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Donnerstag, 25. Juni 2020

Verklärt, beschönigt, verdrängt: Kindheiten von Gewalttätern und Extremisten. Eine Mahnung an die Forschung

(aktualisiert am 27.05.2022)

Die Professorin für Psychologie Birgit Rommelspacher hat sich in einer Arbeit mit einigen jungen Rechtsextremisten befasst:
Rommelspacher, B. (2006): »Der Hass hat uns geeint«: Junge Rechtsextreme und ihr Ausstieg aus der Szene. Campus Verlag, Frankfurt am Main. 

Im ersten Teil ihres Buches befasst sie sich mit der Sozialisation und auch Kindheit von 10 Rechtsextremisten (9 männlich, 1 weiblich). Ich möchte hier einen Punkt aufgreifen, der mir nicht zum ersten Mal innerhalb der Extremismusforschung begegnet ist. In dem Kapitel „Zur Rolle der Familie“ beginnt sie wie folgt: „Vielfach wird angenommen, dass die Jugendlichen Halt und ˈGeborgenheitˈ in rechten Gruppen suchen, weil sie diese zu Hause vermissen. Wie wir aber bereits gesehen haben, gibt es auch Rechtsextreme, die sich in ihrer Familie durchaus wohl gefühlt haben“ (Rommelspacher 2006, S 33).

Im Text führt sie dann aus, um welche Akteure es hier geht. Bei Kent Lindahl, Bert Altmann, Jörg Fischer, Jörg Schneider, Ingo Hasselbach und Stefan Michael Bar macht Rommelspacher diverse Problemlagen in Familie und Kindheit aus. „Aber es gibt auch andere, die von einer sehr guten Atmosphäre in ihrer Familie berichten, wie etwa Olsen, Büttner oder Greger. Auch Christine Hewicker fühlt sich von ihren Eltern angenommen. Sie wird als jüngstes und einziges Mädchen von ihren Brüdern verhätschelt und, wie sie sagt, von allen sehr geliebt. Die Situationen sind also unterschiedlich, und so verwundert es nicht, dass in der Forschung nichts Eindeutiges über den Zusammenhang zwischen familiärem Hintergrund und Zugang zum Rechtsextremismus gesagt werden kann“ (Rommelspacher 2006, S. 34).
    Ihre Positivbeispiele sind also: Peter Olsen, Nick Greger, Manfred Büttner und Christine Hewicker. Ihre Informationen über die Sozialisation all der oben genannten Akteure stammen oft aus Büchern oder Biografien, teils aber auch aus von Rommelspacher durchgeführten Interviews. Olsen, Greger und Büttner wurden von ihr interviewt, insofern kann ich dies nicht überprüfen. Ihre Infos bzgl. Christine Hewicker hat sie allerdings aus deren Autobiografie und diese habe ich mir angesehen. Dazu gleich mehr. Vorweg sei schon einmal angemerkt, dass Christine Hewicker so rein gar nicht als Positivbeispiel bezogen auf die Familiensozialisation taugt. (Nachtrag: Über die Kindheit von Nick Greger habe ich einen eigenen Blogbeitrag verfasst. Hier gibt es Auffälligkeiten in der Kindheit und viele Fragezeichen!)

Zunächst möchte ich eine kleine Rechnung durchführen. Im ersten Teil hat die Autorin wie schon gesagt 10 Akteure in den Blick genommen. Bei 4 fand sie in den Familien bzw. der Sozialisation keine Auffälligkeiten (40%). Bei 6 fand sie Auffälligkeiten (60%). Das ist schon mal eine deutliche Mehrheit, bei der Problemlagen festgestellt werden können. Die Kindheit von Kent Lindahl habe ich kürzlich auch hier im Blog besprochen und man kann sich ein umfassendes Bild von der massiv destruktiven Kindheit, die er erlitten hat, machen. Zu den anderen 5 Akteuren hier ein paar Infos (nach Rommelspacher 2006, S. 15-34):

Jörg Fischer erlebte seinen Vater als sehr gewalttätig. Der Vater verließ zudem früh die Familie. Jörg erkrankte als Kind an Diabetes und wurde von seiner Mutter angstbeladen von der Jugendpeergroup ferngehalten. Dadurch wurde er zum Außenseiter.

Jörg Schneider kommt aus einem gewalttätigen Elternhaus. Der Vater verließ irgendwann die Familie, die Mutter übte weiterhin Gewalt gegen Jörg aus. Die Mutter heiratete erneut. Der Stiefvater war ein Pakistani, der das Familienleben nach strengen islamischen Regeln neu ordnete. Als Jörgs Mutter schließlich zum Islam konvertierte, riss Jörg aus und kam in einem Heim unter.

Ingo Hasselbach, der in Ostberlin aufgewachsen ist, wehrte sich von klein auf gegen die Lebensformen in der DDR. Die sozialistische Lebensweise seiner Eltern lehnte er ab, besonders der Vater scheint dabei zentrale Konfliktfigur gewesen zu sein. Bereits als kleiner Junge wurde er von Hippies im Prenzlauer Berg aufgenommen. Später landete er bei den Punks. Seine Eltern nahmen von diesen Entwicklungen keine Kenntnis, was als solches bereits Fragen aufwirft. Von seinem Vater fühlte er sich nie als Mensch und Sohn ernst genommen. In einem Brief an den Vater schrieb er später u.a. „Man kann nicht einfach Kinder produzieren und dann so tun, als ob sie einen nicht mehr angingen“ (Rommelspacher 2006, S. 33) Bereits mit 13 Jahren wurde er als potentieller Störer des sozialistischen Systems erfasst. Später (der genaue Zeitpunkt wird nicht angegeben, vermutlich aber war er noch minderjährig) wurde er verhaftet und machte in Einzelhaft offensichtlich traumatische Erfahrungen, die seine Gefühle abstumpfen ließen. (Nachtrag: Die Kindheit von Ingo Hasselbach ist weitaus traumatischer verlaufen, als Rommelspacher es recherchiert hat, siehe dazu hier)

Stefan Michael Bar wurde nach der Geburt seinen leiblichen Eltern weggenommen und kam in ein Heim. Seine Mutter war bei der Geburt erst 15 Jahre alt, sein Vater ein junger Gastarbeiter aus Italien. Seine Adoptiveltern lehnte er später ab und wollte auf keinen Fall so werden wie sie. Nachdem er politisch zu denken anfing, sei er mit seinen Adoptiveltern nicht mehr klargekommen.

Über Bert Altmann führt die Autorin nicht viel aus, aber sie zählt ihn nicht zu den Akteuren, die eine positive Familienerfahrung machten.

Die o.g. Angaben über Kindheits- und Familienhintergründe von Rechtsextremisten sind klassisch und in dieser Form immer wieder in entsprechenden Studien zu finden. Vor allem sind diese und ähnliche Belastungen in entsprechenden Studien i.d.R. bei der Mehrheit der Befragten auszumachen. Dies gilt auch für die Arbeit von Rommelspacher und es erstaunt insofern sehr, dass sie 4 Positivbeispiele bzgl. der Familiensozialisation nennt und entsprechend wie oben zitiert kommentiert.

Kommen wir jetzt wie angekündigt zu Christine Hewicker


 2012 kam Hewickers Autobiographie unter dem Titel „Die Aussteigerin. Autobiographie einer ehemaligen Rechtsextremistin“ im ACABUS-Verlag Hamburg heraus. Diese Autobiographie war auch die verwendete Quelle für Birgit Rommelspacher, aus der heraus sie die positive Familiensozialisation der Akteurin abgeleitet hat.
In der Tat schwärmt Hewicker zunächst über ihre Kindheit und Familie. Sie sei verwöhnt und vergöttert worden und die Eltern hätten „uns Kinder liebevoll, aber mit strengen Regeln erzogen“ (Hewicker 2012, S. 9) Bei mir schlugen bei dem zitierten Satz sofort die Alarmglocken! Wenn „Liebe“ mit „Strenge“ in einem Satz genannt wird, so bedeutet dies erfahrungsgemäß nichts Gutes.

Aber auch andere Belastungen deuten sich bereits im ersten Teil des Buches an. Ihr Vater habe nie viel über sich erzählt und sei sehr introvertiert gewesen. Später fand Hewicker heraus, dass ihr Vater als Jugendlicher im Krieg aus den ostpreußischen Gebieten fliehen musste. Verwandte hatte ihr Vater damals aus den Blick verloren und ging davon aus, dass sie umgekommen waren, was aber nicht stimmte (Hewicker 2012, S. 9). Ihre Mutter hatte ebenfalls den Krieg erlebt und dabei auch Freunde und Schulkameraden verloren. Der Großvater mütterlicherseits hatte sich schon vor der Geburt von Christine erhängt. Insofern wird hier sehr schnell deutlich, dass diese Familie alleine aus ihrer Geschichte heraus sehr belastet war.

Ihre Eltern, so führt Hewicker weiter aus, seien sehr arbeitsam gewesen und wären hauptsächlich darauf konzentriert gewesen, den Kindern eine vernünftige Erziehung und eine gute Schul- und Berufsausbildung zu ermöglichen. Und sie hängt noch an, dass sie „eine glückliche Kindheit ohne viele Entbehrungen“ hatte und sie von ihrer gesamten Familie sehr geliebt wurde (Hewicker 2012, S. 11). Im Alter von 14 Jahren kam sie mit rechtem Gedankengut in Kontakt, das sich sehr schnell auch in ihrem Dorf ausbreitete. Ebenfalls wurden ihre Brüder in diesen Bann gezogen. Mit ihren Brüdern verbrachte sie u.a. Singabende bei der Wiking-Jugend, wogegen ihre Eltern nichts einzuwenden hatten (Hewicker 2012, S. 13, 17).
Der erste Teil der Autobiographie veranlasste offensichtlich Birgit Rommelspacher dazu, das positiv dargestellte Bild, das Hewicker wortstark zeichnet, zu übernehmen. Die Belastungen dazwischen (wie oben erwähnt) überging Rommelspacher, ebenso wie das Wort “streng“, das bezogen auf die Erziehung fiel.

Im weiteren Verlauf führt Hewicker dann aus, dass sie sich in der Schule regelmäßig geprügelt hätte, vor allem, um unterdrückten Kindern zu helfen, wie sie schreibt. Dies galt auch bezogen auf ihren an Leukämie erkrankten, jüngeren Bruder, den sie gegen ältere Schüler durch Prügeleien verteidigt habe (Hewicker 2012, S. 12). Hier fällt eine erneute, schwere Belastung ins Auge: Die potentiell lebensgefährliche Erkrankung des Bruders. Die vielfach selbst ausgeübte Gewalt fällt ebenfalls ins Auge, egal wie die Begründung aussehen mag. Einer ihrer Brüder prügelte sich ebenfalls sehr oft, vor allem auch, nachdem er immer mehr in rechte Kreise hineingezogen wurde (Hewicker 2012, S. 17).

Ihre Brüder übten auch eine starke Kontrolle über sie aus, vor allem auch, als sie anfing, sich für das andere Geschlecht zu interessieren. Teils wurden Verehrer ernsthaft von ihren Brüdern bedroht. „Ich war folglich sehr bestrebt, mich aus den Fesseln meiner älteren Geschwister zu befreien. Es begann eine Zeit, in der ich mich zu einer außerordentlich widerspenstigen, trotzigen, sturen, sehr schwierigen Tochter und Schwester entwickeln sollte. Je mehr mir verboten wurde, umso mehr kämpfte ich um meine vermeintliche Freiheit. Mit meiner Mutter stritt ich fast nur noch, und meinen Brüdern büxte ich aus, wann immer sich Gelegenheit bot. Ich entglitt meiner Familie endgültig, als ich Klaus-Dieter kennenlernte. Als ich 18 wurde, hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als meine Lehre abzubrechen und auszuziehen“ (Hewicker 2012, S. 196).

Das Bild von der liebevollen Familie bekommt aber nicht nur an dieser Stelle starke Brüche. Denn Hewicker berichtet auch von mütterlichen Misshandlungen. Als Jugendliche war sie der Kontrolle ihrer Brüder entwischt und feierte und knutschte mit einem männlichen Bekannten bis 2 Uhr nachts. Dann ging es zurück nach Hause. „Ich starb mehrere Tode, als ich im Esszimmer noch Licht brennen sah. Als wir die Tür öffneten, saß meine gesamte Familie mit finsteren Mienen am Tisch. Mein ältester Bruder wetterte schon los, noch bevor meine Mutter oder mein Vater etwas sagen konnten. (…) Kai sprang auf, schrie mich an und wollte mir eine schmieren, als sein Zwillingsbruder ihn gerade noch davon abhielt. (…) Noch in dieser Nacht wurde ich von meiner Mutter mit einem Teppichklopfer aus Bast verprügelt (…)“ (Hewicker 2012, S. 22) Danach erhielt sie Hausarrest.
    Sowohl die Brüder (durch Prügeleien, aber auch wie oben beschrieben; ihr Bruder Kai fand es offensichtlich angebracht und berechtigt, vor den Augen der Eltern auf seine Schwester loszugehen), als auch die Mutter fallen durch Gewalttätigkeiten auf. Christine hatte schon zu Beginn des Buches die „Strenge“ in der Erziehung nebenbei erwähnt. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Körperstrafen keine Ausnahme in dieser Familie waren.

Wir erinnern uns an dieser Stelle an meine kleine Rechnung zu Beginn. Passen wir sie also nach der Analyse der Kindheit von Hewicker an: Bei 70 % (7 von 10) der besprochenen rechten Akteure finden sich Auffälligkeiten in deren Kindheit und Sozialisation.

Ich kann irgendwie schon etwas nachvollziehen, dass Rommelspacher auf die Verklärung und Beschönigung von Hewicker hereingefallen ist. Andererseits: Bei gründlicher Durchsicht der Autobiographie hätte man dies auch merken können. Mein wesentlicher Antrieb dafür, diesen Text hier zu schreiben, ist allerdings nicht Frau Rommelspacher schlecht aussehen zu lassen. Ich möchte meine Kritik und meine Anmerkungen eher als Ratschlag und Mahnung an die Extremismusforschung verstanden wissen. 

Von der Schwierigkeit, die ganze Wahrheit über das erlebte Kindheitsleid zu erfahren


Es ist ein psychologisch bekanntes Phänomen, dass Menschen, die leidvolle Erlebnisse in der Kindheit machen mussten, diese rückblickend umdeuten oder beschönigen. Dies gilt umso mehr, wenn Familienmitglieder Täter oder destruktive Agitatoren waren. Wie oft habe ich selbst von schwer als Kind misshandelten Menschen gehört oder gelesen, die trotzdem meinen, dass ihre Kindheit doch im Grunde „normal“ verlaufen wäre und die Eltern doch eigentlich nette Leute sind, die sich nur um die Entwicklung der Kinder sorgten? Die Frage ist immer auch, wie Akteure ihre Kindheit überhaupt objektiv beurteilen können? Man kannte ja nur die eigene Kindheit und die war nun einmal die Normalität! Um all das (inkl. des Abwehrmechanismus Identifikation mit dem Aggressor) muss man wissen.
    Darum muss man noch viel mehr wissen, wenn man sich mit Gewalttätern und Extremisten befasst. Denn dass diese Menschen zu Extremisten und Gewalttätern wurden, sagt bereits viel über sie aus: Sie müssen z.B. Realitäten ausblenden können (u.a. die Realität ihrer Opfer). Und: Sie zeigen durch ihr Verhalten bereits ein hohes Maß an Identifikation mit Aggressoren. Dass Elternteile einst Aggressoren gewesen sein könnten, sollte immer mitgedacht werden. Zumal die Forschungslage mittlerweile ziemlich gut aufgestellt ist und sowohl Gewaltverhalten, als auch Extremismus in einem ursächlichen Zusammenhang zu destruktiven Kindheitserfahrungen gebracht werden konnten.
Ich selbst habe in meinem Buch ein ganzes Kapitel zu dem Thema verfasst: „Das Schweigen der Täter: Von der Schwierigkeit, die ganze Wahrheit über das erlebte Kindheitsleid zu erfahren“. Ich bin für ein grundsätzliches (begründbares) Misstrauen, wenn von einzelnen Akteuren (oder aus Teilen aus deren Umfeld), die durch schwere Gewalttaten aufgefallen sind, erklärt wird, dass in der Kindheit alles großartig, liebevoll und normal war. Mit diesem grundsätzlichen Misstrauen im Gepäck habe ich auch auf die Ausführungen von Birgit Rommelspacher reagiert und mir selbst die Autobiographie von Hewicker durchgelesen. Mein Misstrauen war in diesem Fall mehr als berechtigt.

Von den Problemen der Forschung, das Kindheitsleid der Täter in den Blick zu nehmen. Ein weiteres Beispiel: 


Es gibt weitere Beispiele für oben besprochene Prozesse: In einer Veröffentlichung über Extremismus schreibt der Sozialwissenschaftler Lazaros Miliopoulos unter dem Zwischentitel „Sind gestörte Familienverhältnisse typisch?“ zunächst einen Satz, den ich nur unterstreichen kann: „Im Falle des (heutigen) Rechtsextremismus ist die These der gebrochenen oder zerrütteten Familiensozialisation als Ursache von Radikalisierungsprozessen weitgehend unbestritten“ (Miliopoulos 2017, S. 109). Bzgl. Islamismus und Linksextremismus sehe dies allerdings anders aus.

Im Textverlauf schreibt der Autor dann zunächst, dass sich bei Führungsfiguren des Linksextremismus im 20. Jahrhunderts zwar durchaus Auffälligkeiten in gehäufter Form finden lassen (er nennt u.a. Stalin, János Kádár und Lenin), bei anderen aber wiederum nicht (er nennt u.a. Ceaușescu, Pol Pot, Mao, Tito, Trotzki). Dazu kann ich gleich anmerken, dass ich die Kindheiten von Mao, Tito und Ceaușescu recherchiert und u.a. in meinem Buch besprochen habe. Diese Kindheiten waren alles andere als „unauffällig“, sondern ein reiner Alptraum. Über Pol Pot habe ich ebenfalls recherchiert. Seine Kindheit liegt derart im Dunkeln, dass es kaum Sinn macht, diese als unauffällig zu bezeichnen. Man weiß schlicht fast nichts über Pol Pots Kindheit.
    Bzgl. dem Linksextremismus in Westdeutschland nach 1945 nimmt der Autor ebenfalls gehäufte Auffälligkeiten wahr (u.a. bezogen auf Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Horst Mahler, Bernward Vesper). Allerdings sei das Bild auch uneinheitlich und: „Überdies finden sich in narrativen Selbstdarstellungen und biografischen Darstellungen im Bereich des Linksterrorismus auch ˈHinweise auf im Großen und Ganzen unauffällige oder behütete familiäre Bedingungen ˈ (Gudrun Ensslin, Gabriele Rollnik, Till Meyer, Fritz Teufel und Wolfgang Grams)“ (Miliopoulos 2017, S. 111).
    Über Ensslin habe auch ich recherchiert und dies in meinem Buch angemerkt. Ihre Kindheit ist ebenfalls derart unbeleuchtet, dass man keine feste Aussage treffen kann, weder in die eine, noch in die andere Richtung. Man kann nur festhalten, dass sie bei beiden Eltern aufwuchs. Auch über Fritz Teufel habe ich recherchiert. Positive Erinnerungen über seine Kindheit machte er in einem Interview, in dem er deutlich „zugedröhnt“ wirkte. Für Drogenkonsum war er ja auch bekannt. (Teufel werde ich hier im Blog irgendwann noch gesondert besprechen). Seine Angaben halte ich unter diesen Umständen für fragwürdig. Die Kindheiten von Till Meyer und Wolfgang Grams habe ich hier im Blog ausführlich besprochen. Keinesfalls kann bei den beiden von einer unauffälligen oder behüteten Familiensozialisation die Rede sein!

Till Meyer selbst hat an einer Stelle seiner Autobiographie folgendes geschrieben: „An Beachtung und Liebe fehlte es mir nicht. Trotz ihrer großen Belastung hatte ich immer die besondere Zuwendung und Aufmerksamkeit meiner Mutter. Vielleicht, weil ich der Jüngste war.“ Diese Idealisierung von Kindheit und Eltern ist klassisch. Diese Aussage mag kurz dazu verleiten, Meyer eine unauffällige Kindheit zu attestieren. Zu dieser besonderen „Aufmerksamkeit“ seiner Mutter gehörte allerdings auch körperliche Gewalt.  Hier erstaunt, dass der Autor Lazaros Miliopoulos den Akteur Till Meyer in die Liste der Unauffälligen aufnimmt, obwohl er selbst einige Passagen vorher auf „Gewalterfahrungen bei Till Meyer“ hingewiesen hat (Miliopoulos 2017, S. 110) und sich somit selbst widerspricht.

Der Autor nimmt auch einige NS-Akteure kurz in den Blick und stellt sehr richtig auch Auffälligkeiten bei vielen (u.a. Hitler, Ribbentrop, Göring, Bormann) fest (wobei hier auch einiges lückenhaft ist), die ich auch in meinem Buch ausführlich besprochen habe. Aber erneut kommt das „Aber“ hinterher: „D.h. im Umkehrschluss aber nicht, dass solcherart Auffälligkeiten in jedem Fall zutrafen“ (Miliopoulos 2017, S. 111). Und dafür nennt er als Beispiele u.a. Heinrich Himmler, Julius Streicher, Hans Frank oder Ernst Röhm. In meinem Buch habe ich mich ausführlich mit den Kindheiten von Himmler, Frank und Streicher befasst und auch hier muss ich anmerken: Diese Kindheiten waren alles andere als unauffällig, sondern sehr von Destruktivität in verschiedenen Bereichen durchzogen.

Ein weiteres Beispiel aus der Gewalt-/Extremismusforschung:
Willems (1993) hat Gerichtsakten von 148 fremdenfeindlichen/rechten Tätern ausgewertet. Drei Täter-Typen (Hinweis: meine eigene Titelbezeichnung) bzgl. Familienkontext wurden aufgestellt (Willems 1993, S. 162f.): 

1. unbelastet/intakt
2. Konflikte mit Eltern/Leistungsdruck
3. zerrüttet/destruktiv/elterliche Gewalt

Bzgl. der anteiligen Gewichtung gibt es keine Angaben. Bzgl. dem dritten Typus wird zumindest von "vieler der Straftäter" gesprochen, was eine gewisse Tendenz aufzeigt: "Eheprobleme, Scheidung der Eltern, Konflikte innerhalb der Familie, Gewalt als erzieherisches Mittel, Alkoholprobleme in der Familie, häufig Heimaufenthalte, Überbelastung der Eltern mit der Erziehung sind Merkmale, die Kindheit und Jugend vieler der Straftäter kennzeichnen" (Willems 1993, S. 164). 

Eine für solche Art Täter typische Problemkonstellation im Elternhaus habe man nicht finden können: 
"Die Textauszüge zeigen, dass in einer Reihe von Fällen familiale Strukturen beschrieben werden, die eine ungestörte Entwicklung zu einer selbstbewussten und gefestigten Persönlichkeit erlauben sollten und keine Hinweise auf Belastungen, Probleme und Erziehungsdefizite geben, die als potentielle Ursache für Gewalttätigkeit angesehen werden können. (...) Es ergibt sich also kein eindeutiges oder typisches biographisches Muster und keinerlei Hinweise auf eine Dominanz problematischer Familienkonstellationen (´Vaterverlust`) oder einseitige Erziehungsstile (autoritär vs. antiautoritär) für die in unserer Analyse erfassten Täter fremdenfeindlicher Gewalt" (Willems 1993, S. 166). 

Ich für meinen Teil lese aus dieser Studie zunächst heraus, dass Gerichte Kindheitshintergründe nicht systematisch und umfassend erfassen (z.B. durch bewährte standardisierte Fragebögen). Gerichte können aber im Prozess Hinweise/Infos liefern.
Der unbelastete Typ wird z.B. durch Aussagen wie "ordentliche und saubere Wohnung" oder "Es entsteht der Eindruck, dass die Eltern ihren Sohn gern haben" oder: Das Verhältnis zwischen dem Angeklagten "und seinem Stiefvater wird von dem Angeklagten als gut eingeschätzt. Die Eltern gaben sich Mühe (...)" oder "Seine Mutter hat eine kontinuierliche Erziehungsarbeit geleistet" (Willems 1993, S. 163) untermauert.
Wer sich mit möglichen Kindheitsbelastungen innerhalb von Familien befasst, wird hier schnell feststellen, dass solcher Art "Ausschnitte" nicht geeignet sind, eine genaue und vor allem absolute Kategorie zu eröffnen. Mit der Definition "unbelastet" muss man sehr vorsichtig sein. Keine Trennung von Elternteilen ("intakte Familie"), ordentliche Wohnverhältnisse und Aussagen vor Gericht  al la "war alles normal/gut" sind nicht gleichbedeutend mit "100%ig keine Kindheitsbelastungen".

Abschließende Bemerkungen und Mahnung an die Gewaltforschung


Dieses „Aber“ werden wir bei diesem Thema niemals weg bekommen. Wir werden nie bei 100 % der Gewalttäter, Massenmörder und Terroristen destruktive Kindheiten nachweisen können. Oft wissen nicht einmal die eigenen Ehepartner die ganze Wahrheit über die Kindheit ihres Partners (vor allem, wenn diese Kindheit sehr belastend war). Und oft wissen auch die Akteure selbst nicht die ganze Wahrheit über ihre eigene Kindheit (Stichworte: Spaltung, Verdrängung, Erinnerungsverlust). Ich möchte hier jetzt nicht alles wiederholen, was ich zu diesem Thema bereits aufgeschrieben habe (siehe das genannte Kapitel in meinem Buch). Aber (um dem „Aber“ mit dem gleichen Wort zu entgegen): Wir wissen heute sehr viel, über die Mehrheit der Gewalttäter und auch Extremisten (siehe meinen Blog bzw. Inhaltsverzeichnis). Belastende Kindheitserfahrungen sind bei der Genese von Gewalt und Extremismus ein bedeutsamer Faktor.

Die Wissenschaft sollte sich von der lupenreinen Arbeit, die natürlich vom Grundsatz her ansonsten immer wünschenswert ist, beim Blick auf Kindheitshintergründe von Gewalttätern ein Stück weit verabschieden. Sie sollte sich viel mehr wissenschaftlich und faktenbasiert mit den Problemlagen befassen, die bei der rückblickenden Betrachtung von Kindheitserinnerungen (sowohl bei den Akteuren, als auch ihrer Familie) naturgemäß vorhanden sind. Und sie sollte diese Problemlagen in entsprechenden Texten auch aussprechen, selbst wenn bei einzelnen Akteuren positive Berichte über die Kindheit zu finden sind. Letzterem sollte mit einem gesunden Misstrauen begegnet werden. Es macht keinen Sinn, Kindheitseinflüssen z.B. beim Phänomen des Extremismus ihr Gültigkeit abzusprechen, weil man bei einem Teil der untersuchten Akteure nichts Auffälliges finden konnte. Ich spreche da aus Erfahrung, aber auch auf Grundlage von viel Fachwissen, das man sich aneignen kann.

Manchmal findet sich dieses „gesunde Misstrauen“ auch in Fachbeiträgen, so z.B. bei Heitmeyer & Müller (1995), die 45 rechte Gewalttäter analysiert haben. Sie schreiben an einer Stelle: „Es bleiben schließlich insgesamt acht Jugendliche bzw. junge Erwachsene übrig, deren Schilderung ihrer Familienverhältnisse und Erziehungs- und Sozialisationserfahrungen das vorsichtige Fazit zulassen, dass sie keine subjektiv relevanten Desintegrationserfahrungen in der Familie gemacht haben.“ Der Hinweis auf das „vorsichtige Fazit“ ist hier genau richtig! Darum geht es mir in diesem Text. Mein „gesundes Misstrauen“ beim Thema Kindheit von Gewalttätern schlug aber auch wieder bei der Arbeit von Heitmeyer & Müller zu. So wurde der mütterliche Erziehungsstil von den Forschenden beim Fall „Harry“ in einer Übersicht als „demokratisch“ gekennzeichnet. In der detaillierten Darstellung berichtet Harry allerdings, dass es „schon mal ´n paar Backpfeifen oder so“ gab. Ob ein solcher Erziehungsstil wirklich demokratisch sein kann?

(Nachtrag: siehe ergänzend auch den Beitrag Kindheit und Extremismus (mit Blick auch auf den NSU). Erneute Anregung für die Forschung (vom 04.09.2020)


Verwendete Quellen (Für Quellen, die ich bereits ausführlich im Blog besprochen habe, siehe die oben gemachte Verlinkung): 

Hewicker, C. (2012):  Die Aussteigerin. Autobiographie einer ehemaligen Rechtsextremistin. ACABUS-Verlag, Hamburg.

Miliopoulos, L. (2017): Biografische Verläufe im Extremismus: Ein kritischer Blick auf ihre Bedeutung für die Radikalisierungsforschung und die Extremismusprävention. In: Ralf Altenhof, Sarah Bunk, Melanie Piepenschneider (Hrsg.): Politischer Extremismus im Vergleich. Beiträge zur politischen Bildung. Lit Verlag, Berlin. S. 105-136.

Rommelspacher, B. (2006): »Der Hass hat uns geeint«: Junge Rechtsextreme und ihr Ausstieg aus der Szene. Campus Verlag, Frankfurt am Main.

Willems, H. (1993). Fremdenfeindliche Gewalt. Einstellungen, Täter, Konflikteskalation. Leske + Budrich, Opladen. 

Sonntag, 4. Dezember 2022

Childhood is political!

This text (slightly updated version) is the English translation of:

Fuchs, Sven (2021). Die Kindheit ist politisch! Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention (DGfPI), Jahrgang 24, Heft 1, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 80-85.


Abstract: Do childhood experiences have consequences? If this question is put into relation to politics and society or even to collective things such as war, extremism, terrorism or social developments towards dictatorial regimes, then quite a few people would respond, “No, childhood has nothing to do with it!” People answer in this direct way quite promptly, but most of the time they don’t engage or really get involved to talk about these connections. I will use among other things biographies to show that childhood is indeed political and that childhood experiences itself can have political consequences.


Please imagine, dear reader, that you are a psychotherapist. In the following, I present five individual cases, anonymized at first. You will learn the real names of the “patients” afterwards. Patients come to your practice, we imagine, because of a range of mental and health conditions (addictions, mood disorders, sleep disorders, suicidal thoughts, self-loathing, etc.). In the course of anamnesis and therapy, their childhood backgrounds become clear, which I will present briefly: 

Case A: A was the first surviving child after two miscarriages; at the age of five he almost died of smallpox; after an accident suffered in childhood, his left arm was also injured and remained crippled; the father was a violent alcoholic who beat his wife and children; A’s father beat him almost every day (after one assault the child had blood in his urine for days); one day the father even tried to strangle A’s mother; when A was 11 or 12 years old, his parents separated; the father later became a vagrant; A’s mother also abused her son and she forced him into training to become a priest; A spent five years of his adolescence in a seminary which was characterized by rituals of submission to authority, humiliation by the clergy, powerlessness and punishment.

Case B: The mother had originally wanted to abort the fetus; during pregnancy, she already perceived the fetus as a difficult child who was restless and kicked her; for the infant, the mother did only what was necessary and was uncaring; early separation of parents; single mother was overwhelmed early on and asked the authorities for help; as a two-year-old, B was therefore accommodated in out-of-home care at the weekends for some time; the mother neglected and beat her son + emotional abuse; the mother behaved in a “sexualized” manner toward her son; the mother told her son she wished he were dead; the mother probably suffered from borderline personality disorder; three-week inpatient admission to a psychiatric facility as a four-year-old (along with his single mother); psychiatric team was extremely concerned after the assessment and demanded that the mother and son be separated; the father then attempted to gain custody, but failed. 

Case C and D: This is about two brothers; the father was physically violent towards the children and died early of cancer; the now single mother neglected the children, who also grew up in poverty and appeared neglected; finally, the mother became seriously ill, she asked the authorities for help, whereupon the two sons were placed in a children’s home; however, the home chosen by the authorities was very far away, which meant that neither the mother nor the other siblings could visit the brothers, they could only phone them; a few month after being placed in the home, the mother died, presumably of a drug overdose. 

Case E: E was rejected as a fetus, his mother tried to abort him, but this failed; E lost his father early and went to live with an uncle who regularly beat him and called him the “son of a cur”; the uncle was considered an argumentative and moody person and an obstinate admirer of Adolf Hitler; the uncle was eventually imprisoned for his veneration of the Nazis and E had to go back and live with his mother who had found a new husband in the meantime; he was not welcomed; the new stepfather was also brutal and beat E; in the family home there was neither running water nor electricity, and humans and animals lived together under one roof; at night, the family slept crowded together on the dirt floor to keep each other warm; since E was fatherless and an outsider, he was also teased mercilessly by the other children in the village and often beaten up.

Case F: War childhood (including escape from Jena from the Red Army), orphan: The father died when F was five, the mother died when she was 14, severe conflict and marital crisis in the parental home after mother's affair, then suicidal moods of the mother; abandonment by the mother on several occasions (children's home + relatives); the first time, F’s mother passed her to the children’s home at the age of six for about half a year (later, F wrote the screenplay for the German film “Bambule”, which depicted the hardship and attempted resistance of female adolescents in institutions); the mother had fallen in love with a fellow female student and seems to have devoted herself entirely to this relationship and her university education; after the mother's death, the whole world died for her, F later said; the mother's girlfriend became a foster mother but neglected the adolescent.  

Please remember that you are still imagining that you “are” a psychotherapist. Do you see a connection between these childhoods and the patients’ suffering and mental state, or do you rule it out? I can imagine that you recognize a connection and you are also quite right with regard to the general research situation.

Internationally, since the pioneering work of Dr. Vincent Felitti in the late 1990s, research into so-called Adverse Childhood Experiences (ACEs) has expanded tremendously. ACEs typically include stress factors such as sexual, physical and emotional abuse; neglect; parental separation; witnessing domestic violence; growing up with mentally ill or addicted family members; and witnessing the incarceration of family members. 789 professional articles that focused on various consequences of adverse childhood experiences (ACEs) were published between 1998 and 2018 (Struck et al. 2021). In addition, a full 38,411 English-language professional articles thematically related to child maltreatment emerged between the years 2000 and 2018 (Tran et al. 2018). The large meta-study by Gershoff & Grogan-Kaylor (2016) is worth highlighting: 111 studies were evaluated. The studies evaluated included data for a total of 160,927 children. 99 % of studies found harmful effects of physical violence against children and no positive effects. 17 negative effects were recorded, including, for example, aggression, antisocial behavior, mental health problems, low self-esteem, lower cognitive ability, lower internalized morals, alcohol and drug abuse, and approval of corporal punishment against children. 

Analysis of ACEs (review and meta-analysis; 253,719 respondents from 37 international studies) has found that adults who were exposed to four or more ACEs were seven to eight times more likely to be involved in interpersonal violence (violence victimization or perpetration), and 30 times more likely to attempt suicide than adults with no ACE exposure (Hughes et al. 2017). 

Adverse Childhood Experiences were also found to a strikingly high extent in the particular population of (violent) offenders (Baglivio et al. 2021, Cannon et al. 2016, Dermody et al. 2020, Graf et al. 2021, Messina & Grella 2006, Reavis et al. 2013). In one study, particularly young murderers (N = 25, mean age = 14.7) were also found to have clearly destructive childhood backgrounds: dysfunctional family (96 %), emotionally abused at home (83 %), physically abused (55 %), sexually abused (10 %); in addition, 52 % of these children/murderers had suicidal thoughts (Myers et al. 1995).

Meanwhile, the costs associated with adverse childhood experiences are also coming into focus. A 2019 study, funded by WHO, calculates the annual cost due to adverse childhood experiences (ACEs) to be US$ 581 billion in Europe and US$ 748 billion in North America (Bellis et al. 2019). “How Much More Data Do We Need? Making the Case for Investing in Our Children” is the title of a recent specialist article that makes the case that the consequences of child maltreatment are finally extensively researched and that it is time to invest heavily in children (Berger et al. 2021). 

I believe that you are a good “psychotherapist” if you recognize the connections and do long-term trauma therapy with your above-mentioned patients. However, my experience is that these relationships are often faded out or even denied when it comes to the political realm, when it comes to dictatorial/authoritarian forms of government, extremism, terrorism, war and hostile/destructive politics. All these things are most rarely associated with adverse childhood experiences. 

But now we come to the resolution (sources for each of the childhoods discussed above are in parentheses): Patient A is the mass murderer and dictator Josef Stalin (Fuchs 2019), patient B is the Norwegian right-wing terrorist and mass murderer Anders Breivik (Borchgrevink 2013, Fuchs 2019), patients C and D are the Islamist terrorists Chérif and Saïd Kouachi (Fuchs 2019, Smith 2019) who carried out the attack on the editorial office of the satirical magazine Charlie Hebdo on January 7, 2015. Patient E is the Iraqi mass murderer and dictator Saddam Hussein (Fuchs 2019) and patient F is Red Army Faction (RAF) founding member and German far-left terrorist Ulrike Meinhof (Fuchs 2019).  

I could imagine that your assessment of these personalities might now change somewhat. There is a danger, you may think, that the actions of these people would be excused if we relate them to correspondingly destructive childhoods. There is an equal danger of losing sight of the victims of the perpetrators when we focus on the victim that these perpetrators once were. An essential thought may also be that most people abused and traumatized as children do not become mass murderers and terrorists (however, I assume that you as a “psychotherapist” would not hold against your “patients” that, after all, many other people with similar childhood backgrounds do not have an addiction problem or suicidal thoughts, just a thought). The influences that must come together for a person to become a perpetrator, even a mass murderer, are undoubtedly always complex and not just dependent on childhood. And yes, certainly the step to commit the crime is also a decision of the respective perpetrator and these people have to answer for this, no matter what their childhood was like. We do not have to excuse their actions, but we should understand so that prevention can take effect. 

The much more essential and central question for me is: Would these personalities have become this kind of perpetrator if they had experienced a largely loving and violence-free childhood? Or also: with the horrors of childhood remaining the same, would they have become these perpetrators if they had received help, support, positive compensatory experiences and psychotherapy early on? 

In 2019, I published my book, “Die Kindheit ist politisch!“ (Childhood is Political!”) (Fuchs 2019; the book was reviewed in English by Peter Petschauer (2020) ). In it, I showed that the countries and regions (e.g. Iraq, Syria, Afghanistan, Egypt, Palestine, Cambodia, El Salvador, but also the USA) that strike us as “problem children” in terms of world politics (or that represent this in a shorter historical retrospect) and that represent severe political conflicts, social imbalances, war, terror and/or recruitment regions for terrorists, at the same time show an enormously high level of violence against children in various forms and, in addition, often other stress factors for children. I have conducted extensive studies and case analyses/biographies on extremists/terrorists (e.g. Andreas Baader, Zacarias Moussaoui, Osama Bin Laden), (violent) criminals, dictators (e.g. Adolf Hitler, Benito Mussolini, Francisco Franco, Nicolae Ceauşescu, Slobodan Milosevic, Josip Broz Tito, Mao Zedong, Augusto Pinochet, Manuel Noriega, Fidel Castro), belligerent politicians (e.g. Lyndon B. Johnson, Ronald Reagan, George W. Bush, Bill Clinton, Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin) NS perpetrators (including Rudolf Hess, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Adolf Eichmann) and soldiers. The conclusions from all my research come to a head in the title of the book. What all of the named personalities have in common is that their childhoods were often anything but free of violence, loving and happy. In the overall picture, it becomes clear that the above-mentioned case studies are not isolated cases or outliers. 

After the book was published, I also compiled all the studies/individual papers I could find in which right-wing perpetrators of violence / right-wing extremists had been interviewed about their childhoods. To date, I have found a total of 37 papers for which a minimum of one and a maximum of 115 right-wing personalities were interviewed. It turns out that right-wing perpetrators of violence or right-wing extremists usually had a very destructive childhood. I refer here to my abstract, which can be viewed online (Fuchs 2021). In my opinion, the empirical data is almost overwhelming and it is surprising that child protection as an essential branch of prevention of extremism has not been / is not widely discussed. 

One of these works is presented here as an example. 91 (70 male, 21 female) former US extremists / racists (from Ku Klux Klan, Christian Identity, neo-Nazi, racist skinheads groups) were interviewed. Results regarding ACE values (experiences before the age of 18): 48 % experienced physical abuse in the home, 46 % experienced emotional neglect in the home, 46 % experienced emotional abuse in the home, 23 % experienced sexual abuse in the home, 15 % experienced physical neglect in the home; 68 % experienced parent abandonment, 66 % reported parental substance abuse, 47 % witnessed domestic violence, 47 % reported parent/caregiver mental illness, and 32 % reported parent incarceration (Windisch et al. 2020). 

I advocate that we look at the possible political consequences of childhood without blinkers and that the prevention of child abuse or ACEs is also communicated as the prevention of violence, terrorism and extremism.  If this view succeeds across society as a whole, then this would subsequently necessitate one thing above all: more worldwide child protection.  

I would like to add my favorite quote (from the former director of the Clinic for Child and Adolescent Psychiatry at the University Medical Center Hamburg-Eppendorf and expert in psychotraumatology Prof. Peter Riedesser): “The more children here and around the world are neglected, beaten, humiliated and slide into hopelessness and hatred, the higher the destructive potential in our own country and worldwide. Against this background, child protection has become a question of survival. Worldwide child protection is the ideal way to prevent not only mental suffering, but also crime, militarism and terrorism. It ensures democracy and peaceful cultural and economic exchange. It takes all of our creativity and determination to make this happen. If we all wanted this in a unique act of solidarity, we would also have the knowledge and the means” (Riedesser 2002, p. 32). 


Bibliography

Baglivio, M. T.  Wolff, K. T. & Epps, N. (2021): Violent juveniles' adverse childhood experiences: Differentiating victim groups. Journal of Criminal Justice. Volume 72, 101769, https://doi.org/10.1016/j.jcrimjus.2020.101769

Bellis, M. A., Hughes, K., Ford, K., Rodriguez, G. R., Sethi, D. & Passmore, J. (2019). Life course health consequences and associated annual costs of adverse childhood experiences across Europe and North America: a systematic review and meta-analysis. Lancet Public Health. 4: e517–28. https://doi.org/10.1016/S2468-2667(19)30145-8

Berger, R., Dalton, E. & Miller, E. (2021). How Much More Data Do We Need? Making the Case for Investing in Our Children. Pediatrics, 147 (1), e2020031963; DOI: https://doi.org/10.1542/peds.2020-031963

Borchgrevink, A. (2013): A Norwegian Tragedy. Anders Behring Breivik and the Massacre on Utøya. Cambridge / Malden: Polity Verlag.

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Dermody A., Lambert S., Rackow, A., Garcia J., & Gardner C. (2020). An Exploration of Early Life Trauma and its Implications for Garda Youth Diversion Projects. Youthrise / Quality Matters, Dublin. https://youthrise.org/wp-content/uploads/2020/11/Early-Life-Trauma-and-its-Implications-for-Garda-Youth-Diversion-Services-Full-Report.pdf

Fuchs, S. (2019). Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen. Heidelberg: Mattes-Verlag.

Fuchs, S. (2021, 25. Jan.): Kindheitsursprünge von Rechtsextremismus: DIE gesammelten Studien. https://kriegsursachen.blogspot.com/2020/09/kindheitsursprunge-von.html

Gershoff, E. T. & Grogan-Kaylor, A. (2016). Spanking and Child Outcomes: Old Controversies and New Meta-Analyses. Journal of Family Psychology, 30(4), p. 453-69.

Graf, G. H.-J., Chihuri, S., Blow, M. & Li, G. (2021). Adverse Childhood Experiences and Justice System Contact: A Systematic Review. Pediatrics. 147 (1), e2020021030, https://doi.org/10.1542/peds.2020-021030.

Hughes, K., Bellis, M.A., Hardcastle, K.A., Sethi, D., Butchart, A., Mikton, C., Jones, L. & Dunne, M. P. (2017). The effect of multiple adverse childhood experiences on health: a systematic review and meta-analysis. Lancet Public Health, 2017; 2, e356–66.

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Myers, W. C., Scott, K., Burgess, A. W. & Burgess, A. G. (1995). Psychopathology, biopsychosocial factors, crime characteristics, and classification of 25 homicidal youths. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry. Volume 34, Issue 11, p. 1483-89. https://doi.org/10.1097/00004583-199511000-00015

Petschauer, P. W. (2020). Destructive Childhood Experiences and the Penchant for Authoritarians. Clio’s Psyche. Volume 26, Number 2, Winter 2020, p. 253-258. 

Reavis, J. A., Looman J., Franco, K. A., Rojas B. (2013). Adverse Childhood Experiences and Adult Criminality: How Long Must We Live before We Possess Our Own Lives? The Permanente Journal. Vol. 7, No. 2, p. 44-48. https://doi.org/10.7812/TPP/12-072

Riedesser, P. (2002): Trauma - Terror - Kinderschutz: Prävention seelischer Störungen und destruktiven Verhaltens. Vortrag bei der Verleihung des Kinderschutzpreises am 29.10.2001. Psychotraumatologie, 3(2), p. 32.

Smith, J. (2019). Home Grown: How Domestic Violence Turns Men Into Terrorists. Riverrun, London

Struck, S., Stewart-Tufescu, A., Asmundson, A. J.N., Asmundson, G. G. J. & Afifi, T. O. (2021). Adverse childhood experiences (ACEs) research: A bibliometric analysis of publication trends over the first 20 years. Child Abuse & Neglect, Volume 112, 104895. https://doi.org/10.1016/j.chiabu.2020.104895

Tran, B. X., Pham, T. V., Ha, G. H., Ngo, A. T., Nguyen, L. H., Vu, T. T. M., Do, H. N., Nguyen, V., Nguyen, A. T. L., Tran, T. T., Truong, N. T., Hoang, V. Q., Ho, T. M., Dam, N. V., Vuong, T. T., Nguyen, H. Q., Le, H. T., Do, H. T., Moir, M., Shimpuku, Y., Dhimal, M., Arya, S. S., Nguyen, T. H., Bhattarai, S., Latkin, C. A., Ho, C. S. H. & Ho, R. C. M. (2018). A Bibliometric Analysis of the Global Research Trend in Child Maltreatment. International Journal of Environmental Research and Public Health. 15(7). pii: E1456. https://doi.org/10.3390/ijerph15071456

Windisch, S., W., Simi, P., Blee, K. & DeMichele, M. (2020). Measuring the Extent and Nature of Adverse Childhood Experiences (ACE) among Former White Supremacists. Terrorism and Political Violence. https://doi.org/10.1080/09546553.2020.1767604


Montag, 27. Oktober 2008

Inhaltsverzeichnis


(Destruktive) Kindheitserfahrungen im Kontext von Krieg 


(zuletzt aktualisiert am 17.06.2011)

Hinweis: Der Text ist mittlerweile stark veraltet und auch formal nicht perfekt. Da er allerdings der Grund dafür war, diesen Blog zu gründen, lasse ich ihn selbstverständlich online. Siehe für aktuellere Texte den INDEX)


„Glückliche Menschen fangen keine Kriege an.“
(deMause, 2005, S. 109)

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Donnerstag, 14. April 2016

Kindheit von Kurt Cobain - Sein Leben als eine mögliche Ausdrucksform von Selbsthass

 
Der vierzehnjährige Kurt Cobain zu einem Jugendfreund: Ich werde ein Rocksuperstar, bringe mich um und mache einen flammenden Abgang.“ (Cross 2013, Position 780)


Ich selbst war ein Teenager, als die Band Nirvana mit ihrem Hit „Smells Like Teen Spirit“ ihren Durchbruch feierte und ein Stück weit die Mainstream Musiklinie veränderte. Ich hörte damals alles Mögliche an Musik. Ich war nie ein vergötternder, abgehobener Fan irgendeiner Band, aber ich war Fan einiger Bands, dazu gehörte eine Zeit lang Nirvana. 1994 hatte ich eine Karte für das geplante Konzert in Hamburg, was mein erster Livebesuch dieser Gruppe gewesen wäre.  Der Auftritt fiel aus, Kurt Cobain hatte sich erschossen...

Wenn ich die Musik von Nirvana heute zufällig im Radio höre, dann höre ich die Musik mit großer Distanz. Gut, ich bin kein Teenager mehr, der Musikgeschmack verändert sich. Aber es ist auch dieses offen Destruktive, das die Musik und vor allem die Texte/den Gesang durchzieht, das mich stört. Manche Melodien finde ich dagegen bis heute gut. Die Beschäftigung mit dem Sänger der Band, Kurt Cobain, ist somit ein Stück weit persönlicher, so man will, als wenn ich die Kindheit von Stalin & Co. bespreche. 

Als Student kaufte ich mir einmal ein Exemplar der „Tagebücher 1988 -1994“ von Kurt Cobain. Irgendwie hatte ich wohl immer noch Fragen offen. Warum hat Kurt Cobain so enorm destruktiv gelebt? Warum hat er sich erschossen? Wie war seine Kindheit? Wer war er überhaupt? Damals machte ich einige Notizen in den Tagebüchern, da kleine Details etwas zur Kindheit andeuteten. Aber an sich fand ich die Texte und Bilder einfach nur wirr, deshalb auch schwer zu lesen und wenig erkenntnisreich. Für diesen Text werde ich trotzdem kurz daraus zitieren.

Vor einigen Tagen sah ich in der ARD die Dokumentation „All Apologies - Kurt Cobain“ (06.04.2016, ARD) Diese Doku hat mich noch einmal motiviert, etwas genauer zu recherchieren. Man erfährt darin, dass Kurt Cobain in der trostlose Holzfällerstadt Aberdeen aufgewachsen ist, die durch den Niedergang der Holzindustrie fast zur Geisterstadt wurde. Ein destruktives Lebensgefühl lag also über der Stadt.
Kurt hatte eine relativ glückliche Kindheit, bis seine Eltern sich scheiden ließen.“, sagte eine Jugendfreundin von Kurt in der Doku. Nach der Scheidung lebte er bei seinem Vater und seiner Stiefmutter. „Von seinen Eltern fühlte er sich nicht akzeptiert“, hängt die Jugendfreundin noch an. Zeitweise war der wohl bereits ältere Kurt obdachlos, schlief unter Brücken oder im Krankenhausvorraum. Nachdem ich diese Informationen herausgefiltert hatte, wurde das Bild für mich bereits etwas klarer. Ich fragte mich aber immer noch: Reicht das aus? Kurt Cobain hatte eine derart destruktive, selbsthassende, „alles-egal“ Ausstrahlung, er war drogensüchtig und da war auch noch sein Selbstmord. Erklärt ein trostloses Umfeld, eine Scheidung, nicht akzeptiert werden und spätere kurzzeitige Obdachlosigkeit eine solchen Lebensweg – gepaart mit einer (angeblich) relativ glücklichen Kindheit in den ersten Lebensjahren?

Für die Recherche besorgte ich mir das Buch „Der Himmel über Nirvana. Kurt Cobains Leben und Sterben“ von Charles R. Cross, der auch in der o.g. Doku oft zu Wort kam. Ich muss sagen, dass mich die Details über Kurt Cobains Kindheit geradezu umgehauen haben. Es ist erstaunlich, dass mich nach den langen Jahren der Recherche über Kindheit und Folgen von Kindesmisshandlung immer noch etwas umhaut. Mich haben die Informationen in dem Buch aus zwei Gründen umgehauen.
Erstens: Seine Kindheit war ein reiner Alptraum. Ich möchte in meinem Blog möglichst seriös arbeiten und habe auch einen gewissen wissenschaftlichen Anspruch. Mutmaßungen über Kindheitsgründe bleiben Mutmaßungen, solange man keine Belege vorlegen kann. Nach allem, was ich in den letzten Jahren gelesen und recherchiert habe, ist im Angesicht von extrem destruktiv agierenden Menschen allerdings eine gewisse Grundannahme nötig. Wer glaubt ernsthaft, dass Menschen wie Kurt Cobain oder andere Hasser und Zerstörer nur „hier und da“ Destruktivität als Kind erlebten? „Hier und da“ erklärt gar nichts! Das Verhalten von Menschen spricht bereits Bände über das, was sie selbst einst erlebten. Es war doch einfach nur logisch, dass jemand wie Kurt Cobain einen reinen Kindheitsalptraum erlebte. Wie hätte es anders sein können?
Zweites haben mich die Informationen umgehauen, weil ich sie bisher nirgends wahrgenommen habe. Auf Wikipedia stehen nur Oberflächeninfos über die Kindheit, selbst in der o.g. Fernsehdoku wurden enorm wichtige Details über seine Kindheit ausgespart, obwohl man ja mit dem besagten Biografen zusammengearbeitet hatte. Wie können so wichtige Details, wie ich sie gleich besprechen werde, öffentlich so wenig Beachtung finden? Unfassbar.

Fangen wir gleich mit einer wesentlichen Information an: Kurt wurde als Kind von seinem Vater Don misshandelt. „Don war kein Mann vieler Worte und er hatte nie gelernt, Gefühle auszudrücken.“ (Cross 2013, Position 602) und „Wie einst sein Vater mit ihm war auch Don streng mit seinen Kindern. Einer von Wendys Vorwürfen an ihren Mann war der, dass er von den Kindern ständig Tadelloses Betragen verlangte – ein unmöglicher Standard – und von Kurt erwartete, er solle sich wie ein `kleiner Erwachsener` benehmen.“ (ebd., Position 439) Entsprechend gab es für alltägliche Vergehen „öfter mal eine Tracht Prügel“. (ebd.) Und ergänzend gab es Drohungen:  „(…) Dons übliche – und beinahe täglich angewandte – Methode der körperlichen Züchtigung bestand darin, Kurt mit zwei gestreckten Fingern vor die Brust oder gegen die Schläfe zu stoßen. Das tat zwar nicht besonders weh, der psychologische Schaden jedoch war enorm: Die Stöße erinnerten seinen Sohn ständig daran, dass ihm jederzeit Schlimmeres blühen konnte, und verstärkten Dons Dominanz. Kurt begann sich immer öfter in den begehbaren Wandschrank seines Zimmers zurückzuziehen.“ (ebd.) Spott und Sarkasmus beherrschten den Familienalltag ebenso wie Geldsorgen und Streitigkeiten zwischen den Eltern.

Schließlich trennten sich die Eltern als Kurt neun Jahre alt war. Die Scheidung bezeichnet der Biograf als Krieg, „der mit all dem Hass, der Bosheit und den Rachegelüsten einer Blutfehde geführt wurde. Für Kurt kam das alles einem emotionalen Super-GAU gleich – kein anderes Erlebnis in seinem Leben hatte mehr Einfluss auf die Prägung seiner Persönlichkeit.“  (Cross 2013, Position 547) Im Juni des Scheidungsjahres schrieb Kurt an die Wand seines Schlafzimmers: „Ich hasse Mom, ich hasse Dad. Dad hasst Mom, Mom hasst Dad. Man möchte einfach nur noch ganz traurig sein.“ (ebd.)
Kurz nach der Scheidung wollte Kurt zu seinem Vater (der bei seinen eigenen Eltern lebte) ziehen und tat dies auch. Dies bedeutete auch, dass Kurt unter den Einfluss seiner Großeltern – Leland und Iris - kam (Wir erinnern uns: Kurts Großvater Leland war sehr streng mit seinem Sohn, Kurts Vater, umgegangen. Außerdem hatte Leland selbst eine schwere Kindheit in bitterer Armut verbracht, sein Vater war zudem früh gestorben). Sein Vater heiratet wenig später erneut, gegen den Willen von Kurt, was neue Konflikte hervorbrachte. Es ist schon aufschlussreich, dass Kurt unbedingt bei seinem Vater leben wollte, obwohl dieser ihn doch misshandelt und gedemütigt hatte.

Über Kurts Mutter Wendy erfährt man einiges, was ich gleich noch ausführen werde, allerdings wenig über ihren Erziehungsstil. Ihr Verhältnis zu ihrem Sohn muss entsprechend miserabel gewesen sein, wenn dieser lieber zu seinem gewalttätigen Vater zieht. In seinem Tagebuch blickt Kurt Cobain auf seine Highschool-Zeit zurück und wie er erstmal Pot rauchte. Beiläufig schreibt er: „Zufällig erreichte die seelische Misshandlung durch meine Mutter in diesem Monat ihren Höhepunkt. Es stellte sich heraus, dass mir Pot nicht mehr so gut half, meinen Sorgen zu entkommen. Mir machte es richtig Spaß rebellische Dinge zu tun, wie Alkohol zu klauen, Schaufenster einzuwerfen und Schlägereien anzufangen etc. Mir war sowieso alles egal. Im Monat darauf beschloss ich, nicht bloß auf meinem Dach zu sitzen und darüber nachzudenken runterzuspringen, sondern mich wirklich umzubringen, aber ich wollte nicht aus dieser Welt gehen, ohne zu wissen, wie es ist zu bumsen.“ (Drechsler & Hellmann 2002, S. 31) Eine Seite weiter erfährt man, dass er einem Selbstmordversuch nur entging, weil der heranfahrende Zug ein Gleis weiter vorbeifuhr, statt auf dem, wo er sich hingelegt hatte. Wie konkret die „seelischen Misshandlungen“ durch seine Mutter aussahen, erfährt man nicht. Diese im Zusammenhang mit Suizidgedanken zu benennen, spricht wohl für sich.
Seine Mutter Wendy neigte zu Zornesausbrüchen, heißt es in der Biografie, allerdings auch ohne konkret zu werden.  (Cross 2013, Position 515) Kurz nach der Trennung kam sie mit einem neuen Mann zusammen, der ebenfalls zu Jähzorn und Gewaltausbrüchen neigte. (ebd., Position 539) Später, ca. 1978, brach er Wendy im Streit sogar den Arm. Wendy neigte ab dieser Zeit dazu, sich heftig zu betrinken. (Cross 2013, Position 641) Für den Freund seiner Mutter, hatte Kurt nur blanke Wut übrig. „Er konnte seine Mutter nicht vor ihm beschützen, und der Stress, die Auseinandersetzungen der beiden miterleben zu müssen, ließ ihn um ihr Leben fürchten, womöglich auch um seins. Er bedauerte seine Mutter und hasste sie sogleich dafür, sie bedauern zu müssen.“ (Cross 2013, Position 649) Kurt wurde in der Folge schwierig im Umgang mit Erwachsenen an sich, quälte und mobbte aber auch einen Mitschüler so sehr, dass dieser nicht mehr in die Schule gehen wollte. Sein Vater brachte ihn darauf einige Zeit zu einem Therapeuten.

Der mittlerweile vierzehnjährige Kurt isolierte sich immer mehr von seiner Familie; zeigte aber auch deutlich, wie es in seinem Inneren aussah. Eines Tages „warf er die lebendige Katze (Anmerkung: eines Nachbarn) in den Kamin des elterlichen Hauses und lachte, als sie starb und es im ganzen Haus zu stinken begann.“  (Cross 2013, Position 829) Experimente mit Drogen begannen bereits in der 8. Klasse, ebenfalls häufiges Schule schwänzen. (Cross 2013, Position 803) Auf seinen eigenen Wunsch hin verließ Kurt im März 1982 – im Alter von fünfzehn Jahren – seinen Vater und seine Stiefmutter um „die nächsten paar Jahre in der ´Wildnis` von Grays Harbor herumzutreiben. Obwohl er zwei längere Stopps von je knapp einem Jahr einlegte, lebte er während der nächsten vier Jahre in zehn verschiedenen Häusern, bei zehn verschiedenen Familien.“ (Cross 2013, Position 875) Eine Station davon war sein Großvater väterlicherseits, ansonsten diverse Onkel und Tanten.
In einem Brief an seinen Vater schrieb Kurt einen im Grunde alles zusammenfassenden Satz: „Ich habe nie Partei für Dich oder meine Mutter ergriffen, denn während ich aufwuchs, empfand ich für Euch beide die gleiche Verachtung.“ (Drechsler & Hellmann 2002, S. 243)

Dies sind die wesentlichen Grundzüge seiner Kindheit und Jugend. Darüber hinaus gab es Suizide in seiner Familie oder Kurt sah als Jugendlicher auch einen Jungen, der sich an einem Baum erhängt hatte. All dies wird dieses Kind schwer traumatisiert haben.
In seiner Einleitung schreibt sein Biograf: „Er war einer, der anderen seinen Willen aufzwang, gleichzeitig aber von einem schier übermächtigen Selbsthass zerfressen war. Sogar die, die ihn am besten kannten, hatten das Gefühl, ihn im Grunde überhaupt nicht zu kennen (…).“ (Cross 2013,Position 167)
In seinem Tagebuch schrieb Kurt Cobain an einer Stelle über sich: „Ich benutze Versatzstücke anderer Persönlichkeiten, um meine eigene zu formen.“ (Drechsler & Hellmann 2002, S. 91)

Jemand, der solche massive Verletzungen als Kind erlitten hat, kann keine eigene Persönlichkeit aufbauen und ist daraufhin von Selbsthass durchzogen. Arno Gruen hat viel darüber geschrieben.
Für mich ist das Rätsel um Kurt Cobain aufgeklärt. Ein Teil seines Erfolges beruht meiner Meinung nach auch darauf, dass Menschen in eine Nicht-Persönlichkeit (oder ein „falsches Selbst“) alles Mögliche hineinprojizieren können.  Kurt Cobain gab ein absurdes Statement in einem Interview ab oder schrieb einen bizarren Songtext, schon spekulierten alle wie er das gemeint haben könnte und was das über die Rebellion der Jugend aussagt usw. Aber vielleicht war es einfach so, wie er es sagte: Ohne Leben, ohne Gefühl, leer und ohne Sinn.

Um diesen Beitrag abzurunden und zum Bloggrundthema zurückzukommen. Jemand wie Kurt Cobain hatte musikalisches Talent. Dies leitete ihn auf einen bestimmten Weg. Auch ohne dieses Talent wäre sein Weg selbstdestruktiv gewesen. Wäre das gleiche Kind mit dem gleichen Kindheitsrahmen im Irak aufgewachsen, wäre er ein idealer Selbstmordattentäter. In Berlin wäre er vielleicht Linksextremist geworden. Als Kind reicher Eltern wäre er vielleicht jemand, der durch Geld und Macht andere Menschen niedermacht. Die Möglichkeiten sind so vielseitig, wie es Menschen gibt. Sein Weg wäre in allen erdenklichen Kontexten bei diesen extremen Kindheitshintergründen aber auf jeden Fall destruktiv und zerstörerische geworden.  Zumindest ohne Hilfe und Therapie. Das ist der Punkt.
Die meisten als Kind misshandelten Menschen werden keine Terroristen und Kriegstreiber. Dieser Fakt heißt aber nicht, dass sie nicht auch auf ihre eigene Art und je nach ihren Möglichkeiten ihre „Vergiftung“, ihren Hass ausdrücken. Kurt Cobain ist ein Beispiel dafür.


Quellen:

ARD  Dokumentation „All Apologies - Kurt Cobain“ (06.04.2016, ARD)

Cross, Charles R. (2013). Der Himmel über Nirvana. Kurt Cobains Leben und Sterben. Koch International / Hannibal Verlag. Kindle Edition.

Drechsler & Hellmann (2002). Kurt Cobain. Tagebücher. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Mittwoch, 24. Januar 2024

Kindheit von Pol Pot

Die Familie lebte im Vergleich zu den Leuten in ihrer Umgebung im Wohlstand (Short 2004, S.28).

Pol Pot (eigentlicher Name ist „Saloth Sâr“, ich bleibe im Textverlauf aber bei Pol Pot) hatte insgesamt fünf Geschwister, wovon drei deutlich älter waren. Drei weitere Geschwister waren gestorben, wobei in der verwendeten Quelle nicht der genaue Zeitpunkt ihres Todes genannt wird (Short 2004, S. 28). Insofern ist auch nicht klar, ob Pol Pot ihren Tod miterlebt hat oder nicht (was ein sehr schwerer Belastungsfaktor für ein Kind wäre). Bei insgesamt drei toten Kindern halte ich es zumindest für wahrscheinlich, dass er den Tod von mindestens einem Geschwisterkind miterlebt haben könnte.

Über die Säuglingszeit von Pol Pot fand ich keine Informationen. Allerdings sei an dieser Stelle auf den im ländlichen Raum der Region traditionell verbreiteten Glauben an „Geister-Mütter“ aus dem vorherigen Leben erinnert.
In Kambodscha gab und gibt es vor allem im ländlichen Raum traditionelle Vorstellungen bezogen auf das neugeborene Kind, die von wesentlicher Bedeutung sind. Ein zentraler Glaube ist, dass das Neugeborene durch seine Mutter aus dem früheren Leben (Glaube an Wiedergeburt) stark beeinflusst werden kann. Sobald das Neugeborene seinen ersten Atemzug tut, muss die Verbindung zur früheren Mutter abgetrennt werden, wofür es einige Rituale gibt. Trotzdem bleibt die Angst groß, dass die frühere Mutter eifersüchtig oder wütend werden könnte, wie die neue Mutter mit dem Kind umgeht und es aufzieht. Passiert dem Kind irgendetwas, könnte dies durch die frühere Mutter beeinflusst sein und wirft ein schlechtes Licht auf die neue Mutter. Aus diesem Grund sind viele Mütter bemüht, nicht allzu herzlich und liebevoll, aber auch nicht all zu aggressiv mit dem Kind umzugehen. „(…) many mothers, for example, are encouraged not to be seen to be either too affectionate or too aggressive towards the child in case it creates jealousy or anger in the previous birth mother. If a child smiles before 3 months old it can be interpreted as a signal that it can see its preceding mother. Where she is jealous or angry she might again try to 'take the child back'.” (Miles & Varin 2006, S. 15).
Ein Baby, das lächelt, wird demnach also nicht auf Freude stoßen, sondern auf Angst. Dass dieser Glaube den gesamten Umgang mit Säuglingen und Kindern negativ beeinflusst, liegt nahe. Die Folgen dieses Glaubens für die Entwicklung eines Kindes sollten nicht unterschätzt werden. Was bedeutet es für ein Kind, wenn es auf die Welt kommt und die eigene Mutter voller Ängste ist, weil da noch die andere Mutter aus dem „vorherigen“ Leben im Hintergrund steht? Symbolisch steht etwas Grundlegendes zwischen Mutter und Kind: eine andere Mutter. Wie kann so eine emotional gesunde Entwicklung glücken?

Der Biograf Philip Short schreibt mit Blick auf die Kindheit von Pol Pot: „Cambodians, at that time even more than today, lived parallel sets of lives: one in the natural world, among the laws of reason; the other, mired in superstition, peopled by monsters and ghosts, a prey to witches and the fear of sorcery. In this sense Cambodia was, and to some extent is still, a medieval country, where even the King takes no important decision without first consulting the court astrologer.” (Short 2004, S. 28).
Ich halte es entsprechend für hoch wahrscheinlich, dass auch Pol Pot als Säugling so behandelt wurde, wie zuvor oben beschrieben (auffällig ist in diesem Kontext auch, dass der Vater von Pol Pot als sehr „neutral“ in seinem Verhalten beschrieben wird und nicht mit seinen Kindern lachte – siehe unten).  

Das jüngste Kind der Familie, Neph, erinnert sich an die Eltern, beginnend mit dem Vater, wie folgt: „He never joked with us, or with anyone else. If he was angry, he didn’t show his feelings or become violent. He always remained calm. Our mother was the same, and I think that’s why they got on so well” (Short 2004, S. 31) Der Vater “was a disciplinarian, like most Cambodian fathers, but by the standards of the time the chastisement he meted out was mild.” (Short 2004, S. 31). 

Wir bekommen hier ein Bild gezeichnet, das grundsätzlich mit Vorsicht zu beurteilen ist. Denn das Bild kommt von einem Kind (Neph) der Familie, negative Episoden mit den Eltern können ausgeblendet und/oder ein idealisierendes Bild der Eltern gezeichnet worden sein. Wir wissen heute, dass Menschen grundsätzlich dazu neigen, Eltern im Rückblick eher milde zu beurteilen. Das ist das Eine. 

Dennoch bekommen wir in diesen Zeilen einige aufschlussreiche Informationen. Die Eltern hätten sich relativ neutral gegenüber den Kindern verhalten. Außerdem wird trotz der Zeichnung des Vaters als nicht gewalttätig dennoch darauf verwiesen, dass er auch der Strafende war, wie bei den meisten Vätern der Region, wenn auch in milderen Formen. Wir können nicht ausschließen, dass dies auch Gewalt beinhaltete. 

Bis zum heutigen Tag sind Körperstrafen in der Familie in Kambodscha erlaubt (Global Partnership to End Violence Against Children 2023). Das Ausmaß von (schwerer) Gewalt gegen Kinder in den Familien ist extrem hoch: „One in two of Cambodia’s children have experienced severe physical discipline, and one in four has experienced emotional abuse” (Global Partnership to End Violence Against Children 2020). (Siehe ergänzende zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in dem Land auch einen älteren Blogbeitrag von mir!)

Pol Pot wurde je nach Quelle 1925 oder 1928 geboren, damals werden Körperstrafen noch weitaus mehr als legitime Erziehungs-Norm verinnerlich und zur Routine gehört haben, als heute. Körperstrafen werden dann dem Zeitgeist nach oftmals nicht als Gewalt definiert, auch nicht von den Menschen, die dies („notwendige“ Erziehung) seitens der Eltern erlebt haben.

Interessant ist auch, dass der Biograf Short in diesem Kontext den Schul-/Studienfreund von Pol Pot, Keng Vannsak, bzgl. dessen Schulzeit im Dorf zitiert. Ungehorsam wurde damals durch den Dorflehrer hart bestraft: “How he beat me! Kicks and punches . . . he was brutal! Then he took me outside, and put me under a grapefruit tree – full of red ants!” (Short 2004, S. 32).
Und er fügt an: “Yet punishments like this were so much the norm for Cambodian youngsters that Vannsak remembered that same teacher as ‘an adorable, saintly man’ who first instilled in him a love of learning” (Short 2004, S. 32). Hier sehen wir überdeutlich die starke Identifikation mit dem Aggressor. Ob Pol Pot auch vom Dorflehrer geschlagen wurde, scheint nicht belegt zu sein (sollte aber von der Wahrscheinlichkeit her mitgedacht werden). 

Diese Textstelle ist eine deutliche Mahnung auch bzgl. der oben zitierten positiven Aussagen von Neph über seine Eltern. Zudem erhalten wir hier Informationen über Strafformen gegen Kinder im ländlichen Kambodscha der damaligen Zeit. Viele Kinder werden ähnliches erlebt haben. 

Keng Vannsak hat außerdem auch Zuhause seitens des Vaters schwere Gewalt erlebt: Der Vater, “who used to tie his arms together, throw him on to a bed and beat him with a cane until he fainted” (Short 2004, S. 32). Pol Pot und seine Geschwister hätten da mehr Glück gehabt, hängt Short dem an.

Auch Chandler (1992, S. 8) betont, dass es keine Belege dafür gebe, dass Pol Pot derartige Konflikte mit seinem Vater hatte, wie es z.B. bzgl. Stalin oder Mao überliefert ist. Er erwähnt in diesem Kontext aber auch, dass Pol Pot in Unterhaltungen mit anderen Menschen nie seine Eltern erwähnte und sich ausschwieg. 

Sofern das Bild, das Neph gezeichnet hat, einigermaßen stimmen sollte, kamen allerdings spätestens im Alter von sechs oder neun Jahren schwere Belastungen auf Pol Pot zu (Short (2004) geht von dem Geburtsjahr 1925 aus, Chandler (1992, S. 7) nennt ebenfalls auch das Jahr 1925, hält aber das Geburtsjahr 1928 für plausibler, was bedeuten würde, dass Pol Pot bereits im Alter von sechs Jahren seine Familie verlassen musste, was Short auch genauso ausführt: Pol Pot habe seine Familie im Alter von sechs Jahren verlassen müssen Chandler (1992), S. 8).
Der Junge sollte dem Willen der Eltern nach in Phnom Penh zur Schule gehen und zukünftig bei Verwandten leben. Dies war kein ungewöhnlicher Schritt, es gehörte zur Tradition des Landes, dass (oft wohlhabendere) Verwandte Kinder aufnahmen und diese informell adoptierten (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 11). Für die Kinder bedeutete diese eine Trennung von ihren Eltern. 

Bevor es soweit war, wurde Pol Pot aber noch für ein Jahr auf ein strenges, buddhistisches Kloster (Wat Botum Vaddei) geschickt, in dem jedes Jahr ca. einhundert Kinder neu aufgenommen wurden.
Monastic discipline was strict. As a novice, Sâr was part of a rigidly ordered community in which (…) originality and initiative were discouraged, the least deviation was punished and the greatest merit lay in unquestioning obedience to prevailing orthodoxy” (Short 2004, S. 35).

Ein Mitklosterschüler von Pol Pot berichtet über die strenge Disziplin vor Ort u.a.:
And you were given a thrashing if you didn’t do as they said. If you didn’t walk correctly, you were beaten. You had to walk quietly and slowly, without making any sound with your feet, and you weren’t allowed to swing your arms. You had to move serenely. You had to learn by heart in pali the rules of conduct and the [Buddhist] precepts so that you could recite them without hesitation; if you hesitated, you were beaten” (Short 2004, S. 35). Dieser Unterwerfung und Gewalt wird auch Pol Pot nicht entronnen sein.
Chandler (1992, S. 9) merkt bzgl. der Zeit im Kloster an: „At six or seven and recently separated from his parents, Sar must have been traumatized by the solemn discipline of the monastery, even though there would have been other little boys with shaven heads wearing yellow  robes with him. (…) Sar was also forced to be obedient.”
Jetzt wird es interessant. Denn Chandler, der wie gezeigt deutliche Worte bzgl. einer Traumatisierung im Kindesalter findet, merkt nur wenige Sätze danach an: „In examining his early years, I found no traumatic events and heard no anecdotes that foreshadow his years in power“ (Chandler 1992, S. 9). Er sei außerdem ein liebenswertes Kind gewesen.
Dass sich Biografen und Historiker bzgl. der Kindheit ihrer Untersuchungssubjekte selbst widersprechen, erlebe ich nicht zum ersten Mal. Hier spielt meiner Meinung nach u.a. fehlendes Fachwissen über Traumatisierungen und Traumafolgen, aber auch fehlendes gesellschaftliches Bewusstsein bzgl. der vielen verdeckten und offenen Belastungen, denen Kinder ausgesetzt sind, mit rein.  

Nach dem Jahr im Kloster wurde Pol Pot im Haus seines älteren Bruders in Phnom Penh aufgenommen und ging vor Ort zur Schule. Mit seinen Eltern im Dorf scheint er nie wieder zusammengelebt zu haben. 

In einem kriminologischen Artikel befassen sich die Autoren de Vries & Weerdesteijn (2018) mit Pol Pots Sozialisation und Kindheit vor dem Hintergrund seiner Verbrechen. Das dauerhafte Weggeschickt werden im Kindesalter wird die Bindung zu seinen Eltern deutlich belastetet haben, schreiben sie. Zusätzlich zitieren sie aus der kriminologischen Forschung, dass eine schwache Bindung an Eltern mit abweichendem Verhalten in einem Zusammenhang steht (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 15). Eine logische und zulässige Verbindungslinie, wie ich finde. 

Pol Pot besuchte später regelmäßig seine Schwester, die im Palast des Königs lebte (Infos über weitere Beziehungen der Familie zum Königshaus siehe auch Chandler (1992), S. 8). Bei diesen Besuchen kam es, den Erinnerungen von zwei Palastfrauen zufolge, auch zu sexuellem Missbrauch durch die Frauen des Harems. „At fifteen, Sâr was still regarded as a child, young enough to be allowed into the women’s quarters. (…) The young women would gather round, teasing him, they remembered. Then they would loosen his waistband and fondle his genitals, masturbating him to a climax. He was never allowed to have intercourse with them. But in the frustrated, hothouse world of the royal pleasure house, it apparently afforded the women a vicarious satisfaction.” (Short 2004, S. 42).

Später wechselte Pol Pot auf eine Technikerschule. Während dieser Zeit waren seine Mitschüler feindlich gegenüber ihm eingestellt und er fühlte sich sehr einsam (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 16).

Die Ironie der Geschichte wollte es, dass Pol Pot während eines Auslandsstudium in Paris mit den kommunistischen Ideen in Berührung kam, die seinen weiteren Weg prägen sollten (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 16).

Fazit

Auch wenn es vielen anderen Kindern aus der Zeit und Region – den Biografen nach - noch schlimmer ergangen zu sein scheint, so bleibt es eine Tatsache, dass auch Pol Pot nicht verschont wurde: seine Kindheit war deutlich und mehrfach belastet. Seine Kindheit fügt sich ein in die lange Reihe von belasteten Kindheiten von Diktatoren und Massenmördern. 

Die Recherchen bzw. dieser Text hier zeigen allerdings auch überdeutlich gerade auf die Kindheiten der Vielen. Diktatoren wie Pol Pot sind nur in einer Gesellschaft möglich – so meine These – in der ein bedeutsamer Teil der Menschen als Kind traumatisiert wurde (Stichworte aus dem Text: Glaube an „Geister-Mütter“ und entsprechender Umgang mit Säuglingen, verbreitete Weggabe von Kindern, Gewalt gegen Kinder in der Familie, Schule und in Klöstern). Dies bildet das Fundament für den kollektiven Wahn und Terror, der sich Bahn brechen kann (nicht muss). 


Quellen:

Chandler, D. P. (1992). Brother Number One: A Political Biography Of Pol Pot. Westview Press, Boulder – San Francisco – Oxford.

Global Partnership to End Violence Against Children (2020). IN CAMBODIA, FORMAL SOCIAL WORKERS NOW REACH ALL 25 PROVINCES. https://www.end-violence.org/articles/cambodia-formal-social-workers-now-reach-all-25-provinces

Global Partnership to End Violence Against Children (2023). Corporal punishment of children in Cambodia. https://www.endcorporalpunishment.org/wp-content/uploads/country-reports/Cambodia.pdf

Miles, G. & Varin, S. (2006). Stop violence against us! Summary report 2: a preliminary national research study into the prevalence and perceptions of Cambodian to violence against and by children in Cambodia. World Vision International Resources on Child Rights. https://archive.crin.org/en/docs/stop_v_cam.pdf

Short, P. (2004). Pol Pot: The History of a Nightmare. Hodder & Stoughton, London (Kindle-E-Book Version)

Vries & Weerdesteijn (2018). The Life Course of Pol Pot: How his Early Life Influenced the Crimes he Committed. Amsterdam Law Forum 10(2), S. 3-19. 


Donnerstag, 19. Mai 2022

The Childhood of Vladimir Putin

(original in German: https://kriegsursachen.blogspot.com/2022/05/die-kindheit-von-wladimir-putin.html; translation by Gabriella Becchina)

 PDF file for download, see here!


Introduction

“Does Putin's traumatic childhood have a link with Ukraine and other wars? Looking at his backstory does not justify his actions but offers one of the many explanations for an unfolding crisis. And a lesson for many of us” (Singh 2022). I can’t but agree. His childhood explains a lot and yet excuses nothing!

In addition, one must keep in mind that there is also an inherent connection to childhood and trauma experiences in Russia. Russia is not just Putin. His actions would not be possible without the direct or tacit support of countless people. Childhood in Russia was and is a great source of strain (see: “The Cruel and Brutal Russian Family of the 17th Century and the Relation to Contemporary Times” (Fuchs 2022) and “Childhood in Russia” (Fuchs 2014). Of course, this also has (political) consequences.

Parents traumatized by war

Let us now tackle his childhood and family backgrounds. Putin's father fought on the front lines during World War II and was almost killed. Putin's mother also nearly died when her hometown of Leningrad was besieged and starved (Baker & Glasser 2005, p. 40).

In an article, Vladimir Putin (2015) explicitly described his parents' war experiences. His father was part of a diversion group of 28 people. They were once ambushed. His father survived only because he spent hours burying himself in a swamp and breathing through a reed. Of the 28 men, only four returned alive. Putin's father was immediately sent back to the front. There he was badly wounded and almost lost a leg. He had metal splinters in his body all his life. He was only fortuitously saved because a neighbor found him and dragged him to the military hospital at the risk of his life. While there, he diverted food for Putin's mother and their three-year-old son, which led to Putin's father sometimes fainting from hunger. Meanwhile, his mother had to withstand the siege of Leningrad. Her son was eventually taken away from her. He came into a home to save him from starvation. However, the little boy fell ill with diphtheria and died.

He was buried in a mass grave with over 470,000 further people (Myers 2015, p. 11). The family had previously lost a child who had died shortly after birth (Baker & Glasser 2005, p. 40).

At the time, Putin's mother was also closer to death than to life. Putin goes on to tell how one day his father was walking home on crutches. Paramedics were carrying bodies outside, including Putin's mother. The father discovered that she was still breathing. He cared for his wife and was able to save her (Putin 2015). Putin adds that five of his father's six brothers died in the war. His mother also lost relatives.

Putin's parents combined must have been highly traumatized people. We know today that this can put a heavy burden on the offspring (keyword: transgenerational transmission of trauma).

Childhood nightmare

The family lived in only one room and Vladimir's life arguably took place mainly outside and in backyards. "Everyone somehow lived within themselves," as recounted later by Putin in his description of that period and life with his parents. "I can't say that we were a very emotional family, that we discussed anything much. They kept a lot to themselves. I still wonder today how they dealt with the tragedies” (Seipel 2015, chapter: “Upheavals of the Past”). Another source describes how his parents left the boy to his own devices and he basically grew up as a type of street kid (Retter 2022). The living conditions were poor, they had to share the kitchen with others; to wash, the family went to public washhouses and often had to dodge hordes of rats in their home (Baker & Glasser 2005, p. 41).

Putin's father is described as a hard, strict and silent man who showed no feelings towards his son Vladimir and often argued with him. Once Vladimir left town with his friends without telling his parents. When he returned home, his father beat him with a belt (Baker & Glasser 2005, pp. 41f.). The biographer Steven Lee Myers (2015, p. 12) describes him in a very similar way: "Vladimir`s father was taciturn and severe, frightening even to people who knew him well." Myers (2015, p. 14) confirms the previously described fatherly violence against the son as well.

"His father was, by all accounts, concerned primarily with discipline, not with the quality of schooling his son received," writes Gessen (2014, p. 47f.) and adds that the boy initially had little interest in his education and most of the biographical descriptions from this period centered on the many "fistfights of his childhood and youth". On the street and with regard to the other boys, everything revolved around “constant drinking, cursing, fistfights. And there was Putin in the middle of all this,” reported a former classmate (Gessen 2014, p. 48).

Putin's former teacher, Vera Gurevich, relayed that she once visited the father and explained to him that his son was not developing his full potential. The father replied: "Well, what can I do? Kill him or what?" (Myers 2015, p. 15). Quite an unusual answer, which in turn testifies to the roughness of this person.

Putin, who was younger and slimmer than the other children around him, tried to hold up by persistently fighting. He also brought this violence to school, which got him into trouble and made him an outsider: "The school punished Putin by excluding him from the Young Pioneers Organization - a rare, almost exotic form of punishment, generally reserved for children who were held back repeatedly and essentially deemed hopeless. Putin was a marked boy: for three years, he was the only child in the school who did not wear a red kerchief around his neck, symbolizing membership in the Communist Organization for ten-to-fourteen-year-olds” (Gessen 2014, p. 48).

“As is almost always the case with bullies, Putin started out as a victim. (…) he was bullied and humiliated as a child” (Strick 2022). Myers also confirms that Putin was bullied and attacked because of his small size (Myers 2015, p. 15, 153). Ihanus (2022) describes another scene in which attacks against Putin took place: "His former teacher Vera Gurevich once said that the small Putin was locked by other schoolmates in the girls’ toilet where the girls slapped him."

Learning martial arts was evidently a way for the young Putin to be able to defend himself. He was used to violence since childhood. His teacher Vera Gurevich reported that when Putin broke the leg of one of his classmates at the age of 14, he said that some people "only understand violence" (Welt-Online 2022).

Are Putin's parents his biological parents?

In a research series (Dobbert 2015), Die ZEIT newspaper addressed the subject of Vera Putina, the woman who claims to be Vladimir Putin's real mother. Apparently, there is some evidence to justify publishing this story (including similarities in facial features between her and Putin). I myself don't want to skip this chapter, thus referring to the article (which can be viewed online and is very interesting). However, questions obviously still persist and there is no absolute certainty (through a genetic test) about this story. If the story is true, then Vladimir had an ominous odyssey of changing caregivers behind him, which would have implied an enormous burden for the child.

The story goes like this: Vera Putina fell in love with a man named Platon Privalov and became pregnant. Only then did she find out that he was married, and broke up with him. She moved in with her parents. During that time, she had to leave her barely two-year-old son with her parents for weeks at a time because her work took her out of town. Eventually, she met a Georgian, married him and moved to Georgia with her illegitimate son. A girl was born. For years there was a dispute about the boy. Her husband no longer wanted him to stay. Once her husband's sister simply gave the boy away to a strange man. The mother went looking for her son and brought him back. After that, she decided to place him with her parents again. However, her father became very ill and the boy had to move to foster parents who were distant (childless) relatives of her parents: Vladimir Spiridonovich Putin and Maria Ivanovna Putina (Putin's official parents).

Stanislav Belkovsky (2022, pp. 42f.) also doubted the official version of Putin's origins in his biography of Putin and basically explained the ZEIT story in a similar way (his book was originally published in 2013, i.e. before the ZEIT article). As a result of these experiences, Vladimir had become a withdrawn and grim child. In addition, he has hated Georgians as an ethnic group and as a category since then.

I find a further piece of information regarding the above-mentioned context noteworthy. Sadovnikova (2017, p. 30) specifies that Putin's father wanted a son. The mother actually didn't want a child (let’s also remember: she had lost two children before), but agreed. In this respect, Putin was an unwanted child on the part of his mother (which may have influenced the mother-son bond). For one. According to the source, the father wanted a son, which there is approximately a 50/50 chance for through natural pregnancy. The situation is different when a son is "offered" through relatives, as suggested in the above-mentioned ZEIT article. Just as an additional mental note.

Closing remarks

It is safe to say that Vladimir Putin's childhood was not "exotic" in the Russia of that time. Many Russians grew up with parents traumatized by war, in poverty and with violence, and were neglected and/or experienced the death of family members. With it loomed the shadows of Russian history: e.g. the oppression by the tsars, Stalin's terror, famines, all the wars, serfdom and despotism. Still, I would not use this information and background to say that not all people who grew up this way became like "Putin" (which is often used as an argument to downplay any contingent bearings). Needless to say, there is something psychopathic about Putin that few people develop in this fashion. However, his actions would not have been possible without the direct or tacit support of countless Russian people (including those following and helplessly frozen), as I already wrote at the beginning. The circle is now closing, especially in light of the suffering and trauma endured by many!

Or as Juhani Ihanus (2008, p. 255) expressed it: "The mystery and charisma of the leader reflect the secrets of abuse, shared by the majority of Russians in one form or another."



Bibliography

Baker, P. & Glasser, S. (2005). Kremlin Rising: Vladimir Putin's Russia and the End of Revolution. A Lisa Drew Book/Scribner, New York. Kindle e-book Edition.

Belkowski, S. (2022). Wladimir: Die ganze Wahrheit über Putin. Redline Verlag, München (3rd edition). Kindle e-book edition.

Dobbert, S. (2015, May 7): Vera Putina’s Lost Son. DIE ZEIT. https://www.zeit.de/feature/vladimir-putin-mother

Fuchs, S. (2022). Die grausame und rohe russische Familie des 17. Jahrhunderts und der Bezug zur heutigen Zeit. https://kriegsursachen.blogspot.com/2022/04/die-grausame-und-rohe-russische-familie.html

Fuchs, S. (2014). Kindheit in Russland. https://kriegsursachen.blogspot.com/2014/04/kindheit-in-russland.html

Gessen, M. (2014). The Man Without a Face: The Unlikely Rise of Vladimir Putin. Granta, London. Kindle e-book edition.

Ihanus, J. (2008). Putin the Aging Terminator: Psychohistorical and Psychopolitical Notes. The Journal of Psychohistory, Winter 2008, 35(3), S. 240-269. 

Ihanus, J. (2022). Putin, Ukraine, and Fratricide. (will be published in Clio's Psyche, spring issue, discussed in advance and sent to participants of the "Psychohistory Forum Virtual Meeting" on May 14, 2022)

Myers, S. L. (2015). The New Tsar: The Rise and Reign of Vladimir Putin. Alfred A. Knopf, New York. Kindle e-book edition. 

Putin, W. (2015, May 9). Das Leben ist eine einfache und grausame Sache. Frankfurter Allgemeine-online. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wladimir-putin-zum-70-jahrestag-des-kriegsendes-13578426.html

Retter, E. (2022, Feb. 23). Vladimir Putin's childhood explained - from 'miracle baby' to power-crazed president. Mirror. https://www.mirror.co.uk/news/world-news/vladimir-putins-childhood-explained-miracle-26303775?utm_source=twitter.com&utm_medium=social&utm_campaign=sharebar

Sadovnikova, A. (2017). Wenig folgsam und sehr frech. In: DER SPIEGEL-Biografie (Ed.). Wladimir Putin. 05/2017. SPIEGEL-Verlag, Hamburg.

Seipel, H. (2015): Putin. Innenansichten der Macht. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. Kindle e-book edition.

Singh, D. (2022, March 15). Putin's rough childhood and its shadow over Ukraine and other wars. India Today. https://www.indiatoday.in/news-analysis/story/russia-ukraine-war-vladimir-putin-childhood-1925663-2022-03-15?t_source=rhs&t_medium=It&t_campaign=readthis&utm_source=twshare&utm_medium=socialicons&utm_campaign=shareurltracking

Strick, K. (2022, March 24). Is Vlad mad or bad? The life of Putin — from a childhood being chased by rats to today’s isolation and paranoia. Evening Standard. https://www.standard.co.uk/insider/vladimir-putin-russia-ukraine-war-background-president-life-covid-pandemic-b988399.html

Welt-Online (2022, Feb 22). Putin als Jugendlicher: „Wenn der Kampf unvermeidbar ist, muss man als Erster zuschlagen“. https://www.welt.de/politik/ausland/article237062307/Putin-Wenn-der-Kampf-unvermeidbar-ist-muss-man-als-Erster-zuschlagen.html


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