Kinder, wie die Zeit vergeht! Ich wollte eigentlich auf zwei Jahre „Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen“ zurückschauen. Dann merkte ich: es sind ja schon drei Jahre rum… Gut, na dann also drei. Es ist viel passiert seitdem.
Fange ich zunächst so an: Die Thesen in meinem Buch sind im Grunde nicht neu und im Kern sage ich einfach: „destruktive Kindheitserfahrungen haben destruktive Folgen“. Auch die Übertragung auf das Politische ist nicht neu (auch wenn es nach meiner Googelabfrage im deutschsprachigen Raum das Wortpaar „Kindheit ist politisch“ vor meiner Arbeit nicht gab: Warum eigentlich nicht?). Ich habe ja auch das Rad nicht neu erfunden, was schon allein das umfangreiche Quellenverzeichnis im Buch deutlich macht.
Neu ist die reine Masse und Dichte an Informationen und Empirie. Neu ist insbesondere auch die Masse an Biografieforschung bezogen auf politische Akteure. Es gab vorher meines Wissens nach keine Einzelarbeit, in der derart viele Kindheitsbiografien von Diktatoren, politischen Führern, Extremisten und NS-Tätern systematisch aufgestellt wurde. Vor allem alleine letzteres, die Kindheiten der NS-Täter, hätte zu einer breiten öffentlichen Diskussion anregen können. Aber auch das Aneinanderhängen von allgemeinen Arbeiten aus der Extremismusforschung bzgl. Kindheitshintergünden habe ich in der Form noch nirgends vorher gesehen (und in meinem Buch war ich sogar erst am Anfang, mittlerweile habe ich 32 Studien und Einzelarbeiten gefunden, innerhalb derer Kindheiten von rechten Gewalttätern bzw. Rechtsextremisten besprochen wurden!).
Ich fühlte und fühle mich mit diesem Buch so, als ob ich die „Zündschnur“ für eine Art „Bombe“ entzündet hätte und wöchentlich mit der „Explosion“ rechne. Es ist nicht ganz einfach, sich so zu fühlen (aber ich komme klar, keine Sorge!). Gleichzeitig weiß ich um die Mängel des Buches (ich bin kein bekannter Fachmensch mit akademischen Verdiensten, was eine allgemeine Aufmerksamkeit erschwert; zudem einige Formmängel im Buch, vielleicht hätte man auch einiges straffen können, letztendlich fehlte im Rückblick ein umfangreiches, professionelles Lektorat, das sich nur größere Verlage so leisten können). Und ich weiß um die emotionalen Hürden, weil das Sprechen über destruktive Kindheitserfahrungen und deren Folgen stets individuelle und öffentliche Scheuklappen aktiviert (ich habe auch einige Bekannte, die von mir mein Buch erhalten haben und nie wieder darüber gesprochen haben. Was ich auch verstehen und so stehen lassen kann, weil das Buch reines „Feuer“ ist und die Gefahr besteht, dass man sich emotional "verbrennt"…).
Durch meinen Verlag wurde mein Buch 2020 auch für den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch und für den Preis "Das politische Buch" der Friedrich-Ebert-Stiftung vorgeschlagen. Für beide Preise hatte ich mir keine großen Hoffnungen gemacht. Allerdings wird bei der Preisverleihung der Friedrich-Ebert-Stiftung i.d.R. auf 3-5 Bücher gesondert verwiesen und in der entsprechenden Pressemitteilung eine Empfehlung dafür herausgegeben. Ich hatte gehofft, hier genannt zu werden, was leider nicht der Fall war…
Für sein Buch „Deutschland rechts außen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können“ erhielt also 2020 der Rechtsextremismusforscher Matthias Quent den Preis für „Das politische Buch“. Dies sei ihm gegönnt! Er verfügt über eine sehr gute Vita und sein Verlag war Piper. Wie wir die Rechten und andere Extremisten langfristig und nachhaltig stoppen können, das fand man allerdings nicht in Quents Buch, sondern nach meinem Ursachenverständnis in meinem. Ich hoffe sehr, dass dies gesellschaftlich zukünftig mehr gesehen und besprochen wird.
Die „Explosion“ blieb also aus. Auch wenn es einige kurze Höhenflüge gab, so z.B. als die Journalistin Caroline Fetscher im Tagesspiegel mein Buch besprochen hat. Danach dachte ich kurz: Oh mein Gott, was kommt jetzt? Rein auf meine Person bezogen beruhigt mich die ausbleibende Explosion wiederum auch etwas. Ich mag an sich keinen Rummel um meine Person. Ich mag es auch nicht, wenn ich bewundert werde. Ich sehe mich eher als „Arbeiter“, der sich einfach durch Texte und Infos wühlt, diese sortiert, zentrale Ergebnisse herausnimmt und einfach alles zusammenfasst. Man mag meinen Fleiß würdigen, Neues schaffe ich nicht, das tun eher die Forschenden, die die Studien durchführen und veröffentlichen, auf die ich mich dann beziehen kann.
Um so mehr freut es mich, dass überall immer mehr Fachleute eine Art „Zündschnur“ für eine Art „Bombe“ entzünden. Dazu gehört vor allem die enorm dynamische und sich stark beschleunigende Adverse Childhood Experiences (ACEs) Forschung. Dazu gehören aber auch Zusammenfassungen bzgl. einzelner Belastungsfaktoren und deren Folgen wie beispielsweise der Bericht „Corporal punishment of children: summary of its impacts and associations“ (2021), in dem es heißt:
“The evidence that corporal punishment is harmful to children, adults and societies is overwhelming – the more than 300 studies included in this review show associations between corporal punishment and a wide range of negative outcomes, while no studies have found evidence of any benefits. Corporal punishment causes direct physical harm to children and impacts negatively in the short- and long-term on their mental and physical health and education. Far from teaching children how to behave, it impairs moral internalisation, increases antisocial behaviour and damages family relationships. It increases aggression in children and increases the likelihood of perpetrating and experiencing violence as an adult. It is closely linked to other forms of violence in societies, and ending it is essential in combatting other violence, including partner violence”.
Ich kann mich also etwas entspannen, wir laufen Stück für Stück auf die „Explosion“ zu. Was meine ich eigentlich mit der Explosion? Ich habe da ein inneres Bild vor Augen, das einem Misch aus der öffentlichen Debatte um Kindesmissbrauch in der Kirche und der Debatte um die Klimakrise gleicht. Also einer stetigen, jahrelangen öffentlichen Debatte (inkl. Titelstorys in den Medien), die zu einer traumainformierten und sich der kollektiven, individuellen, politischen, sozialen und ökonomischen Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen bewussten Gesellschaft führt. Einer Gesellschaft, die sich bewusst macht, wie sehr sie von Kindheiten geprägt ist. Vielleicht ist „Explosion“ also auch das falsche Wort. Aber einen zentralen Auslöser oder auch mehrere muss es wohl geben. Es gab diese Auslöser bzgl. der Kirche ebenso wie bei der Klimadebatte (z.B. mit Greta Thunberg und ihrem anfangs einsamen Protest an den Freitagen).
Was ist sonst noch alles passiert, seitdem mein Buch herausgekommen ist? War das Buchprojekt nun ein Erfolg oder nicht? Tja, wie soll ich „Erfolg“ definieren und messen? Ich gehe von bisher ca. 1.000 verkauften Buchexemplaren aus. Ist diese Zahl nun ein Erfolg? Finanziell ist es bescheiden. Aber ich verdiene eh ausreichend Geld. Um Geld ging es mir nie. Mein erstes Autorenhonorar habe ich außerdem für ein Kinderschutzprojekt komplett gespendet. Die restlichen Einnahmen decken vielleicht meine Recherchekosten.
Für einen gänzlich unbekannten Autor mit kleinem Verlag ist diese Zahl aber schon ein kleiner Erfolg. Was mich besonders freut ist, dass mein Buch in vielen UNI-Bibliotheken und teils auch öffentlichen Bücherhallen gelistet ist und dass immer mehr Autoren und Autorinnen mein Buch für ihr Buchprojekt verarbeiten. Ich kann auch etwas stolz auf eine Reihe von Buchrezensionen oder Kommentierungen von Fachleuten sein. Ganz besonders hat mich gefreut, dass ich für die „Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention (DGfPI) Kindesmisshandlung und -vernachlässigung“ den Beitrag „Die Kindheit ist politisch!“ veröffentlichen durfte. Der Beitrag hat es in sich und die Leserschaft kommt aus allen möglichen Professionen aus Deutschland. Ohne meine Buchveröffentlichungen wäre ein solcher Fachblattbeitrag nicht möglich gewesen!
Das gilt u.a. auch für meinen Vortrag "Kindheit ist politisch!" auf der 35. Jahrestagung der GPPP und für meinen Vortrag "Kindheitsursprünge von politischer Gewalt und Extremismus" beim 26. Deutschen Präventionstag (beide Vorträge wurden von mir verschriftlicht und werden nächstes Jahr in Textform erscheinen). Außerdem war man auch bei der World Association for Dynamic Psychiatry (WADP) auf mein Buch aufmerksam geworden. In der Folge wurde ich zum Vortrag für den Kongress „Peace and aggression – a social challenge for psychiatry and psychotherapy“ in Berlin eingeladen, der leider coronabedingt abgesagt wurde. Ersatzweise konnte ich meinen Vortrag für „Dynamische Psychiatrie - Internationale Zeitschrift für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychiatrie“ verschriftlichen: „Die Kindheitsursprünge von (politischer) Gewalt und Friedlosigkeit“.
Unter Leitung von Prof. Paul H. Elovitz durfte ich am 20.11.2021 im "Psychohistory Forum Meeting" unter dem Titel “The Childhood Origins of Political Violence and Extremism” online vortragen. Man möchte sich jetzt dafür einsetzen, mein Buch ins Englische zu übersetzen. Nun, wir werden sehen...
Ich ziehe also Bilanz: Mein Buch hat mir einige Türen geöffnet. Und mein Buch hat so einige Menschen sehr bewegt (Rückmeldungen zu Folge). Allerdings bleibt es dabei, dass bei diesem schwierigem Thema nur langsame Schritte zu erwarten sind. Ich werde weiterhin meinen Teil dazu beitragen, die Öffentlichkeit zu informieren und Aufklärung zu leisten. Dazu nutze ich auch immer mehr mein Twitter-Account, dem mittlerweile auch einige bekannte Fachleute und Institutionen folgen. Mittel- bis langfristig plane ich den Umbau des Blogs. Bzw. ich möchte zentrale Texte und meine Biografieforschungen überarbeiten und dann auf eine extra eingerichtete Homepage stellen. Das wird viel Arbeit sein und seine Zeit brauchen. Es wird also nicht langweilig!