weit, dass Aischa ihre Tochter in ein Internat schickte. (Jamila wurde später depressiv und bulimisch, außerdem versuchte sie, mit Hilfe einer Sozialarbeiterin in einem Heim unterzukommen, was nicht gelang: S. 50)  Abd Samad wurde ebenfalls das Internat angeboten. Er wollte seine Lieblingsschwester nicht alleine gehen lassen und ging mit. Unter der Woche waren die Geschwister nunmehr voneinander getrennt. „Mein Weggang machte Zacarias traurig, denn für ihn war es ein wenig so, als würde ich ihn im Stich lassen“ (S. 33). Zacarias war nach dem Wegzug seiner Geschwister den „häuslichen Gewittern“ nun noch stärker ausgesetzt. Er versuchte Zuhause immer in Alarmbreitschaft zu sein und „dem mütterlichen Zorn aus dem Weg zu gehen, was ihm nicht immer gelang“ (S. 34). 

Irgendwann verkündete die Mutter einen erneuten Umzug. Nur Zacarias war absolut dagegen. Er hatte in seinem Wohnort Bindungen aufgebaut und träumte davon, Profihandballer zu werden (er war talentiert), was sich durch den Umzug erledigte. „Mit dem Abstand glaube ich, dass dieser Umzug nach Narbonne nach dem Aufenthalt im Waisenhaus der zweite große Bruch für ihn war“ (S. 34f.) Zacarias war zu dem Zeitpunkt zwölf Jahre alt. Ab dann sei Zacarias verändert gewesen.
Irgendetwas hatte sich bei ihm eingenistet, ein kleines Mal, eine Spur Bitterkeit oder Groll, wie eine Narbe, die so klein ist, dass man sie kaum sieht, aber die auch mit der Zeit nicht verheilt“ (S. 37). 

Ihre Mutter bot ihnen auch keine richtige Verbindung zu ihrem Herkunftsland oder zur Religion. Zu all den familiären Belastungen kam noch das Gefühl der fehlenden Zugehörigkeit hinzu und Rassismus. In der Schule gab es sogar einen Lehrer, der gezielt Schüler arabischer Herkunft prügelte. „Zacarias ließ sich schlagen, ich ließ mich schlagen, die anderen ließen sich auch schlagen. Schweigend“ (S. 80). Es kam noch zu weiteren Opfererfahrungen, die mit Rassismus zusammenhingen. 

Der Autor berichtet auch über die Art und Weise mütterlicher Demütigungen. „Du bist ein Tunichtgut, von dir kommt alles Böse, du bist ein Bastard!“ (S. 59). „Ein Streit zwischen meinem Bruder und meiner Mutter konnte um sechs Uhr abends beginnen und sich bis zwei Uhr in der Früh hinziehen …. Meine Mutter ließ erst locker, wenn sie sah, dass ihr Sohn kurz davor war, zusammenzubrechen“ (S. 60).

 Als Zacarias ca. 18 Jahre alt war, verließ er seine Familie. „1988 kam er noch einmal kurz wieder. Dann tauchte er erst acht Jahre später wieder auf, 1996, mit kahlrasiertem Schädel, langem Bart und kurzer Hose (…)“ (S. 62). Durch Kontakte zur Islamistenszene hatte er sich radikalisiert. Das Schicksal nahm seinen Lauf… 


Sonntag, 17. April 2022

Kindheit von Zar Peter III. (Russland, 1728-1762)

Peters Mutter starb drei Monate nach seiner Geburt im Jahr 1728. Der Vater widmete sich danach seinem Sohn. Großen Wert legte der Vater auf eine gute Erziehung, wofür er extra für den vierjährigen Peter einen Professor für Theologie anstellte, der zum Vorbild für den Jungen wurde. Die allgemeine Erziehung zielte offensichtlich auch darauf ab, das Interesse fürs Militärische bei dem Jungen zu wecken, was auch gelang (Palmer 2005, S. 21-23). Der Vater starb allerdings, als Peter elf Jahre alt war. Peter vermisste ihn sehr (Palmer 2005, S. 17). 

Zum Vormund wurde ein Onkel, der kein großes Interesse an dem Kind hatte und der die Erziehung dem schwedischen Oberlehrer Otto Friedrich von Brümmer überließ. „Der Erzieher behandelte den Jungen mit einer Härte, die an Brutalität grenzte, er schrie ihn an und bestrafte ihn häufig. Fast jeden Tag musste der kleine Herzog auf Erbsen knien, was ihm unerträgliche Schmerzen bereitete. Brümmer ließ sich aber von den Tränen des Jungen nicht beeindrucken“ (Palmer 2005, S. 24). Der Biograf Bernhard Mager beschreibt die Wahl des neuen Erziehers kurz und knapp so: „Wie sich nachfolgend zeigte, eine für Peter unglückliche Entscheidung. Von Brümmer war weder pädagogisch noch sonst geeignet, eine erbprinzliche Hoheit adäquat zu erziehen" (Mager 2018, S. 14). Peter hätte „unter oft willkürlich verhängten Strafen und unter der von Schikanen durchsetzen Erziehung durch von Brümmer“ gelitten (Mager 2018, S. 15). Der Erzieher Brümmer wird von Mager an einer Stelle auch als „Despot“ bezeichnet (Mager 2018, S. 67).

Peter war der einzige Enkel Peter des Großen und wurde auf Befehl der Kaiserin Elisabeth I. von seinem Wohnort in Schleswig-Holstein nach Russland befohlen. Peter begab sich auf die Reise im Glauben daran, seiner Tante Elisabeth nur einen Besuch abzustatten. (Mager 2018, S. 56f.)
Geplant war allerdings sein dauerhafter Aufenthalt in Russland und die entsprechende Thronfolge. Anfang des Jahres 1742 brachen Peter und seine Begleiter auf. Peter war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal vierzehn Jahre alt. „Leider begleitete Brümmer Karl Peter auch auf die Fahrt nach Russland. Das machte die Reise noch schlimmer. (…) Der junge Herzog war von den Quälereien der vergangenen Jahre so erschöpft, dass er nur wünschte, der hochmütige Schwede möge für immer verschwinden. Das Gleiche galt für den Kummerjunker Friedrich Wilhelm von Bergholz (…), einen Menschen, der nicht weniger brutal war als Brümmer“ (Palmer 2005, S. 24). 

Auf der Reise nach Russland strafte Brümmer einmal einen Wirt mit Peitschenhieben. „Peter war von diesem Erlebnis schockiert. Dass man Kinder schlagen durfte, hatte er durch Brümmer bereits erfahren müssen. Noch nie hatte man aber einen erwachsenen Mann in seiner Anwesenheit bestraft“ (Palmer 2005, S. 26). An dieser Stelle erfahren wir also auch, dass Strafen seitens des Oberlehrers gegen seinen Zögling Peter auch körperliche Gewalt bedeuteten!

Als Peter in Russland ankam und empfangen wurde begann er „bitterlich zu weinen und die Erwachsenen standen hilflos daneben“ (Palmer 2005, S. 26). Peters Herz hing an dem Herzogtum Holstein. In Russland fühlte sich der junge Peter dagegen als Gefangener (Mager 2018, S. 65).

Zar Peter III. war Vollwaise und musste eine von Gewalt und Demütigungen durchsetzte Erziehung über sich ergehen lassen. Hinzu kam der erzwungene Verlust der vertrauten Umgebung in Holstein in frühen Jahren. Insgesamt betrachtet ist dies eine sehr traumatische Kindheit. 


Quellen:

Mager, B. (2018). Der Zar aus Schleswig-Holstein: Zar Peter III. als Landesherr von Holstein im Spiegel historischer Dokumente. Ihleo Verlag, Husum. 

Palmer, E. (2005). Peter III. Der Prinz von Holstein. Sutton Verlag, Erfurt.


 


Montag, 11. April 2022

Kindheit von Zar Nikolaus I. (1796-1855; Russland)

Meine Quelle für die Kindheit von Zar. Nikolaus I.:
Lincoln, W. B. (1981). Nikolaus I. von Russland. 1796 - 1855. Callwey Verlag, München.

Vom Tag seiner Geburt an wurde Nikolaus von seiner Großmutter Katharina II. überwacht. Allerdings starb Katharina wenige Monate nach seiner Geburt. Paul I. (siehe auch über seine Kindheit hier im Blog) – der Vater von Nikolaus I. – übertrug einen Tag nach dem Tod der Zarin seinem vier Monate alten Sohn das militärische Oberkommando über die kaiserliche berittene Garde (S. 58). Dieser Schritt gab auch die weitere Richtung vor: Nikolaus wurde sehr früh der am Hofe vorherrschenden militaristischen Atmosphäre ausgesetzt. „Nikolaus´ erste Erinnerungen müssen demnach Eindrücke militärischer Art, strenger Hofzeremonien und eine Mutter gewesen sein, die bei seinen kurzen Begegnungen mit ihr auf striktester Einhaltung der Hofetikette bestand“ (S. 60) Und: „Je mehr Nikolaus vom Säuglings- in das Kindesalter hineinwuchs, desto konkretere Formen nahm die Betonung des Militärischen an“ (S. 62).  Dazu passt, dass der Vater im November 1800 General Graf Lamsdorf zum Erzieher seiner jungen Söhne bestimmte, Nikolaus war zu dem Zeitpunkt vier Jahre alt. 

Nikolaus hat über diesen Haupterzieher später geschrieben: „Graf Lamsdorf flößte uns nur das Gefühl von Furcht ein. Diese Furcht und die Gewissheit seiner Allmacht waren sogar so stark, dass in unsrer Gedankenwelt unsere Mutter nur eine zweitrangige Bedeutung hatte. Dieser Tatbestand raubte uns völlig jegliches Vertrauen von Söhnen in ihre Mutter. Wir sahen sie ohnehin nur selten allein und wenn, dann geschah das in einer Art und Weise, als würde uns ein Urteil verkündet. Der ständige Wechsel des Personals in unserer Umgebung ließ in uns schon in frühester Jugend die Gewohnheit wachsen, bei unseren Bediensteten nach schwachen Stellen zu suchen und diese dann zu unserem Vorteil zu nutzen. Furcht und das Bestreben, einer Bestrafung zu entgehen, beschädigte meinen Geist mehr als irgend etwas anderes“ (S. 63)
Im Grund sagt dieses eine eindrucksvolle Zitat alles über die Kindheit des Zaren! Erstaunlich ist auch, wie der Zar selbst reflektiert, Ursachen in der Kindheit sieht und feststellt, dass sein Geist beschädigt wurde. Was unter "Strafen" zu verstehen ist, wird an einer Stelle deutlich, wo es um für den Schüler Nikolaus qualvollen Unterricht geht und der Graf „mich häufig während der Unterrichtsstunden selbst auf schmerzhafte Weise mit dem Stock züchtigte“ (S. 68f.). Bzgl. des langweiligen und pedantischen Unterrichts durch seine Erzieher kommentiert Nikolaus später auch: „Ich erinnere mich, wie sehr uns diese beiden Männer quälten“ (S. 68). 

Die Bindung zur Mutter (und auch zum Vater) wurde allerdings schon weit früher unterbrochen und hing nicht nur vom strengen Erzieher ab. Diverse Bedienstete waren von Beginn an für die Kinder zuständig: „Nikolaus verbrachte seine ersten Lebensjahre in der Gesellschaft von Gouvernanten und Kindermädchen zumeist ausländischer Herkunft. Seine Mutter (…) sah ihn nur wenige Minuten am Tag“ (S. 58). Aus dem Jahr 1798 (Nikolaus muss ca. zwei Jahre alt gewesen sein) gibt es einen Tagebucheintrag, dem zur Folge die Mutter im Verlauf eines Monats nur sechs bis sieben Stunden mit ihrem Sohn verbracht hatte (S. 60).  Bzgl. des Vaters – Paul I. – sah es nicht anders aus. Selten spielte er mit den Kindern, das starre Protokoll des Hofes ließen dies kaum zu.  „Normalerweise hatte Paul I. für seine jüngeren Kinder nur dann etwas freie Zeit, wenn er frisiert wurde“ (S. 60). Elternfiguren standen also nicht zur Verfügung. 

Neben militärischen Prägungen wurden die Kinder auch dem starren Protokoll unterzogen. Pflichterfüllung und militärische Tapferkeit wurden in der Erziehung betont. „Zur gleichen Zeit wurde größter Wert auf einwandfreies Verhalten, Würde und die Kontrolle der eigenen Gemütsbewegungen gelegt, die sie im Tun und Handeln ihrer Mutter erkennen konnten. Es war dies jene Art strenger Selbstkontrolle, die später eine Reihe von Beobachtern von einer inneren Kälte bei Nikolaus sprechen ließ“ (S. 61). 

Ein weiteres Trauma kam für den Jungen hinzu. In der Nacht des 11. März 1801 wurde sein Vater Paul I. ermordet. 

Später hing Nikolaus dem Militär sehr an, die entsprechende Erziehung von Geburt an ging offensichtlich auf. „Seine Leidenschaft für die Armee sollte für den Großfürsten und später den Zaren Nikolaus charakteristisch sein“ (S. 71). Nachdem Zar Alexander I. seinen jüngeren Brüdern die Erlaubnis gab, sich der Armee im Felde gegen Napoleon anzuschließen, schreibt Nikolaus später:
Ich bin nicht einmal in der Lage, einen Anfang mit der Beschreibung unserer Glückseligkeit zu machen, die eher verrückter Freude glich. Jetzt hatten wir angefangen zu leben – in einem einzigen Augenblick überschritten wir die Schwelle von der Kindheit zur Welt; in das wirkliche Leben“ (S. 72) Leben und Glück angesichts des Krieges, diese Regungen kennen wir auch aus Deutschland bei den Massen, als der Erste Weltkriegs ausbrach. Wenn Kindheit traumatisch war, wenn Kinder keine echten Bindungen und keine wirkliche Familie erlebt haben, dann kann das Militär eine Ersatzfamilie sein und der Kampf ein Mittel, um überhaupt etwas zu fühlen. 

Abschließend ist es von Interesse, auf die Kindheitsbedingungen von Zar Alexander I. (dem älteren Bruder von Nikolaus I.) zu schauen: „Er durfte nicht verhätschelt werden: Seine Matratzen wurden mit Stroh gefüllt; selbst im kalten russischen Winter musste in seinem Zimmer immer ein Fenster offenstehen. Er schlief in einem Flügel des Winterpalais, der neben der Admiralität lag, so dass sein Ohr sich an die Kanonenschüsse gewöhnte“  (Palmer, Alan (1994). Alexander I. Der rätselhafte Zar. Ulstein Verlag, Frankfurt am Main/Berlin. S. 21f.). Es ist entsprechend davon auszugehen, dass diese "Abhärtungsrituale" auch den jüngeren Bruder Nikolaus trafen!



Freitag, 8. April 2022

Kindheit von Zar Paul I. (1754 - 1801, Russland)

Quelle für diesen Text: "Zar Paul I. Mensch und Schicksal" von Valentin Graf Zubow (1963, K. F. Koehler Verlag, Stuttgart)

Schon für den Fötus scheint es deutliche Belastungen gegeben zu haben: „Es ist zu bemerken, dass Katharina während ihrer Schwangerschaft Ängsten und Kummer ausgesetzt war. Sie fühlte, dass ihr Geliebter sich ihr entzog, und sie klammerte sich mit all ihren Kräften an diese Liebe“ (S. 16).

Bereits kurz nach der Geburt wurden Mutter und Sohn getrennt: „Das Leben Pauls erhielt schon von den ersten Atemzügen an eine tragische Färbung. Kurz nach der Geburt befahl die Kaiserin Elisabeth der Hebamme, das Kind in ihre Räume zu bringen, während die Mutter von ihrer Tante, ihrem Gatten und dem ganzen Hofe vollständig vergessen wurde und stundenlang ohne jegliche Pflege blieb“ (S. 15). Der einzige Zweck Katharinas Anwesenheit in Russland war, dem Land einen Thronfolger zu schenken, schreibt der Biograf. Die ganze Härte und Gefühlskälte der Gesellschaft wird in dieser Szene deutlich.

Für Paul bedeutet dieser Schritt eine sofortige und dauerhafte Trennung von seiner Mutter:
Jahre hindurch durfte Katharina ihren Sohn nur in großen Abständen, und auch dann nur für kurze Augenblicke sehen; die Kaiserin hatte die Pflege des Kindes ganz übernommen (….). Es ist anzunehmen, dass die Behandlung, die Katharina erfahren hatte, in ihr die mütterlichen Gefühle abstumpfen ließ, wenn sie überhaupt je welche besessen hat (…)“ (S. 15).

Die Pflege des Kindes sah dann so aus, dass er von „einer Menge Weiber aus dem Volke gehütet“ wurde (S. 16). Offensichtlich nicht zu seinem Wohle, der Säugling wurde u.a. überhitzt. Und: „Die Zahl der Wärterinnen erhöhte die Sicherheit des Kindes keineswegs, im Gegenteil; es geschah, dass sie morgens beim Aufwachen den Kleinen außerhalb der Wiege ruhig am Boden schlafend vorfanden“ (S. 16).
Es ist auch möglich, dass die Wärterinnen die Keime der Angst in die Seele des Kindes gepflanzt haben. Um der persönlichen Überwachung der Kaiserin Elisabeth zu entgehen, suchten sie aus ihr ein Schreckgespenst für den Kleinen zu machen; es gelang ihnen so gut, dass er an all seinen Gliedern zitterte, sobald sie sich näherte. Als sie die Wirkung ihrer Besuche bemerkte, erschien sie immer seltener und kam schließlich überhaupt nicht mehr (…)“ (S. 16).
Der Junge hatte somit auch seine "Ersatz-Mutter“ verloren. Die Frage ist, was die „Wärterinnen“ alles mit dem Jungen anstellten, der ihnen nun komplett ausgeliefert war? Pauls Schwester wurde ebenfalls der Obhut dieser Frauen überlassen. Der Biograf schreibt: „Während der Knabe die Pflege der Wärterinnen überlebte, unterlag ihr das weniger robuste Mädchen. Paul hing sehr an seiner Schwester, und ihr Tod verursachte ihm großen Kummer“ (S. 17). Die Betreuungspersonen konnten offensichtlich lebensgefährlich für die Kinder sein, was diese Passage hervorhebt. Der Tod der Schwester bedeutet ein Trauma für sich für das Kind Paul. 

Im Alter von sieben Jahren musste Paul einen weiteren Schlag erleben. Pauls (vorgeblicher und wohl nicht biologischer) Vater, Peter III., „den der Knabe kaum kannte“ (S. 18), folgte nach dem Tod der Kaiserin auf den Thron. „Sechs Monate später traf ein dritter und entscheidender Schlag Pauls von Natur aus verängstigte Seele: der Staatsstreich vom 28. Juni 1762, der seine Mutter auf den russischen Thron hob und seinen vorgeblichen Vater das Leben kostete“ (S. 18).  In der Fantasie des Kindes muss eines klar geworden sein: Sicherheit ist eine Illusion! 

Der Biograf beschreibt neben den vielen Ängsten einen weiteren Wesenszug von Paul: Minderwertigkeitsgefühle (S. 20). Dies mag kaum verwundern, wenn wir uns seine frühe Kindheit vor Augen führen. 

Für den heranwachsenden Jungen war u.a. auch sein Haupterzieher Patin zuständig. Dieser tadelte den Jungen wegen dessen ständiger Ungeduld, betont der Biograf. Paul kamen z.B. die Tränen, wenn Hofempfänge zu lange dauerten. „Er wurde von Patin wegen dieser Verstöße gegen die Etikette streng getadelt und sogar bestraft“ (S. 22). In welcher Form diese Strafen ausgeübt wurden, wird nicht berichtet. 

Mir stellt sich die Frage, ob Paul auch sexuellem Missbrauch ausgesetzt war? Der Biograf schreibt an einer Stelle etwas schwammig: „Man wird angesichts der Atmosphäre eines Hofes des 18. Jahrhunderts, in welcher Paul aufwuchs, kaum verwundert sein, ein vorzeitiges Aufblühen erotischer Gefühle bei ihm festzustellen. Mit sechs Jahren war er schon verliebt, mit zahn spielte sich ein richtiger kleiner Roman, platonisch und reizend, mit einem Hoffräulein der Kaiserin ab. Freilich waren auch die Gespräche, die an seiner Tafel von Patin und den Gästen geführt wurden, in Anwesenheit eines Kindes bei weitem nicht vorsichtig genug; sie hätten im 19. Jahrhundert für unerhört gegolten“ (S. 25f.). Ich denke an dieser Stelle ergänzend auch an die vielen „Wärterinnen“ in der frühen Kindheit von Paul, die um die zukünftige Macht des Jungen wussten und damals viel Macht über das Kleinkind (den "kleinen Mann und Herrscher") inne hatten. Die sexualisierte Atmosphäre am damaligen Hofe lässt einiges erahnen. (Auch die vielen Liebschaften seiner leiblichen Mutter Katharina II. sind ja legendär).

Der älter werdende Paul wünschte später, Einblicke in die Regierungsgeschäfte seiner Mutter zu bekommen. Sie wich aus. Katharina II.. „hatte eine instinktive Angst vor Paul; Angst gebiert Feindseligkeit; auf die Feindseligkeit der Mutter antwortete der Sohn mit Feindseligkeit“ (S. 27)

Mutter und Sohn waren von Anbeginn an entfremdet, das Verhältnis scheint angespannt geblieben zu sein. Aus heutiger Sicht ist die Kindheit von Paul I. hoch traumatisch verlaufen. Dies wird auch Folgen bzgl. seines politischen Wirkens gehabt haben. 


Alarming study: Adverse Childhood Experiences are increasing in the US!

The public and especially the psychohistorical community should know about a new study from the US:

Adverse Childhood Experiences Across Birth Generation and LGBTQ+ Identity, Behavioral Risk Factor Surveillance System, 2019”, published online: March 23, 2022, American Journal of Public Health 

It's about Adverse Childhood Experiences (ACEs) of the US population. (I present the data and results below.) At first glance, the title of the study suggests that it is primarily about sexual minorities, which is not true. A total of 56,262 people were interviewed. Of these, only 5.11% belong to a sexual minority.

What particularly alarms me about this study is the negative trend regarding younger generations!

First an overview:

19.26% of the current sample (n = 56 262) reported 4> ACEs! 

This is more than in previous BRFSS surveys between 2011-2014 (result: 15.81% = 4 or more ACEs). 

Currently every 5th US-American belongs to the high-risk group with regard to health and behavior problems (according to the earlier data, it was every 6th)! 

Note: This is the average value! Take a look at the details: 

4 or more ACEs:

Baby Boomers: 14.69%

Generation X: 22.31%

Millennials: 26.77%

Generation Z: 26.78%

Currently every 4th US-American of the younger generations belong to the high-risk group with regard to health and behavior problems! The data can also be interpreted as follows:
The US society is a traumatized society!

Here are some excerpts regarding the (often traumatic) stress factors (in childhood) by generation (from the current study):

Emotional abuse:

Baby Boomers: 29.99%

Generation X: 35.28%

Millennials: 41.77%

Generation Z: 44.53%


Household depression:

Baby Boomers: 12.28%

Generation X: 17.84%

Millennials: 26.37%

Generation Z: 31.47%


Household incarceration:

Baby Boomers: 4.18%

Generation X: 7.85%

Millennials: 13.86%

Generation Z: 16.43%


Household drug use:

Baby Boomers: 6.25%

Generation X: 12.04%

Millennials: 17.04%

Generation Z: 15.74%


Parental divorce:

Baby Boomers: 19.87%

Generation X: 35.64%

Millennials: 42.38%

Generation Z: 40.87%


For other ACE-Scores (household alcoholism, interpersonal violence, physical abuse, sexual violence) there is no significant increase. I would like to mention that the extent of physical abuse in all generations is high at approx. 25%.

With regard to the drug/opioid epidemic in the US, rising suicide rates, but above all with regard to the deep political division/polarization (including the catastrophic Donald Trump presidency), I would suspect connections to the high level of ACEs. 

It remains for me to note that the “baby boomer” generation is often not used to reporting on stressful childhood experiences. In addition, high ACE-scores have been shown to lead to premature death, so that the high-risk group may be underrepresented in the surveys. But this could only partly explain the bad trend.

I assume that this negative trend is real!


Donnerstag, 7. April 2022

Studie: Kindheiten von 50 weiblichen Dschihadisten aus Europa

Nina Käsehage stellt die Ergebnisse aus Befragungen von 50 weiblichen Dschihadisten aus Europa vor: 

Käsehage, N. (2020). Empowerment through Violence - European Women in Jihadi Movements. In: Hock, K. & Käsehage, N. (Hrsg.). ‘Militant Islam’ vs. ‘Islamic Militancy’? Religion, Violence, Category Formation and Applied Research. Contested Fields in the Discourses of Scholarship. LIT Verlag Zürich, S.  169-194.

Gewalterfahrungen durchziehen die Biografien dieser extremistischen Frauen:

All of the women have suffered psychological or physical abuse in their nuclear or extended families” (S. 180). Und: “All of the women from my European sample had experienced violence in a psychological, physical or sexual way in their childhood and have found specific methods of channelling their negative experiences in order to feel ‘relief` or to `recover`” (S. 182). 

Manche würden diese Erfahrungen in folgender Form für sich umdeuten:
I had to suffer so much in my childhood, because God tests the chosen people” (S. 182). 

Ausführlicher wird der Fall der 20-Jährigen “Umm Yasar“ vorgestellt. Sie lebt in Italien und hat einen algerischen Migrationshintergrund. Ihre Eltern waren nicht streng muslimisch. Die Eltern trennten sich, als Umm noch ein Kind war. Sie blieb bei ihrer Mutter, die oft trank und das Kind misshandelte. Die Mutter fand einen neuen Partner, der Umm sexuell missbrauchte bzw. vergewaltigte. Ihre Mutter glaubte ihr dies nicht und wurde noch gewalttätiger gegen ihre Tochter (S. 181).
Umm Yasar schloss sich als Jugendliche einer weiblichen Gang an, die sich sehr gewaltvoll verhielt. Durch einen radikalen Imam wurde sie weiter radikalisiert. In der Moschee traf sie auch ihren zukünftigen Ehemann, der ebenfalls radikalisiert war. 

Umm Yasar`s motives for joining a Jihadi group are based in her disposition for physical violence. Raised in a family where `survival of the fittest` was an everyday experience for a child, being physically tortured by her mother and occasionally raped by her step-father, the young woman had to find a way to canalize her pain. Umm Yasar choses violence towards others as an appropriate way for herself to feel strong and self-reliant, even if only for a moment. She joined an all-girls gang and made other become `victims` in order to forget her parents victimizing her day after day” (S. 185). 

Nun, die Zusammenhänge sind überdeutlich und ergänzen das Bild über die destruktiven Kindheiten von Extremisten, das ich hier im Blog unzählige Male zeichnen konnte! 


Montag, 21. März 2022

Mein Online-Vortrag in Kanada: "Childhood Origins of Political Violence"

Ich bin seit 20 Jahren im Internet aktiv bzgl. des Themas Kindesmisshandlung und Folgen (vor meinem Blog hatte ich lange Jahre eine Homepage zum Thema). Ich war immer sehr vorsichtig mit meinen Daten, speziell auch Fotos von mir. 

Ich habe aber auch festgestellt, dass es mir am Herzen liegt, das Thema in dieser von mir recherchierten/ausgearbeiteten Form international bekannter zu machen (erst recht auch nach den aktuellen Ereignissen in der Ukraine). Denn auch international wird viel zu selten auf die politischen Folgen geschaut. Dafür muss man auch "Gesicht" zeigen.

In diesem Sinne hatte ich einer Anfrage zugesagt und habe am 18.03. live einen Online-Vortrag für das Projekt "No Violence for Kids Canada" gehalten. Ich musste mir dafür einen Ruck geben, weil mein Englisch begrenzt ist. Dennoch, ich konnte mich und mein Anliegen verständlich machen.

Der Vortrag ist online einsehbar: Facebook oder Youtube.

Hier der Link zu den Folien.



Donnerstag, 17. März 2022

Doku „Diktatoren - Wurzeln des Terrors“ und einige Anmerkungen dazu

 „Hitler, Mussolini, Stalin, Mao, Pol Pot, Saddam Hussein, Kim Jong Un: Alle dieser Diktatoren waren einst Kinder und Teenager, bevor sie zu Tyrannen wurden. Die Dokumentation blickt in die Kindheit und die Jugendzeit der schrecklichsten Diktatoren im 20. und 21. Jahrhundert. Die Porträts dieser Jugendlichen begeben sich auf die Spur nach den Wurzeln des Wesens dieser Männer, die später absolute Macht anstrebten.

So wurde die französische TV-Doku „Diktatoren - Wurzeln des Terrors“ (2021 vom Regisseur François Chayé; original Titel „A la source de la tyrannie“) angekündigt, was mich natürlich extrem neugierig machte. Aktuell kann die Doku noch (mit Werbeblöcken) hier gestreamt werden. 

Die Doku ist in verschiedene Kapitel unterteilt. Ein Kapitel heißt: „Gewalttätige Kindheit“!

Ich wundere mich ehrlich gesagt schon länger, dass es bisher meines Wissens nach keine Doku gab, die die destruktiven Kindheiten von Diktatoren in den Blick nimmt. Jetzt also das! Das ist ein wirklich großer und wichtiger Schritt. 

Zwischendrin kamen mir allerdings erste Zweifel, ob die Doko in eine für mich zufriedenstellende Richtung geht. Z.B. als über die Mutter von Adolf Hitler gesagt wird, dass sie für ihn „emotionale Sicherheit“ bot, etwas, das ich deutlich anders sehe. 

Es tauchten aber auch erste vielversprechende Kommentare auf. Beispielsweise als dieser Satz fällt: „Für Hitler verschmolzen sein Vater und das Kaiserreich zu einem Hasssymbol“. Diese Stelle wurde nicht gesondert kommentiert, sie zeigt aber deutlich die Verschmelzung von Kindheit (Gewalt durch den Vater und Hass auf den Vater) und Gesellschaft bzw. Übertragung von Hass aus der Kindheit auf Vaterfiguren/“Vaterstaat“/“das Alte“. 

Unter dem o.g. Kapiteltitel geht es dann wirklich in die Tiefe der Kindheitsabgründe: Maos Vater sei alles andere als liebevoll gewesen und habe nicht gezögert, seinen Sohn zu schlagen. Mao habe seinen Vater gehasst.
Saddam Hussein sei in extremer Armut aufgewachsen. Es habe „wenig Liebe“ in seiner Kindheit gegeben und er galt „als Bastard“. Und: „Der Stiefvater war gewalttätig und schlug ihn fast täglich.“ Über den Alkoholismus des Vaters von Stalin und dessen Gewaltverhalten wird ebenso berichtet, wie über all die Demütigungen und Entbehrungen, die Stalin in einem Priesterseminar erlitten hat.
Über die häufige väterliche Gewalt, die auch Mussolini erlitten hat, wurde leider nichts berichtet, obwohl dieser Diktator Thema war. 

Zum Schluss hin kommt dann diese Aussage:

Bei einigen Diktatoren liegen die Wurzeln ihres Handelns in einer besonders traumatischen Kindheit. Die prägenderen Faktoren für ihre kriminelle Entwicklung liegen jedoch meist im historischen, sozialen und politischen Umfeld, in Kombination mit einer blutigen Ideologie schaffen die Despoten dann den Aufstieg an die Macht.“

Nach dieser Stelle war den vorherigen Ausführungen zur Kindheit schon einmal deutlich der Wind aus den Segeln genommen. Glaubt es mir oder nicht, ich ahnte schon, welcher Nachsatz noch kommen würde und er kam auch, von dem Historiker Johann Chapoutot:

 „Es besteht kein Zweifel daran, dass Hitler eine unglückliche Kindheit hatte. Die Beziehung zu seinem Vater war katastrophal und bereitete ihm große psychische und physische Schmerzen. (…) Doch im 19. Jahrhundert gab es viele Kinder, die Opfer von Misshandlungen wurden und sie wurden nicht alle zu Massenmördern. Den Gewaltherrschern ist auf ihrem Lebensweg noch etwas anderes passiert. Hitler verstand es, auf die Erwartungen der damaligen Gesellschaft zu reagieren. Diese wollte eine klare Identität und Hitler vermittelte durch den Nationalsozialismus und die deutsch-völkische Ideologie das Gefühl, dass man etwas darstellt.“ 

Da ist er wieder, dieser klassische Satz:Aber nicht alle traumatisierten Kinder werden zu…“.
Die Ursachenkette zwischen destruktiver Kindheit und politischer Gewalt wird durch diesen Satz sofort zerrrissen. Bereits in dem zuvor zitierten Part wurde der Blick von der Kindheit weg in Richtung anderer „prägenderen“ Faktoren („historischen, sozialen und politischen Umfeld, in Kombination mit einer blutigen Ideologie“) gelenkt. 

Es ist selbstverständlich, dass es keinen einfachen Link zwischen destruktiver Kindheit hier und Diktatoren dort gibt. Selbstverständlich bedarf es weiterer Einflussfaktoren, wovon der größte natürlich das Streben nach und das Erreichen von Macht ist. Diese Leute müssen zudem redegewandt und intelligent sein. Sie müssen männlich sein. Sie müssen zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein usw. usf.  

Was mich so ungemein stört, wenn Kindheitseinflüsse gering geredet werden, ist, dass nie die umgedrehte Frage gestellt wird: Wären Hitler, Mussolini, Stalin, Mao und Saddam Hussein auch zu solchen Diktatoren und Massenmördern geworden, wenn sie eine liebevolle und weitgehend unbelastete Kindheit gehabt hätten? Diese Frage taucht einfach nicht auf!

Der zweite Punkt ist, dass der Satz „doch im 19. Jahrhundert gab es viele Kinder, die Opfer von Misshandlungen wurden und sie wurden nicht alle zu Massenmördern“ mit Blick auf das Werden eines Diktators im Grunde bereits die Lösung des Rätsels mit enthält. Nur ein einziger Mensch kann logischer Weise in einer Diktatur zum Diktator werden. Wenn doch aber eine destruktive Kindheit in einem deutlichen Zusammenhang zu menschlicher Destruktivität und Gewaltverhalten und auch „Ohnmachtsverhalten“ steht (was wir heute einfach auf Grund wissenschaftlicher Befunde wissen), dann erklärt sich doch gerade aus der Feststellung „doch im 19. Jahrhundert gab es viele Kinder, die Opfer von Misshandlungen wurden“ die Entwicklungen hin zu einer Diktatur! 

Johann Chapoutot hat es oben nach seiner kritischen Anmerkung bzgl. Kindheitseinflüssen im Grunde bereits gesagt: „Hitler verstand es, auf die Erwartungen der damaligen Gesellschaft zu reagieren. Diese wollte eine klare Identität“. Ein als Kind traumatisierter Führer stand in Resonanz mit der als Kind traumatisierten Bevölkerung, die sich eine Identität wünschte (Identitätsprobleme sind eine klassische Folge von Kindesmisshandlung!). Warum wurde hier nicht der Einfluss von Kindheit erkannt?

Vergessen werden darf außerdem auch nicht, dass die vielen Kinder des 19. Jahrhunderts, die Opfer von Misshandlungen wurden, zwar nicht alle zu Massenmördern und Diktatoren wurden, aber viele (vor allem männliche) Kinder wurden zu "Diktatoren im Kleinen", in der Familie. Das war ihr Einfluss- und Machtbereich! Historische Berichte über tyrannische Väter finden sich haufenweise. Sie „mordeten“ die Seelen ihrer untergeordneten Familienmitglieder. Und ja, beim genaueren Hinsehen finden wir im historischen Rückblick auch haufenweise Mütter (+ Großmütter, Dienerinnen, Ammen), die sich gegenüber Kindern wie Diktatoren und Menschenschinder verhielten, obwohl sie nach außen hin (der patriarchalen Sitte/Struktur nach) nicht die absolute Macht in der Familie inne hatten. 

Der andere Weg, Hass auszudrücken, ist der Weg nach innen: Selbsthass, Krankheit, Suizid, Depressionen, sich in Ohnmachtsbeziehungen ergeben usw. usf. Auch das wird gerne unterschlagen, wenn es heißt, dass nicht alle als Kind misshandelten Menschen zu "ihr wisst schon was" werden. 

Doch im 19. Jahrhundert gab es viele Kinder, die Opfer von Misshandlungen wurden und sie wurden nicht alle zu Massenmördern“. Dieser Satz ist schlicht unterkomplex, obwohl das erklärte Ziel des Satzes ja gerade war, die Komplexität von Menschen und Gesellschaften zu beachten. 

Im Grunde liegt hier stets auch das gleiche Problem zu Grunde: Historiker sind nun einmal keine Psychologen und Experten für Traumafolgen. Ihnen fehlt entsprechend das Wissen um die komplexen Folgen von Kindesmisshandlung, die sich in unzähligen Formen ausdrücken können.

Die Doku war ansonsten gut und auch wichtig! Es wird sicher der Tag kommen, an dem in einem ähnlichen Format selbstbewusst die These formuliert wird, dass destruktive Kindheiten das Fundament für Diktaturen bilden können. 

Die Doku "Diktatoren - Wurzeln des Terrors" lief am 15.03. in der Zeit zwischen 02:20 - 03:00 Uhr auf N-TV

Ist schon irgendwie symbolisch, dass das Thema gesendet wird, wenn alle schlafen...


siehe ergänzend auch meinen Blogbeitrag: "Eine lieblose Kindheit haben viele erlebt und werden trotzdem nicht zu Mördern"



Donnerstag, 3. März 2022

Kindheit von SoldatInnen (auch mit Blick auf den aktuellen Krieg in der Ukraine)

Bei der besonderen Gruppe der Soldaten und Soldatinnen findet die Forschung regelmäßig ein sehr hohes Ausmaß von belastenden Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, ACEs). In meinem Buch habe ich zu dem Thema ein eigenes Kapitel verfasst! 

Die aktuelle Kriegssituation in der Ukraine bringt das Thema „Soldatentum“ und „Befehl + Gehorsam“ mit einem bösen Paukenschlag auf die Tagesordnung. Ohne tausende SoldatenInnen, die auf Befehl Putins in den Krieg ziehen (trotz wohl auch nicht selten innerer Widerstände, laut Medienberichten), wäre Putin eine reine Lachnummer. 

Ich habe aktuell eine weitere Studie gefunden, die ein hohes Ausmaß von ACEs bei Militärs fand. 

Gottschall, S., Lee, J. E. C. & McCuaig Edge, H. J. (2022). Adverse childhood experiences and mental health in military recruits: Exploring gender as a moderator. Journal of Traumatic Stress

50.603 kanadische Rekruten / Offizieranwärter wurden befragt. 

Belastende Kindheitserfahrungen (ACEs) / Ergebnis für die Männer:

  • psychisch misshandelt: 58,1%
  • körperlich misshandelt: 37,2 %
  • sexuell misshandelt: 2,5%
  • Miterleben von häuslicher Gewalt: 21,9%
  • Haushaltsmitglied depressiv oder psychisch krank: 15,4%
  • Haushaltsmitglied Alkoholmissbrauch oder Alkoholiker: 14,6%
  • irgendeine dieser Belastungen: 70%

Belastende Kindheitserfahrungen (ACEs) / Ergebnis für die Frauen:

  • psychisch misshandelt: 56,5%
  • körperlich misshandelt: 36,1%
  • sexuell misshandelt: 10%
  • Miterleben von häuslicher Gewalt: 25,5%
  • Haushaltsmitglied depressiv oder psychisch krank: 21,7%
  • Haushaltsmitglied Alkoholmissbrauch oder Alkoholiker: 19,5%
  • irgendeine dieser Belastungen: 71%

Befragungen von US-Kriegsveteranen zeigten sogar noch höheren Misshandlungsraten, wie hier im Blog bereits besprochen. 

Auch andere Studien zeigten ein enorm hohes Ausmaß von Kindesmisshandlung bzw. ACEs bei Militärs:

Studien aus Russland liegen dazu nicht vor. Aber es ist naheliegend, ähnliche Zahlen in dieser Population zu finden. 

Zugespitzt lässt sich sagen, dass das Militär vor allem als Kind gedemütigte und verletzte Seelen in seinen Bann zieht. Das kann kein Zufall sein! In sich schlummernde Hass- und Rachegefühle, fehlendes Empathievermögen, geringeres Selbstbewusstsein, Neigung zu Schwarz-Weiß-Denken, Neigung zu Verdrängung oder Abspaltung von belastenden Erlebnissen usw. all dies sind mögliche Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen. Auf eine Art „passen“ diese Folgen zu dem Soldatenberuf und dessen besondere Anforderungen. 

Wir sehen also mal wieder: Die Kindheit ist politisch!


Mittwoch, 2. März 2022

Studienergebnis: Vergleichsweise unbelastete Kindheit von Terroristen? VORSICHT!

Für diesen Text beziehe ich mich auf die Studie:
Clemmow, C., Schumann, S., Salman, N. L., & Gill, P. (2020). The Base Rate Study: Developing Base Rates for Risk Factors and Indicators for Engagement in Violent Extremism. Journal of Forensic Sciences. Vol. 65, No. 3, S. 865-881. 

Es ist nicht das erste Mal, dass ich eine Studie finde, in der dargestellt wird, dass Terroristen eine verhältnismäßig unbelastete Kindheit hatten (siehe dazu meinen Beitrag „Neue Studie zeigt: IS-Terroristen sind extrem selten als Kind belastet. Warum dies nicht stimmen kann!“).
Clemmow et al. (2020, S. 877) schreiben in ihrer Zusammenfassung bzgl. dem Vergleich von 125 “lone-actor terrorists” und 2.108 Befragten aus der Allgemeinbevölkerung: „The general population were significantly more likely to experience a range of distal stressors such as growing up in an abusive home, being a victim of bullying, and experiencing chronic stress.” 

Solche Studien/Ergebnisse sind selten, aber es gibt sie. Also muss ich auch darauf antworten und eingehen. 

Wie schon bei meiner Kritik an der Studie von Speckhard & Ellenberg (2020) (siehe Link oben!) zeigt sich sehr schnell die Lösung des Rätsels, wenn man sich die Methodik genau anschaut. 

Vorher aber noch ein Auszug aus den Ergebnissen der Studie von Clemmow et al. (2020): 

(Blau steht für die Allgemeinbevölkerung, die andere Farbe für die Terroristen!)


Die Ergebnisse sind hoch signifikant: Terroristen haben demnach deutlich weniger Misshandlungen in der Kindheit erlitten, als die Allgemeinbevölkerung. Das gleiche gilt für Mobbingerfahrungen. 

Das Fatale an solchen Studien: In Zusammenfassungen von verschiedenen Ursacheanalyse-Ansätzen neigen WissenschaftlerInnen dazu, Studien kurz hintereinander aufzuführen und dann zentrale Ergebnisse zu nennen. Klassisch wäre z.B. der Verweis auf einzelne Studien, die ein hohes Ausmaß von belastenden Kindheitserfahrungen aufzeigen und dann in etwa so etwas anzuhängen: „Allerdings sind die Ergebnisse durchaus nicht einheitlich. Clemmow et al. (2020) fanden z.B., dass Terroristen deutlich weniger in der Kindheit belastet sind, als die Allgemeinbevölkerung.“ (Gedankenbeispiel) Und wenn sie dann ausreichend recherchiert haben, könnten sie dem noch anhängen: „Auch die Daten von Speckhard & Ellenberg (2020) zeigen kaum Auffälligkeiten in der Kindheit von Terroristen“ (Gedankenbeispiel). 

Die Message wäre klar: Wir wissen nicht wirklich, was die Ursachen von Terror sind, denn auch bzgl. Kindheitserfahrungen gibt es in der Wissenschaft ein uneinheitliches Bild! Platz für einen genaueren Blick auf solche Studien ist in solchen wissenschaftlichen Zusammenfassungen i.d.R. nicht. 

Des „Rätsels Lösung“ bzgl. der - für mich auf Grund unzähliger anderer Ergebnisse und Daten bzgl. Kindheitserfahrungen von Terroristen/Extremisten erstaunlichen – Ergebnisse von Clemmow et al. (2020) zeigt der Blick auf die Methodik! 

Die Befragten aus der Allgemeinbevölkerung entstammen aus einem online Panel, d.h., sie wurden mehrfach ausführlich direkt befragt. Die 125 Terroristen wurden nicht befragt (manche lebten auch gar nicht mehr, weil sie bei Anschlägen umkamen, das nur nebenbei): „The data were compiled from open sources, including sworn affidavits, court reports, first-hand accounts, and news reports obtained predominantly via LexisNexis searches. Additional sources such as biographies and scholarly articles were used where available and relevant” (Clemmow et al. 2020, S. 868). 

Die Herangehensweise der WissenschaftlerInnen ist grundsätzlich logisch und auch sinnvoll. Objektive Daten wie z.B. Familienstand, Ausbildung, Alter, Geschlecht, Beruf, Religionszugehörigkeit usw. lassen sich so einigermaßen gut vergleichen. Es macht allerdings gänzlich keinen Sinn, so etwas wie Misshandlungen in der Kindheit zu vergleichen. Hier geht es um ein höchst schambesetztes Themenfeld, über das i.d.R. geschwiegen wird (oder das sogar nicht mehr bewusst erinnert werden kann). Oft gilt dieses Schweigen sogar, wenn die Betroffenen direkt befragt werden (hier wäre es wichtig, dass die Studiendesigner traumainformiert sind!). Die Ergebnisse zu Traumaerfahrungen wären nur direkt vergleichbar gewesen, wenn beide Gruppen (also die Terroristen und die Allgemeinbevölkerung) den gleichen direkten Befragungen ausgesetzt gewesen wären, was nicht der Fall war. Insofern halte ich die Ergebnisse bzgl. der Terroristen für diesen Bereich für gänzlich nicht aussagekräftig! Punkt!

Andere Ergebnisse der Studie zeigen allerdings auch für mich aufschlussreiche und gewinnbringende Ergebnisse. So waren z.B. 48,6 % der Terroristen vorher kriminell eingestellt, dagegen nur 2,5 % der Allgemeinbevölkerung. 26,4 % der Terroristen wurden schon einmal inhaftiert, dagegen 0,4% der Allgemeinbevölkerung. Zu Suchtmittelmissbrauch neigten 26,4% der Terroristen, dagegen 9,5% der Allgemeinbevölkerung. Suchtmittelmissbrauch und kriminelles Verhalten sind in der Forschung deutlich mit dem Erleben von belastenden Kindheitserfahrungen „verlinkt“. Wir landen also abgleitet auch hier wieder beim Thema Kindheit...



Montag, 14. Februar 2022

Studie "Canadian Male Street Skinheads" und entsprechende Kindheitshintergründe

Für eine Studie aus Kanada wurden 14 männliche Skinheads (Alter zwischen 15 und 22 Jahre) befragt:

Baron, S. W. (1997). Canadian Male Street Skinheads: Street Gang or Street Terrorists? Canadian Review of Sociology and Anthropology. Volume 34, Issue 2, S. 125-154.

Alle Befragten waren ohne festen Wohnsitz und schlugen sich irgendwie durch. Acht Befragte waren innerhalb von 12 Monaten vor der Befragung eine Zeit lang inhaftiert. Alle Befragten waren häufig in Gewalthandlungen verstrickt. Darüber hinaus waren sie auch in anderer Hinsicht kriminell, vor allem bzgl. Drogendelikten. Neun Befragte waren in den Handel mit Drogen verstrickt. Alle Befragten nahmen verschiedene Rauschmittel zu sich. 

Politische Einstellungen / Rassismus

In dem Sample gab es ca. drei bis sechs Skinheads (je nach Fragestellung wird dies nicht eindeutig klar), die im Prinzip apolitisch waren. Sechs Skinheads waren extreme Rassisten (einer machte deutlich: „Kill everything that`s not white. Kill all the niggers“ (S. 145) ). Die anderen (wie wohl auch die Unpolitischen) waren offensichtlich hauptsächlich wegen der Gewaltevents in der Gruppe. Neun aller Befragten befürworteten allerdings auch einen gewaltsamen Systemsturz, um z.B. Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Insofern ist die Gruppe bzgl. ihrer Ansichten und politischen Einstellungen nicht homogen, die rechten Tendenzen und Neigung zu extremen Denken wird allerdings deutlich. Es ist nicht ganz einfach, alle 14 Befragte eindeutig zu kategorisieren. 

Der Autor betont (auch an Hand anderer Forschungsarbeiten), dass es Überschneidungen der Skinheadszene mit organisierten Rechtsextremnisten gibt. Das verbindende Element wäre der Rassismus und die Gewaltbereitschaft. Aus diesem Sample wurde nur bei einem Skinhead eine reger Austausch und eine Verbindung zu rechten, rassistischen Organisationen festgestellt. 

Familie und Kindheit (S. 134-136)

  • Nur drei Befragte kamen aus intakten Familien mit beiden biologischen Eltern. Ca. 78,5 % (n = 11) kamen entsprechend aus nicht-intakten Familien. 
  • 12 (85,7 %)  Befragte erlebten regelmäßig körperliche Gewalt in ihrer Familie. 
  • 10 (71,4 %) Befragte berichteten von erlittenen schweren körperlichen Misshandlungen durch Erziehungspersonen, die u.a. zu Brüchen und Blutungen führten. 
  • 4 (28,6 %) Befragte berichteten von „leichteren“ Formen von sexuellem Missbrauch 
  • 2 (14,3%) Befragte berichteten von schwerem sexuellen Missbrauch

Together the responses provide overwhelming evidence that these youths have been severely victimized by their parents” (S. 135). 

Einige Auszüge aus den Aussagen und weitere Belastungen in der Kindheit: 

My parent´s didn`t want me so I left. My parents beat the shit out of me so I thought, if they don`t want me, I´ll go with my friends” (S. 135)

There were lots of beating, always. I remember a lot of beatings, parties. Locked in my room at night so I couldn`t get out” (S. 135).

I just don´t get along with my Mom. I tried to kill her. My Mom hated me because I remind her of my father, who is in jail for a couple of murders he committed” (S. 136)

Auch manche andere Befragte äußerten Tötungsfantasien gegenüber Elternteilen. In den genannten Einzelaussagen wird auch deutlich, dass psychische Gewalt bzw. weitere Belastungen hinzukamen (Ablehnung des Kindes, Einschließen in den Raum, Inhaftierung von Elternteilen). Dies ist zahlenmäßig leider nicht in der Studie erfasst worden. 


Donnerstag, 10. Februar 2022

Kindheit des schwedischen Neo-Nazis, Söldners und Mörders X. Eine Fallstudie.

Jessica Eve Stern hat einen schwedischen Neo-Nazi ausführlich befragt: 

Stern, J. E. (2014). X: A Case Study of a Swedish Neo-Nazi and His Reintegration into Swedish SocietyBehavioral Sciences and the Law. 32(3), S. 440-453. 

X ist seit 1999 inhaftiert. Er hat zusammen mit zwei weiteren Nazis eine Reihe von Morden an Migranten verübt. Außerdem haben sie u.a. Banken ausgeraubt. Wir haben es hier also mit einem Schwerverbrecher zu tun. 

Bereits im Alter von 10 oder 11 schloss er sich der schwedischen Neo-Nazi Szene an, die ihn sehr faszinierte. Als er 18 Jahre alt war, ging er zum schwedischen Militär, war aber sehr frustriert, als er dies nach 10 Monaten wieder verlassen musste. Vor allem sah er in Schweden keine Perspektive dafür, real an einem Krieg teilnehmen zu können. Er wurde anschließend Söldner für Kroatien und machte diverse Kriegserfahrungen und tötete viele Menschen. Auch Folterhandlungen oder das Erschießen von verwundeten gegnerischen Soldaten gab er zu. Letzteres hätte er wegen dem Adrenalin und der Aufregung getan. 

Seine Kindheitsgeschichte wird nur kurz ausgeführt, allerdings deutlich. „Like many people who become violent in later life, X was beaten as a child. (…) His parents beat him, he said, from when he was five years old until he was 11” (Stern 2014, S. 447). Interessant ist hier, dass die Schläge offensichtlich in dem Alter aufhörten, als sich X den Neo-Nazis anschloss! War die Gruppe also auch eine Art Schutzschild gegen die gewalttätigen Eltern?
Es waren zudem nicht seine biologischen Eltern, sie hatten ihn adoptiert. Insofern lassen sich hier auch weitere schwere Belastungen in der frühen Kindheit im Rahmen seiner Herkunftsfamilie vermuten. Die Trennung von den biologischen Eltern wird an sich traumatisch gewesen sein. Genaueres dazu wird im Text leider nicht ausgeführt. 

Auf der einen Seite berichtete X, dass er seinen Adoptiveltern und auch seinem Bruder gegenüber Nahe stand. Auf der anderen Seite sagte er: „I don`t feel connected with anyone. I´ve always felt I don`t belong anywhere. I have always felt I have nowhere to live or to breathe” (Stern 2014, S. 447).

X wirkt auf mich, den Schilderungen folgend, wie ein Psychopath. Er suchte die Aufregung im Kampf. Krieg und Gewalt war für ihn wie eine Droge, wie er sagte. 

Wir sehen hier erneut eine ganz klassische Kindheitsbiografie eines Nazis und Mörders. Sie reiht sich ein in all die anderen Kindheitsbiografien, die ich bisher recherchiert habe. 


Mittwoch, 9. Februar 2022

Pink-Panther, Terror und Gewalt: das ängstliche Kind im Täter

Dr. James Garbarino beginnt gleich auf der ersten Seite seines eindrucksvollen Buches „Listening to Killers. Lessons Learned from My 20 Years as a Psychological Expert Witness in Murder Cases“ (2015) mit Schilderungen über den Fall „Danny Samson“ (einem Mehrfach-Mörder). „Danny“ ist ein derart bedrohlicher Mann, dass er vor Gericht von sechs Wachleuten begleitet wurde, weil man davon ausging, er könne jederzeit gewalttätig werden. Seit seinem 15. Lebensjahr verbrachte dieser Mann sein Leben abwechselnd in Freiheit und im Gefängnis. Garbarino fragte ihn, was er über sich erzählen könne, das andere Leute sehr überraschen würde. Dannys Antwort: „I cry myself to sleep at night“ (Garbarino 2015, S. 1). Garbarino kommentiert: „Afterwards, I check out his story: he does. Inside this big, scary, dangerous man is a frightened and hurt little child. You wouldn`t know by seeing him“ (ebd., S. 1).

Garbarino bringt ein weiteres Beispiel: 

Billy Bob, like many inmates, had arms that were covered with prison tattoos—skulls, crosses, women, lightning bolts. But when he opened his shirt, I saw for the first time what might be called his "private collection," tattoos. I had not seen six years earlier, tattoos that are not so often seen in public, sometimes to protect tender feelings in an otherwise brutal world.  Among them, in the middle of his chest, was the clue I had been looking for without knowing it. A tattoo of the Pink Panther, his stuffed animal from childhood. For me, this image represented the mostly invisible connection between Billy Bob the killer who sat on death row and Billy Bob the abused and neglected child who had suffered so much. lt all fit: there really was an untreated traumatized child living within this man who had brutally murdered Connie Kerry. It didn't excuse what he did, but it helped to validate why compassion for this killer was not a ridiculous bit of softhearted, wishful  thinking on my part, but rather a "scientific" perspective on him and his life, a recognition that within the scary adult was a child, a scared child whose trauma had never been addressed and had never healed” (ebd., S.48) Die extrem traumatische Kindheit von Billy Bob beschreibt Garbarino ebenfalls, diese Kindheitsbiografie macht sprachlos. 

Ich muss bei diesen Schilderungen zwangsläufig an das Bekennervideo des Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) denken: Im Mittelpunkt des Films steht die Cartoonfigur Paulchen Panther!

 „Es ist ein zynisches Dokument des Triumphes: In einem 15 Minuten langen Film feierten die rechtsextremistischen Terroristen aus Zwickau ihre Verbrechen, verhöhnten ihre Opfer, spotteten über machtlose Ermittler (…) Es gibt diese Szene, 10 Minuten und 38 Sekunden Wahnsinn sind schon vorbei, da zündet Paulchen Panther eine Rakete, die er auf dem Rücken trägt, die Musik im Hintergrund ist heiter und beschwingt, und auf dem Geschoss, das Paulchen mit einer Zündschnur in die Luft jagt, steht: "Bombenstimmung in der Keupstraße".“ schreibt der SPEIEGEL

Auch Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt hatten beide nachweisbar eine traumatische Kindheit!

Ein Teil in der Psyche dieser Leute blieb offenbar durch die Traumaerfahrungen quasi „eingefroren“ und in einem kindlichen Status. Dieser Teil konnte sich nicht entwickeln und zu einem reifen Erwachsenen-Ich formen. Das „traumatisierte Kind“ von damals drückt sich in solchen kindlichen Bildern wie oben geschildert aus. Die Öffentlichkeit schockiert es sehr, wenn eine Terrororganisation solche Kindercartoons für ein Bekennervideo nutzt. Mich verwundert dieser „kindliche“ Bezug überhaupt nicht. 

Patrick King ist einer der Organisatoren des „Tucker Freedom Convoy“ in Kanada, der sich gegen die Corona-Politik/Beschränkungen richtet. King ist ganz offensichtlich auch Rassist. Eine kurze Videozusammenfassung über seine Aussagen brachte mich überhaupt auf die Idee, diesen gesamten Beitrag hier zu verfassen. Träume von einer Revolution mit Waffengewalt sind darin u.a. zu hören. In einem Teil macht er sich offensichtlich um „Überfremdung“ sorgen und kommentiert rassistisch wie folgt: 



Das sind genau die Verhaltensweisen, um die es mir auch hier im Beitrag geht. Wir sehen einen offensichtlich gewaltbereiten, rassistischen Mann (den ich nicht mit den NSU-Terroristen gleichsetzen möchte! Mir geht es hier nur um die gezeigten Verhaltensweisen), der plötzlich in dem Videoauszug "wie ein Kind" spricht und sich darüber köstlich amüsiert, obwohl seine Aussagen widerwärtig sind. Das sind diese kindlichen Anteile, die hier im Fokus stehen und uns hellhörig machen sollten. 

Ich selbst habe 15 Monate lang meinen Zivildienst in einer Drogentherapieeinrichtung abgeleistet. Die meisten der „Klienten“ waren auch Kriminelle: Überfälle, Erpressung, Diebstahl, Urkundenfälschung, Zuhälterei/Menschenhandel usw.  Manche hatten lange Haftstrafen hinter sich. Was mir immer wieder auffiel war, dass so manche „Klienten“ teils und phasenweise kindlich wirkten (und manchmal geradezu Beschützerinstinkte bei mir auslösten). Manche erwachsene Männer hatten auch Phasen, wo sie wie pubertierende Jugendliche wirkten. Ich kann schwer beschreiben, woran ich das festmache. Ich traf damals einmal einen Zivi aus einer anderen Drogentherapieeinrichtung. Wir kamen im Gesprächsverlauf auf diese Ausfälligkeit der kindlichen Verhaltensweisen zu sprechen. Er bestätigte mir die gleiche Beobachtung! Mir tat es damals sehr gut, dies so zu hören. In einer solchen Einrichtung macht man viele Erfahrungen, die man schwer einordnen kann. Dass es nicht nur mir so ging, war eine Wohltat. 

Ich erinnere mich auch noch an eine Szene im Winter, wo einer der Psychotherapeuten mit einem Klienten um einige Autos herum fangen spielte. Der erwachsene Klient quietschte dabei wie ein Kind.  Später in der internen Therapeutenrunde berichtete der Therapeut, dass er dies bzgl. diesem Klienten bewusst hin und wieder so mache, weil er das Gefühl hatte, dieser bräuchte einige Erlebnisse, die er als Kind so nicht gehabt hätte. Ob dies nun der richtige therapeutische Weg war sei dahingestellt. 

Was bringen nun diese meine Ausführungen? Nun, sie ändern nichts an der Gefährlichkeit dieser Leute. Auch die von mir beobachteten Klienten konnten ganz normal sein oder ihre kindlichen, bedürftigen Anteile zeigen. Am nächsten Tag kam ich dann in die Einrichtung und es hieß „Klient X.“ sei heute von der Polizei mitgenommen worden, weil er die Büroeinrichtung der Therapeuten zerstört und Mitarbeiter bedroht hätte...

Ich sehe den Nutzen eher bzgl. der Analyse von Taten und Tatursachen. Wenn sich solche kindlichen Anteile von Gewalttätern offenbaren, dann – da bin ich ganz bei James Garbarino – zeigt sich das traumatisierte, bedürftige Kind im Erwachsenen. Mit solchen Menschen muss therapeutisch gearbeitet werden, so es die Möglichkeit dafür gibt. Besser noch ist, vorne anzufangen: beim Kinderschutz! 


Sonntag, 30. Januar 2022

Studie: Traumatische Erfahrungen von französischen Islamisten

Für eine Studie aus Frankreich wurden 70 Jugendliche und 80 junge Erwachsene, die sich islamistisch radikalisiert hatten und sich dem „Islamischen Staat“ anschließen wollten, befragt und analysiert:

Oppetit, A., Campelo, N., Bouzar, L., Pellerin, H., Hefez, S., Bronsard, G., Bouzar, D., & Cohen, D. (2019). Do Radicalized Minors Have Different Social and Psychological Profiles From Radicalized Adults?. Frontiers in psychiatry, 10, 644. 


U.a. wurden traumatische Erfahrungen erfasst:

  • Körperliche Misshandlungen oder sexuellen Missbrauch hatten 26,7 % erlitten.
  • Vernachlässigung oder emotionale Misshandlungen hatten 85,3 % erlebt.
  • Sucht und Drogenmissbrauch eines Familienmitglieds hatten 32 % miterlebt.
  • Vergewaltigung oder Missbrauch eines Familienmitglieds: 16 %.
  • Körperliche Misshandlung eines Familienmitglieds: 32 %.
  • Depressionen eines Familienmitglieds: 40,7 %.
  • Körperliche Gesundheitsprobleme eines Familienmitglieds: 27,3 %.

Dazu kamen diverse Auffälligkeiten bzgl. des Gesundheitszustands der befragten Islamisten. Z.B. hatten 44 % vor ihrer Radikalisierung Depressionen. 22 % hatten ein Suchtproblem und nahmen Drogen (ebenfalls vor der Radikalisierung). 29,3 % neigten vor der Radikalisierung zu Selbstverletzungen. 

Es liegt auf der Hand, sowohl den Gesundheitszustand der Befragten vor deren Radikalisierung als auch deren Weg in den Extremismus in einen Zusammenhang mit traumatischen Vorerfahrungen zu stellen. Merkwürdigerweise ist die Studie dahingehend komplett wortkarg. Im Fokus der Studie stand vielmehr - wie der Titel auch sagt - der Vergleich der beiden Befragtengruppen (Jugendliche – Erwachsene). Leider wurde auch die Methodik nur kurz ausgeführt. Es sind z.B. keine genauen Definitionen der o.g. Belastungsfaktoren zu finden. Aber dies nur nebenbei.

Bzgl. der Zusammenhänge zwischen Kindheit/Trauma und Extremismus ist dies eine wichtige Studie!


Freitag, 14. Januar 2022

Trauma-Täter und der Gehirntumor meines Nazi-Großvaters

In diesem Beitrag geht es mir um die Sicht von Menschen (dabei auch vor allem von Menschen, die zum Opfer wurden oder die Angehörige von Opfern sind) auf Täter und Täterinnen. Dem möchte ich einige Gedanken des Psychologieprofessors und Psychotherapeuten Franz Ruppert (*siehe unten eine ergänzende kritische Anmerkung bzgl. Rupperts Wirken in der Corona-Pandemie) voranstellen:

Trauma-Täter zu sein ist, wenn es einmal geschehen ist, ein bleibendes Faktum. Wenn jemand einen anderen Menschen Schaden zufügt, der nicht gutzumachen und sozial inakzeptabel ist, so ist das nicht nur für sein Opfer, sondern auch für ihn als Täter eine traumatisierende Lebenserfahrung. Sie führt zu einer bleibenden Beschädigung der Psyche. Denn aus dem Faktum des Trauma-Täterseins folgt: Solange seine Psyche gesund funktioniert, und einen Rest gesunder Psyche hat auch jeder Täter, hat ein Täter angesichts der Realität seiner Tat ein nagendes schlechtes Gewissen. Er macht sich selbst schwere Schuldgefühle, es steigen massive Schamgefühle in ihm hoch und er hat Angst vor sozialer Ächtung. Das sind auf Dauer nicht aushaltbare emotionale Spannungszustände. Daher müssen solche Gefühle aus dem Bewusstsein eines Trauma-Täters ausgegrenzt und abgespalten werden. D.h., auch Trauma-Täter sind – wie ihre Opfer – nach einer Tat gezwungen, sich psychisch zu spalten, um innerlich zu überleben. Dies umso mehr, wenn sie weiter mit ihrem Opfer oder deren Angehörigen in einer (Zwangs-)Gemeinschaft zusammen sind“ (Ruppert, Franz (2021): Die Täter-Opfer-Dynamik. In: Reiß, H. J., Janus, L., Dietzel-Wolf, D. & Kurth, W. (Hrsg.): Kindheit ist politisch – Die Bedeutung der frühen Kindheit für die Konflikt- und Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft (Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 21), Mattes Verlag, Heidelberg, S. 376) 

Das Wortpaar „Trauma-Täter“ finde ich sehr passend! Es beschreibt nach meinem Verständnis zwei Seiten: 

1. Die Täter waren (meist) vorher selbst Opfer, die Grundlage für eigene Täterschaft. 

2. Durch ihre eigene Taten werden Täter und Täterinnen ebenfalls traumatisiert. 

Meine Anmerkungen dazu: 

Je mehr Taten ein Mensch begeht, desto mehr muss er innerlich abwehren. Logisch! In der Folge wird ein solcher Mensch emotional immer „kälter“ bzw. spürt nichts mehr. Nach außen können teils große Gefühlsausbrüche gespielt/inszeniert werden, was der innerlichen Realität allerdings nicht entspricht. 

Mir geht es hier wie anfangs gesagt aber gar nicht so sehr um die Täter, sondern darum, dass viele Opfer meiner Beobachtung nach oftmals an den Tätern emotional „hängen“ bleiben. Die Taten sind unfassbar und haben so viel Leid erzeugt, ob nun das eigene Leid oder das Beobachtete. Menschen neigen dazu, von den Tätern eine Regung zu fordern, eine Erklärung, bestenfalls eine ernst gemeinte Entschuldigung, eine empathische Reaktion, etwas Menschliches, irgendetwas! Die Erfahrung zeigt, dass solche Reaktionen kaum zu erwarten sind. Im Gegenteil: Täter wie z.B. Anders Breivik bedauern noch im Gerichtssaal, dass sie nicht noch mehr Menschen getötet haben. Oder sie steigern sich in diverse Abwehrhaltungen hinein („Es waren nur Befehle, ich selbst bin das Opfer“).  

Noch verstrickter wird es, wenn die Täter (Frauen sind mitgemeint!) aus der eigenen Familie kommen. Die Opfer sind emotional gebunden und fordern noch weit mehr eine Reaktion des Täters ein, sofern sie es irgendwann schaffen, diesen zu konfrontieren. Die Erfahrung zeigt, dass die Reaktionen oder besser Nicht-Reaktionen der Täter oft nur erneute Verletzungen verursachen. Opfer sollten ihre eigene Heilung und ihren eigenen weiteren Lebensweg nicht von der Reaktion der Täter abhängig machen! 

Was aber hilft, davon bin ich überzeugt, ist, die innere Dynamik von Tätern zu verstehen. Denn dies löst Menschen von ihren Fragen und ihrem Warten auf Reaktionen. Wenn also erstens Täter oftmals selbst Opfer waren (was an sich eine innere Spaltung begünstigt) und zweitens durch ihre Taten erneut traumatisiert werden und sich dadurch noch mehr innerlich von ihrem eigenen „Ich“ abspalten müssen, dann bräuchte es wohl etliche Jahre an Psychotherapie, starken Willen und schmerzhafter Arbeit an sich selbst, damit solche Menschen zu wirklich emotionalen Reaktionen gegenüber den Opfern fähig wären. Damit sie wirklich nachfühlen und sich ernsthaft für ihre Taten schämen und entschuldigen könnten. 

Ich bin davon überzeugt, dass ab einem gewissen Grad der eigenen Täterschaft Menschen auch bzgl. menschlicher Regungen „verloren“ sind. Sie werden es in ihrem Leben nicht mehr schaffen, aus der inneren Kälte herauszutreten (im Grunde die größte Strafe für einen Menschen, der nur dieses eine Leben hat!). Menschen wie Anders Breivik z.B. haben so viele Menschen getötet, wenn er selbst dies wirklich innerlich nachfühlen könnte, was er getan hat, er würde innerlich gesprengt werden und müsste sich wohl selbst töten (Breivik strahlt es an sich auch wie ein Paradebeispiel aus: dieser Mann ist emotional absolut tot!). Das Gleiche gilt aber natürlich auch für den Täter-Vater oder die Täterin-Mutter, die jahrelang die eigenen Kinder terrorisiert haben. 

Ich möchte nicht alle Aussöhnungsprozesse und auch Therapieangebote für Täter in Abrede stellen. Bitte versteht mich nicht falsch! Jeder kleine Erfolg bzgl. Trauma-Tätern ist ein Erfolg. Und ja, sie sind und bleiben auch immer Menschen. Mir geht es schlicht darum, dass wir nicht all zu viel von Trauma-Tätern erwarten dürfen. Diese Erwartungen und auch viele Fragen an die Täter sind Fakt und auch verständlich. Ich für meinen Teil konzentriere mich lieber auf die Prävention: Opfererfahrungen verhindern und frühzeitige Aufarbeitung von Opfererfahrungen IST Täterprävention. 

Franz Ruppert hat über Trauma-Täter auch folgendes geschrieben: 

Weil sie kein eigenes Ich haben und mit sich selbst nichts anfangen können, brauchen Trauma-Täter weiterhin die Beziehung zu ihren Opfern und können diese nicht in Ruhe lassen. (…) Ohne ihre (potentiellen) Opfer sind Trauma-Täter selbst nichts! Eine leere Hülle! Wenn man bedenkt, wie viele Trauma-Opfer sich ihr Leben lang unablässig Gedanken über die Trauma-Täter machen, so muss diese Erkenntnis für sie absolut erschütternd und ernüchternd sein: Der Trauma-Täter besteht in Wahrheit innerlich aus nichts! Alles an ihm ist nur Fassade.“ (ebd., S. 380). Besser kann man es kaum zusammenfassen. 

Mein Großvater väterlicherseits war ein Nazi und bei der SS. Außerdem war er als Vater kalt und teils auch grausam. Er hatte auch seine menschlichen Seiten (Franz Ruppert würde von dem „gesunden Teil der Psyche“ sprechen, der immer bleibt). Aber er hatte auch bis zum Ende diese „innerliche Kälte“, aus der er nicht heraustreten konnte. Vor seinem Tod traf ich ihn ein letztes Mal im Krankenhaus. In seinen Augen sah ich Angst. Trauma-Täter gehen nicht in Frieden aus dieser Welt. Das ist tragisch, aber so ist es. 

Mein Großvater starb an einem Gehirntumor. Auch wenn es sicher keine empirischen Belege dafür gibt, dass Nazis häufiger an einem Tumor sterben, als andere Menschen: Für mich steht fest, dass dieser Gehirntumor auch ein Ausdruck dessen war, wie er sein Leben gelebt, was für Entscheidungen er getroffen und welche Taten er begangen hat. Als mein Großvater starb, hat mich das kaum berührt. Er war kein Mensch, dem man sich emotional nahe fühlen konnte...


* Ich schätze die Expertise von Franz Ruppert bzgl. Traumafolgen sehr, deswegen zitiere ich ihn hier! Mir ist bewusst, dass Ruppert bzgl. der Corona-Pandemie eine Haltung gezeigt hat, die eine deutliche Tendenz für Verschwörungsglaube zeigt. Seine Haltung zeigte er sehr offen auf entsprechenden Portalen wie KenFM oder Rubikon. Ich distanziere mich von solchem Gedankengut! Solange Ruppert nicht in eine verfassungsfeindliche Richtung abdriftet, greife ich allerdings trotzdem auf seine Expertise bzgl. Traumatisierungen zurück. 

Dienstag, 11. Januar 2022

Kindheit des Ex-Nazis Matthew Collins

Hate: My Life in the British Far Right“ heißt die Autobiografie von Matthew Collins (2011, Biteback Publishing, London). 

Sein Buch beginnt Collins mit Schilderungen über den Vater seiner Mutter, den er als „tyrannical father“ beschreibt, vor dem seine Mutter verzweifelt floh (S. 1). Auch der Großvater väterlicherseits scheint schwierig gewesen zu sein. Er blieb der Hochzeit seines Sohnes fern, da dessen zukünftige Frau, die Mutter von Matthew, eine Protestantin war. Dieser Großvater habe in seinem Hinterhof auch Hunde fast totgeschlagen. Collins ergänzt: „He hated my mother“ (S. 1). 

Entsprechend ist zu vermuten, dass die Kindheiten der Eltern von Matthew Collins belastet waren, was wiederum die Wahrscheinlichkeit stark erhöht, dass diese Eltern auch die eigenen Kinder belasten. Bzgl. seines Vaters wird Collins ziemlich deutlich: Sein Vater war Alkoholiker. Außerdem scheint der Vater kaum Bindungen innerhalb der Familie eingegangen zu sein. Obwohl der Vater bis zu Beginn der Grundschulzeit von Matthew in der Familie lebte, schreibt Collins: „Sadly, I have no recollection of my father ever living with us“ (S. 1).
Danach trennten sich die Eltern und Matthew sah seinen Vater nur noch sporadisch. Sein Vater habe bei den Treffen oft nach Schnaps gerochen (S. 2). „When I remember him back then I think he did care strange, detached way. But I always wondered why he couldn`t love us and our mum as much as he loved alcohol and why he wouldn`t just stay with us …“ (S. 3). 

Matthew buhlte um die Aufmerksamkeit seines Vaters, bekam sie aber nicht. Er fragte sich, ob er seinen Vater vielleicht langweilte und geht gedanklich in seine Kindheit zurück: „`Look at me, I can read! I´m the best in my class, read a book with me, please`, I`d beg. But he never did. I´d dump a hundred toy soldiers onto the floor und say `Let´s play!` but he never did“ (S. 3)

Die Familie war außerdem relativ arm, eine weitere Belastung für die Kinder. Das Verhältnis zu seiner Mutter beschreibt Collins nur sehr knapp, was vielleicht wiederum für sich spricht. Er deutet an, dass es oft Streit am Tisch gab (S. 4). Außerdem beschreibt er die Strenge „Regierung“ seiner Mutter: „My mother`s reign at home was tight, but never tyrannical“ (S. 8). Nun, wie oben erwähnt war der Vater der Mutter tyrannisch. Collins war es hier offenbar ein Bedürfnis, seine Mutter dahingehend abzugrenzen, indem er betont, sie sei nicht tyrannisch, sondern nur streng gewesen. Wie der Erziehungsalltag genau aussah, berichtet er leider nicht. 

Auch mit einem seiner Brüder geriet Matthew schon als Jugendlicher in Konflikt. Sein Bruder ging zur UNI und Matthew störte diese intellektuelle Entwicklung des Bruders offensichtlich. Über 20 Jahre habe er mit dem Bruder nicht mehr geredet (S. 10). Auch dies spricht für wenig emotionale Bindungen in dieser Familie. 

Als Jugendlicher entwickelte sich Matthew schnell zum „Problemschüler“. Er hatte den Ruf „the worst kind of bully“ zu sein (S. 8). Im Alter von 13 Jahren galt er bereits als Rassist. Die Nähe zu rechtem Gedankengut suchte er geradezu und fand seinen Weg in die Szene. Matthew fühlte sich vor allem unverstanden. Und er war voller Fragen und Selbstzweifel. An einer Stelle fragt er rückblickend auf seine jungen Jahre: „What was eating at me, why was I so angry?“ (S. 10). Ich glaube, dass seine Familiengeschichte sehr gut deutlich macht, woher all die Wut und der Hass kamen. 


Donnerstag, 30. Dezember 2021

"Kindheit ist politisch": Zwei Jahrbücher für psychohistorische Forschung zu verschenken!

Das neue Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 21 ist draußen. Der Titel lautet: 

Kindheit ist politisch – Die Bedeutung der frühen Kindheit für die Konflikt- und Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft.

In dem Jahrbuch sind viele Vorträge der diesjährigen Jahrestagung verschriftlicht. 

Ich habe zwei Exemplare zu verschenken! Bitte Email an mich, ich werfe dann Mitte Januar alle Namen in einen Topf und ziehe blind zwei.

Für das Jahrbuch habe ich zwei Beiträge verfasst: 

"Kindheitsursprünge von politischer Gewalt und Extremismus. Oder: Die Kindheit ist politisch!

und

"Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror"






Freitag, 17. Dezember 2021

Hitlers Heerführer - Lebenswege von 25 NS-Akteuren und Details über Kindheit und mögliche Traumaerfahrungen

 „Hitlers Heerführer - Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42“ (2007, R. Oldenbourg Verlag, München) von Johannes Hürter ist ein Buch, das auf den ersten Blick nicht viel über Kindheitshintergründe und potentiell traumatische Erfahrungen der hohen NS-Militärs bietet. Beim genaueren Hinsehen erschließen sich allerdings einige interessante Details! 

25 NS-Oberbefehlshaber wurden hier systematisch durchleuchtet:
Fedor von Bock, Ernst Busch, Eduard Dietl,  Nikolaus von Falkenhorst, Heinz Guderian, Gotthard Heinrici, Erich Hoepner, Hermann Hoth, Ewald von Leist,  Günther von Kluge, Georg von Küchler, Wilhelm Ritter von Leeb, Georg Lindemann, Erich von Lewinski gen. Manstein, Walter Model, Friedrich Paulus, Walter von Reichenau, Hans-Georg Reinhardt, Gerd von Rundstedt, Richard Ruoff, Rudolf Schmidt, Eugen Ritter von Schobert, Adolf Strauß, Carl-Heinrich von Stülpnagel und Maximilian Freiherr von Weichs. 

Die Geburtsdaten der Akteure schwanken zwischen ca. 1875 und 1891. 

92 % der Akteure stammten aus den damals „erwünschten Kreisen“, um einen hohen militärischen Rang einnehmen zu können: Die Väter der Akteure waren Offiziere, höhere Beamte, Gutsbesitzer oder Akademiker. Wobei mit 60 % die meisten Väter der Akteure Offiziere waren. Ich mutmaße alleine auf Grund dieser Zahl, dass ein entsprechender Anteil der Akteure auch in der Kindheit in ihrer Familie sehr militärisch geprägt wurde und entsprechende Erziehungsmethoden vorherrschten. 

Auch die Daten zur Schulbildung bringen einige Erkenntnisse zu Tage. 60 % (N= 15) der Akteure besuchten als Kind ein humanistisches Gymnasium, 40 % (N= 10) besuchten ein Kadettenkorps. 

Die 10 Kadettenschüler waren Fedor von Bock, Ernst Busch, Nikolaus von Falkenhorst, Heinz Guderian, Hermann Hoth, Günther von Kluge, Erich von Lewinski gen. Manstein, Gerd von Rundstedt, Rudolf Schobert und Eugen Ritter von Strauß. 

Wie es dort zuging, beschreibt Hürter wie folgt:
Die Kadettenhäuser (…) waren militärisch geführte, straff organisierte Internatsschulen, auf denen Kinder und Jugendliche nach strengen Regeln und weitgehend abgeschottet von der Außenwelt die für den Offiziersnachwuchs als ideal angesehene Erziehung und Schulbildung erhalten sollten. Die Kadettenanstalt wurde mit guten Gründen  als `totale Institution` beschrieben, deren Normen sich der Zögling vollständig unterwerfen musste, wenn er nicht ausgesondert werden wollte. (…) Die Erziehung war in der Regel hart, besonders in den Voranstalten. “ (S. 42). Die Erziehung war von Begriffen wie "Ehre", "Pflicht", "Gehorsam", aber auch "Verantwortung" geprägt.  

Johannes Hürter zitiert u.a. aus dem autobiografischen Roman „Die Katetten“:
Sie sind hier, um Sterben zu lernen. Alles, was Sie bisher erlebten, sahen und begriffen, haben Sie zu vergessen … Sie haben von nun an keinen freien Willen mehr; denn Sie haben gehorchen zu lernen, um später befehlen zu können“ (S. 42f.)
Der Autor zitiert auch den Heeresführer Herman Hoth: „Die Erziehung als Kadett wurde entscheidend für meine ganze innere Entwicklung. Ich habe hier in 8-jähriger Gemeinschafts-Erziehung eine glühende Liebe zum Soldatenberuf in mich aufgenommen, nicht durch Soldatenspielerei, sondern durch das Beispiel meiner militärischen Erzieher u. einen vorzüglichen Unterricht, der auf geschichtlichem Bewusstsein ruhte. Gewiss haben diese Jahre, die unter dem Zwang standen, mich sehr früh u. sehr eng in eine Gemeinschaft einordnen zu müssen, in mir das Gefühl für Disziplin, Gehorsam, Zurückstellung eigener Wünsche u. Ansichten besonders stark gefördert. Eine gewisse Überschätzung des Autoritätsglaubens, die in diesen Jahren ihren Ursprung hat, habe ich nicht mehr ganz verloren“ (S. 45f.) 

Jahrelange Erziehung in solchen Anstalten prägen und – davon gehe ich aus – traumatisieren die Kinder und Jugendlichen auch. Diese Erziehung gilt wie gesagt für 40 % der untersuchten Akteure!

Aber auch an den damaligen Gymnasien ging es rau und streng zu, wenn auch sicher nicht in dem Ausmaß, wie an den Kadetteneinrichtungen: „Die Stellung des Humanistischen Gymnasiums als Verteidigerin der Tradition gegen die Moderne besaß auch einen politischen Aspekt. Sie stützte die konservative bürokratische und akademische Klientel gegen fortschrittlich-liberale Kräfte des Bürgertums und erst recht gegen alle `Reichsfeinde`. Besonders im Wilhelmischen Deutschland verstärkten sich die autoritären und nationalistischen Züge. An der Loyalität gegenüber Kaiser und Reich gab es ohnehin keinen Zweifel. Die Schüler trugen uniforme Jacken und Mützen, die Disziplin war in der Regel streng, Sedantage und Kaisergeburtstage wurden mit Pathos gefeiert“ (S. 39).

Dazu kam mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine strenge, autoritäre Erziehung im Elternhaus, was der Autor allerdings weder im Allgemeinen, noch direkt auf die 25 untersuchten Akteure beschreibt. Die Geburtsdaten der Akteure und das bekannte Wissen um damalige Erziehungspraktiken und -einstellungen lassen allerdings viel erahnen.   

Dazu kommen vermutlich auch Traumatisierungen im Ersten Weltkrieg. Alle 25 Akteure waren „vom ersten bis zum letzten Kriegstag“ im Dienst und bestanden die „große Überlebens- und Bewährungsprobe des Ersten Weltkriegs“ (S. 70). 

Diese Akteure führten später Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion. 

Ich selbst habe in meinem Blog bereits die belastete Kindheit von Friedrich Paulus (einem der 25 hier untersuchten Führer) besprochen. Paulus besuchte keine Kadettenschule. Dies zur Ergänzung.