Freitag, 9. Oktober 2020

"Sogwirkungen" von Missachtung- und Gewalterfahrungen im Elternhaus


Seit über 18 Jahren befasse ich mich mit den Folgen von Destruktivität und Gewalt gegenüber Kindern. Im folgenden Text möchte ich einige Gedanken (die sich aus meinen persönlichen Beobachtungen, Erfahrungen und Eindrücken sowie meiner vielseitigen Literaturrecherche ergeben haben) darüber zusammenfassen, was destruktive Kindheitserfahrungen im Elternhaus alles anstoßen können. 

Dass Gewalt-, Missbrauchs- und Demütigungserfahrungen im Elternhaus viele schädliche Folgen für Kinder und auch die später Erwachsenen haben können, steht mittlerweile aus wissenschaftlicher Sicht außer Zweifel. Je früher, je massiver und je vielfältiger die destruktiven Erfahrungen in der Kindheit sind, desto schwerwiegender sind die Folgen. Und auch die Nähe zum Täter beeinflusst die Folgen stark, weshalb Destruktivität im Elternhaus besonders schädlich wirkt. 

Bei der Betrachtung der Folgeschäden wird meines Erachtens nach allerdings oftmals etwas ausgeblendet, wofür es mir schwerfällt, einen passenden Namen zu finden. Der beste bildliche Vergleich ist der einer Sogwirkung. Dazu gleich mehr. 

Bei der Erforschung der Folgen von destruktiven Kindheitserfahrungen wird oft geschaut, was „vorne“ alles rein ging und was „hinten“ herauskommt. Die sogenannten ACE-Studien haben bisher am breitesten ausgeleuchtet, was alles „vorne“ rein ging (u.a. körperliche, sexuelle + emotionale Misshandlung, Miterleben von Gewalt in der Familie, Suchtmittelgebrauch in der Familie und psychisch kranke Familienmitglieder) und was „hinten“ rauskam (u.a. diverse Krankheitsbilder, psychische Störungen, Suchtmittelgebrauch, Arbeitslosigkeit, früher Tod, Suizid, Gewaltverhalten).

Dabei fehlen allerdings ein paar Puzzleteile, die aber auch schwer messbar sind. Die oben gennannten möglichen Folgen und die erwähnten destruktiven Kindheitserfahrungen stehen zweifellos in einem deutlichen Zusammenhang. Aber noch etwas wirkt hinein, noch etwas wirkt sich aus. Etwas, dass ich wie gesagt als Sogwirkung bezeichne. 

Ich gebe einige Beispiele: 

Wenn Eltern sich systematisch destruktiv gegen ihr Kind verhalten, so hat dies nicht nur direkte Folgen auf die betroffenen Kinder, sondern nach meinem Eindruck auch auf das Verhältnis zwischen Geschwistern. Es stimmt zwar auch, dass sich nicht selten Geschwister untereinander solidarisieren und sich einen kleinen Schutzraum schaffen, der gegen destruktive Eltern steht. Aber nicht selten ist ebenso (oder auch gleichzeitig), dass das schlechte Vorbild der Eltern bedingt, dass sich auch Geschwister gegenseitig verletzen, ihre Beziehung von einer Hass-Liebe geprägt ist usw. 

Nicht nur einmal ist mir aufgefallen, dass die später Erwachsenen, die aus Misshandlungsfamilien oder grob formuliert „destruktiven Familien“ stammen, kein oder ein sehr schlechtes Verhältnis zu ihren Geschwistern haben. Konstruktive Streitkultur wurde nicht gelernt, gegenseitige Verletzungen der Geschwister untereinander wurden nicht vergessen und ein Wiedersehen mit den Geschwistern droht auch jedes Mal unerträgliche Erinnerungen an die eigene Kindheit wieder hoch kommen zu lassen. Vielleicht ist auch ein Geschwisterkind schlechter von den Eltern behandelt worden, als das andere. Was Neid und Missgunst nach sich zieht. Die Folge aus all dem  ist, dass solch geprägte Menschen auch weniger durchs Leben „getragen“ werden. Geschwister, die sich gut verstehen, „tragen“ sich gegenseitig, bieten emotionale Nähe, Sicherheit und Wohlbefinden und in der Folge auch eine gesündere Psyche. Wenn diese Bindung bedingt durch elterliche Destruktivität gestört oder gar zerstört wurde, dann belastetet auch dies und trägt mit einen Teil zu beobachtbaren schädlichen Folgen im Erwachsenenalter bei. Die beobachtbaren Folgeschäden sind dann also nicht nur eine direkte Folge elterlicher Destruktivität, sondern auch indirekte Folge durch die negativen Prägungen auf Geschwisterebene. Oder anders gesagt: Elterliche Destruktivität kann eine Sogwirkung entfalten; sie stößt an und bedingt weitere negative Dynamiken, die alle Beteiligten sogartig erfasst und immer weiter nach unten reißt. 

Anderes Beispiel: Wenn sich z.B. im Kindergarten oder in der Grundschule zwischen Eltern herumspricht, dass es bei einem Elternteil eines bestimmten Kindes Kinderschutzmaßnahmen/-interventionen gab, dann hat dies u.U. direkte Folgen, die dem betroffenen Kind gar nicht klar sein werden. Das Kind will vielleicht ein anderes Kind zu sich nach Hause einladen oder es lädt zum Geburtstag ein. Nur: Es kommt keiner! Die Eltern der anderen Kinder werden direkte oder indirekte Wege finden, ihr Kind davon zu überzeugen, dass es sich andere Freunde suchen soll. Nicht weil das andere Kind ein Problem ist, sondern weil sie Sorge bezogen auf einen Elternteil oder die Eltern des anderen Kindes haben und ihr eigenes Kind schützen wollen. In der Folge verzweifelt das betroffene Kind und sein Selbstwertgefühl wird erschüttert. Das Kind wird – wie im Beispiel davor – nicht von seinem Umfeld „getragen“, es erlebt weniger oder kaum emotional befriedigende Freundschaften mit anderen Kindern. Es findet dadurch auch kein oder weniger Ausgleich zu den destruktiven Erfahrungen im Elternhaus statt, obwohl diese Ausgleichserfahrungen so unbedingt nötig wären. Das Ausgegrenzt-werden war ursprünglich Folge des destruktiven Verhaltens der eigenen Eltern. Aber das Ausgegrenzt-werden an sich hat wiederum ganz eigene schädliche Folgen für das betroffenen Kind. Auch hier gilt wieder: Elterliche Destruktivität entfaltet eine ganz eigene Sogwirkung nach unten. 

Ähnliches Beispiel wie das zuvor: Erlebte elterliche Destruktivität oder gar traumatische Erfahrungen haben natürlich auch akute Folgen für die betroffenen Kinder. Wenn diese Folgen sich so ausdrücken, dass die entsprechenden Kinder verhaltensauffällig werden, dann kann ihr negatives Verhalten wiederum Ausgrenzungserfahrungen nach sich ziehen. Wenn es nette und konstruktive Kinder in der Schule gibt, dann werden sich viele Kinder nicht unbedingt das verhaltensauffällige Kind als besten Freund aussuchen. Die eigene dunkle Ausstrahlung oder Verhaltensauffälligkeit führt zur Vereinsamung des Kindes, was wiederum noch mehr Verhaltensauffälligkeiten nach sich zieht. Die destruktiven Eltern gaben den Anstoß, das Kind wird in den dunklen Strudel hineingezogen. Auch hier gilt wieder: Das Kind macht weniger oder kaum tragende, positive Erfahrungen, sondern lernt ganz im Gegenteil, dass die Welt nicht nur aus destruktiven Eltern besteht, sondern auch das Umfeld gefühlt „feindselig“ ist. Wer ausgegrenzt wird, der erlebt dies als Angriff auf seine Person und fühlt sich feindselig behandelt. Zu Recht. Damit meine ich nicht, dass das Umfeld im wahrsten Sinne des Wortes real feindselig sein muss. Das betroffene Kind wird vielleicht akzeptiert und auch wahrgenommen. Aber was hilft dies, wenn keine Kinder zum Spielen vorbeikommen und wenn man keinen besten Freund findet? Das Kind fühlt sich dann im „Feindesland“. Alles ist grau, das Leben wird zur Qual. 

Erneut ähnliches Beispiel: Ein stark vernachlässigtes Kind, das in Kindergarten und Schule gut integriert ist und keine Verhaltensprobleme zeigt, nähert sich einem anderen Kind an, baut eine Freundschaft auf und besucht dieses Kind auch. Das andere Kind lebt in einer sehr herzlichen Familie, die tiefe Bindungen hat. Nun kann dies eine Chance für das vernachlässigte Kind sein, positive Ausgleichserfahrungen zu machen. Aber was ist, wenn sich die „Täterintrojekte“ melden? Wenn eine Stimme innerlich ruft: „Du hast es nicht verdient, diese nette Familie zu kennen und zu besuchen. Du bist schlecht und Dreck! Keiner wird Dich mögen!“ (Botschaften also, die ursprünglich in ähnlicher Weise durch destruktive Elternteile in das Kind eingepflanzt wurden)  Oder anders gedacht: Was ist, wenn diese nette Familie zu einer extremen Verunsicherung des vernachlässigten Kindes führt? Denn dieses Kind erlebt quasi bei seinem Besuch live, was es selbst nicht hat und wie sehr es im Grunde Zuhause leidet. Unerträglich! Dieses Kind inszeniert in der Folge plötzlich Streit. Es verhält sich schlecht. Es macht sich unbeliebt. Schließlich wird es von dem einladenden Kind gemieden und verliert den Kontakt. Das vernachlässigte Kind kann jetzt wieder innerlich überleben, weil es nicht mehr sehen muss, was es selbst so gerne hätte. Die Folge: Weniger Sozialkontakt, schlimmstenfalls Vereinsamung mit wiederum ganz eigenen Folgen. Der Sog der destruktiven Eltern wirkt auch hier. 

Noch ein Beispiel: Die oben gemachten Überlegungen führen zu einer weiteren Überlegung. Wenn diese Dinge so passieren, hat dies u.U. zur Folge, dass entsprechende Kinder eher „Ihresgleichen“ suchen. Kinder mit destruktiven Eltern finden sich dann gegenseitig. Sie erkennen sich. Sie verbindet auch etwas. Allerdings kann es, wenn es schlecht läuft, auch dazu führen, dass sie ihre schlechten Seiten gegenseitig verstärken. Sie haben Zuhause keinen konstruktiven, liebevollen Umgang erlebt. Sie haben eine andere innere Moral entwickelt. Sie pflegen jetzt gegenseitig ihre destruktiven Seiten. Sie planen jetzt vielleicht Intrigen gegen ein anderes Kind. Oder sie planen, einen Lehrer fertig zu machen. Wenn diese Kinder Jugendliche werden, sind es genau diese unguten Verbindungen, die zu destruktiven Gruppenbildungen führen: Delinquente Jugendgangs, extremistische Gruppen usw. Wie gesagt, man „erkennt sich“ gegenseitig. Traumatisierte Menschen können einander irgendwie anziehen, das gilt auch für Ehepaare.

Wobei wir beim nächsten Thema wären: Destruktive Kindheitserfahrungen können manches Mal ungute Lebensentscheidungen nach sich ziehen. Man(n) will Soldat werden, um sich stark und zugehörig zu fühlen und seine Kindheit abzuschütteln. In der Folge erlebt man(n) traumatisierende Einsätze und wird psychisch immer weiter beschädigt. Oder man findet einen Ehepartner, der ebenfalls in der Kindheit traumatisiert wurde. Beide Partner verletzten sich vielfach gegenseitig und arbeiten gemeinsam an der Zerstörungen ihrer beider Leben und ihres Glücks. Der Sog, der ursprünglich von den Eltern erzeugt wurde, wird immer größer und zieht weitere belastende Erfahrungen nach sich. Dies könnte man in etliche Richtungen weiterspinnen. Etwa dahingehend, dass als Kind schwer verletzte Menschen später oft kein gutes Gefühl für potentiell bedrohliche Situationen oder bedrohliche Menschen haben. Oder ein innerlicher Druck zwingt sie gar auf eine Weise, sich in riskante Situationen zu begeben. In der Folge erleben sie dann schwere Verletzungen. 

Es gibt im Extrem in der Tat Biografien, wo sich eine schwere Belastung an die nächste reiht. Am Anfang war die elterliche Misshandlung. Wenn man sich dann die Lebensgeschichte dieser Menschen genau anschaut, dann gab es stets nur Schatten, nie Licht. Dann gab es nur Unglück, nie Glück. Dann gab es keinen Schutz, nur Verletzungen. Socher Art Biografien kann man sich gar nicht ausdenken, sie sind unfassbar. 

Mit diesem Beitrag, den man sicher noch weiter ausfeilen könnte, möchte ich unterstreichen, dass elterliche Destruktivität nicht alleine für die beobachtbaren negativen Folgen im Erwachsenenalter (wie z.B. psychische Störungen, massive Gesundheitsprobleme, usw.) verantwortlich sein muss. Die elterliche Destruktivität an sich stößt derart viel an oder bewirkt einen derartigen Sog, dass sich diverse weitere belastenden Erfahrungen daraus ergeben, dass Menschen weniger durchs Leben „getragen“ werden und sie folglich auch psychisch weiter beschädigt werden. Den Grundanstoß gab in der Tat das destruktive Elternhaus! Daraus folgt der Schluss, dass eine Prävention von Leid im Elternhaus der Schlüssel auch von Prävention weiterer belastender Erfahrungen sein kann. Kumulierte Belastungserfahrungen erhöhen massiv den möglichen schädlichen (psychischen) Output.  Leider zeigt uns die Realität, dass im Elternhaus belastetet Kinder oft genau das erleben: Mehrfachbelastungen, die sich gegenseitig verstärken oder auch die nächste Belastung nach sich ziehen. Insofern muss die Präventionsarbeit auch einen geschulten Blick auf diese potenziellen Sogwirkungen haben, die im Elternhaus schlecht behandelte Kinder nicht selten erleben.  


Mittwoch, 30. September 2020

Kindheit von Mustafa Kemal Atatürk

Der Psychiater und Psychoanalytiker Vamik D. Volkan hat in seinem Buch „Das Versagen der Demokratie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethischer und religiöser Konflikte“ (2003 im Psychosozial-Verlag erschienen) eine recht ausführliche Beschreibung von Kindheit und Lebensweg von Mustafa Kemal Atatürk geliefert. In meinem Buch habe ich die Kindheit von Atatürk bereits kurz gestreift, indem ich die die Mutter Atatürks idealisierenden Darstellungen des Psychiaters Johann Benos kritisierte. Atatürks Mutter lebte sehr traditionell und religiös, was ihr Sohn ablehnte. Nach kurzen Einlassungen auf seine Kindheit schrieb ich abschließend: „Atatürks Kampf gegen das Alte, gegen religiöse Einflüsse und Traditionen sind symbolisch auch eine Art Kampf gegen seine Mutter, die für eben diese alten Wertvorstellungen stand. Was würde wohl ein Psychoanalytiker dazu sagen?“ 

Die Ausführungen von Volkan sind bei weitem ausführlicher als das, was ich bei meinen damaligen Recherchen fand. Und sie beantworten auch weiter die Frage, die ich in meinem Buch in den Raum stellte. 

Die Mutter von Atatürk stammte aus einer kleinbäuerlichen Familie und wurde bereits als Kind verheiratet. Mustafas Eltern verloren vor seiner Geburt drei ihrer Kinder; das älteste Kind starb, als es 7 Jahre alt war. Die Geburt Mustafas fiel in eine Zeit, in der es der Familie finanziell überaus gut ging und in der Zuversicht herrschte. Eine Amme wurde für Mustafa engagiert, weil die Milch der Mutter nicht ausreichte. 

Zwei weitere Töchter folgten, von denen aber nur eine das Erwachsenenalter erreichte. Wie alt Mustafa beim Tod seiner jüngeren Schwester war und wie ihn das prägte, wird von Volkan nicht beschrieben. Weitere schwere Belastungen folgten: Die Mutter wurde Witwe, als sie 27 Jahre alt war.
Ihr Mann hatte seine Existenz verloren (...). Als Ergebnis dessen war er dann zum Trinker und in die Verzweiflung abgerutscht, bis er schließlich starb, als sein Sohn sieben Jahre alt war. Mustafa wurde somit in einem Haus des Todes geboren und fand sich der Fürsorge einer trauernden Mutter überlassen, deren Leben, abgesehen von einer kurzzeitigen Schonfrist, voller Härten und Schwermut gewesen war. Er trug sogar den Namen eines Onkels väterlicherseits, der als kleines Kind bei einem Unfall, als sein Kinderbettchen umkippte, ums Leben gekommen war, ein Unfall, für den im übrigen Mustafas Vater verantwortlich gewesen war “ (S. 106). 

Nach dem Tod des Vaters zog die kleine Familie zu Verwandten auf einen Bauernhof. „Mustafa wurde jedoch nach Saloniki zurückgeschickt, um bis zu seinem Schulabschluss bei einer Tante zu leben. Er wurde dabei erwischt, wie er mit einem Kind kämpfte, und schlimm von seinem Lehrer geschlagen, der als religiös bekannt war. `Mein ganzer Körper war voller Blut.`“(S. 108). Daraufhin nahm Mustafas Mutter ihren Sohn von der Schule. 

Als Mustafa in die Pubertät kam, heiratete seine Mutter erneut. Er wurde daraufhin derart eifersüchtig, dass er von zu Hause auszog und sich an einer militärischen Internatsschule einschrieb (S. 108). Später verließ seine Mutter den Stiefvater und zog nach Istanbul zu ihrer Tochter und deren Mann. Dort nahm sie einen dreijährigen Waisenjungen auf, den Volkan später ausfindig machte. „Ich interviewte ihn, Abdürrahim Tuncak, als er in den Sechzigern war. (…). Nachdem, was er mir darüber erzählte, wie Atatürks Mutter ihn behandelt hatte, konnte ich einen Eindruck davon bekommen, wie sie als Mutter wohl gewesen war. Seinen Erinnerungen zufolge war sie nicht nur eine herrische Frau, sondern auch eine, die ihn als psychologische Krücke (…) benutzte“ (S. 110f.)

Volkon deutet ergänzend die Wege Atatürks zum Staatsoberhaupt und verbindet diesen Weg auch mit seiner Kindheitsgeschichte. Seine Ausführungen sind zu ausführlich, um sie hier wiederzugeben. Ich verweise bei Interesse daran auf sein Buch. 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Atatürk ein schwer belastetes, traumatisiertes Kind war. Die Bezeichnung Volkans „Haus des Todes“ (Tod von insgesamt 4 Kindern + dem Vater) bringt es auf den Punkt. Gleich nach der Geburt gab es die erste Trennung, indem eine Amme sich seiner annahm. Sein Vater wurde zum Trinker, was das Kind ebenfalls sehr geprägt haben wird. Der Tod entriss ihm den Vater. Zwei weitere Trennungen folgten (Unterbringung bei einer Tante und später im Militärinternat). Schwere Gewalt durch einen Lehrer ist überliefert. Mütterlicher emotionaler Missbrauch und mütterliche Härte sind zu vermuten. 


Freitag, 25. September 2020

Kindheitsursprünge von Rechtsextremismus: DIE gesammelten Studien.

(aktualisiert am 19.06.2023, Hinweise zu neuen Aktualisierungen jeweils im Kommentarbereich)


Bisher habe ich 39 Studien und Einzelarbeiten (Befragungen oder Fallbeispiele aus der psychotherapeutischen Praxis) gefunden, innerhalb derer Kindheiten von rechten Gewalttätern bzw. Rechtsextremisten besprochen wurden. Diese Studien stelle ich unten vor. 

Viele dieser Studien habe ich hier im Blog bereits ausführlicher besprochen (siehe entsprechend die Links unten). Dass sich nicht immer in 100 % der untersuchten Fälle destruktive Kindheiten nachweisen lassen, ist logisch und dazu habe ich auch bereits hier und hier deutliche Anmerkungen gemacht. Allerdings lässt sich zusammenfassend eindeutig sagen: Generell zeigt sich, dass rechte Gewalttäter bzw. Rechtsextremisten i.d.R. eine sehr destruktive Kindheit hatten!

Das Bild, das diese 39 Studien aufzeigen, wird noch durch kriminologische Befragungen mit hohen Fallzahlen ergänzt (z.B. "Einflussfaktoren extremistischer Einstellungen unter Jugendlichen in der Schweiz" oder "Einflussfaktoren des politischen Extremismus im Jugendalter — Rechtsextremismus, Linksextremismus und islamischer Extremismus im Vergleich"). Sie zeigen signifikante Zusammenhänge zwischen Gewalterleben (Körperstrafen) in der Kindheit (und auch fehlender elterlicher Zuwendung) und rechtsextremistischen Einstellungen. Es gibt auch andere interessante Ansätze. In den USA (Quest for Significance and Violent Extremism: The Case of Domestic Radicalization. Political Psychology 38(5)) wurden 1496 Akteure (90% männlich), die ideologisch bedingte Straftaten (rechtes, linkes + islamistisches Spektrum) begangen hatten, an Hand öffentlich zugänglicher Daten/Berichte untersucht (keine direkten Befragungen). 62 % der untersuchten Akteure hatten Gewalt ausgeübt. 35 % aller Akteure wurden als Kind misshandelt, 48 % erlitten ein Trauma (nicht nur auf Kindheit bezogen), 29 % hatten stark extremistische Familienmitglieder. Dafür, dass keine direkten Befragungen stattfanden, sind die Ergebnisse bezogen auf Belastungen recht eindrucksvoll. Auch hier wird deutlich, dass traumatische Erfahrungen und belastende Kindheitserfahrungen bedeutsam bei der Genese von Extremismus sind. 
Es gibt auch etwas ältere Forschungsansätze (immer noch aktuell!), die in eine ähnliche Richtung zeigen. So fand eine Forschungsgruppe bei einer Befragung von 695 Jugendlichen heraus, dass negatives Erziehungsverhalten einen direkten Effekt auf Level und Anstieg von fremdenfeindlichen Einstellungen hat (Hefler, G., Boehnke, K.& Butz, P. (1999): Zur Bedeutung der Familie für die Genese von Fremdenfeindlichkeit bei Jugendlichen: Eine Längsschnittanalyse. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation (19). S. 72–87). 
Eine große Studie im Auftrag des Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen fand, dass rechtsextrem eingestellte Jugendliche im Vergleich zur allgemeinen Altersgruppe häufiger geschlagen, strenger erzogen und weniger von den Eltern unterstützt wurden. Die rechtsextrem eingestellten Jugendlichen bekamen auch weniger elterliche Aufmerksamkeit und fühlten sich in der Kindheit einsamer als ihre Altersgenossen. Die gleichen Ergebnisse zeigt auch die große Vorgängerstudie ebenfalls aus Nordrhein-Westfalen. 

Zu diesem Gesamtbild gehören ergänzend auch die vielen „Einzelfälle“, die ich hier im Blog oder in meinem Buch besprochen habe: Diverse NS-Täter (inkl. Adolf Hitler + weitere wichtige Anmerkungen über seine Kindheit hier und hier) sowie Rechtsterroristen wie Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt, Anders Breivik und Stephan Ernst (siehe diese und diverse weitere Fälle aus dem rechtsextremen Spektrum + diverse NS-Täter im Inhaltsverzeichnis). Was sowohl bei den detaillierten Einzelfällen als auch in so machen Studien mit vielen Befragten auffällt sind oftmals Mehrfachbelastungen (!), also z.B. eine autoritäre Erziehung und der Tod eines Elternteils (wie es z.B. bei Adolf Eichmann war). Andere erlebten eine autoritäre Erziehung und ergänzend Mobbingerfahrungen oder wurden Zeuge von häuslicher Gewalt oder hatten suchtkranke Familienmitglieder usw. Bei manchen Tätern kommen gar so viele Belastungen zusammen, dass man sich fragt, wie diese Menschen ihre Kindheit überhaupt überlebt haben (Paradebeispiel dafür ist Adolf Hitler).

Die empirische Datenlage ist geradezu überwältigend! Trotz dieser vielen Einzelarbeiten ist mir bis heute keine Arbeit bekannt, die all diese hier genannten Studien (und ergänzend auch Einzelfälle) zusammengebracht hat. Dieser Beitrag dürfte somit der bisher umfassendste im deutschsprachigen Raum sein, wenn es um die Kindheitsursprünge (und somit um die tieferen Ursachen an sich) von Rechtsextremismus geht.
Diese Feststellungen mache ich mit einem "lachenden" und "weinenden" Auge. „Lachend“ deshalb, weil es mich nach all der Recherchearbeit und Mühen schon ein wenig stolz macht, dass ich als unabhängiger, "nebenberuflicher" Gewaltforscher diese Dinge zusammenführen konnte. „Weinend“ deshalb, weil es mich immer wieder erstaunt und auch ärgert, dass die akademisch eingebundene Fachwelt sowie auch die Medien das Thema „Kindheit und Extremismus“ (und weitergedacht also auch das Thema „Kindheit und NS-Zeit“) einfach viel zu selten zentral in den Blick nehmen. In jede größere Debatte (und auch in entsprechende Fachbuchreihen) über Ursachen und Prävention von Rechtsextremismus gehört das Thema „destruktive Kindheitserfahrungen“ deutlich und zentral auf den Tisch. 

Ich wünsche mir, dass diese meine Arbeit einen Beitrag dazu leisten kann, dass Scheuklappen abgelegt werden und dass die Opfererfahrungen der Täter mehr in den Blick genommen werden. Und ich wünsche mir, dass in der Folge größere Bemühungen für weltweit mehr Kinderschutz unternommen werden: Kinderschutz ist mehr als nur die Verhinderung von individuellem Leid. Kinderschutz ist immer auch Gewalt- und Extremismusprävention (und in der Folge auch Kriegsprävention)!

Meine Grundthesen sind und bleiben: Wer eine wirklich gute Kindheit hatte, wer gewaltfrei aufwachsen durfte und wer mindestens ein Elternteil hatte, von dem er/sie wirklich geliebt wurde, der wird kein Rechtsextremist oder gar Massenmörder. Die gezeigten Studien untermauern meine Thesen einmal mehr. Diese Erkenntnisse bedeuten umgekehrt nicht, dass misshandelte, gedemütigte und traumatisierte Kinder automatisch zu Extremisten werden. Dies wäre empirisch auch gar nicht haltbar. Belastende Kindheitserfahrungen bilden nur das Fundament für Extremismus und Gewaltverhalten. Aber nicht vergessen: Die Kindheit ist politisch!


Hier nun die gesammelten Studien (verlinkte hier im Blog bereits besprochen): 

(Vorweg ein Hinweis für meine Auswahlkriterien und Herangehensweise: Für mich zählte, dass mit den Akteuren gesprochen wurde, was in allen Arbeiten der Fall war. In manchen Arbeiten wurden sehr komplex oder strukturiert die Kindheitshintergründe erfasst; in anderen wurden die Gespräche mit rechten Akteuren zu generellen Aussagen über die Kindheitshintergründe zusammengefasst; wieder andere haben nur Teilaspekte aus der Kindheit aufgeführt. Sofern nur Teilaspekte aufgeführt wurden, war für mich wichtig, dass die Ergebnisse in eine deutliche Richtung bzgl. der Kindheit zeigten und dadurch aussagekräftig waren.)

Aigner (2013): 3 (ehemalige) rechte Skinheads (männlich)

Bannenberg & Rössner (2000): 17 junge, rechtsextreme oder rechts-denkende Gewalttäter in Ostdeutschland

Baron (1997): 14 männliche, gewalttätige Skinheads (uneinheitliches Profil bzgl. politischer Einstellungen, sechs Befragte waren extreme Rassisten) aus Kanada

Bielicki (1993): 1 rechtsextremer junger Mann (aus der psychoanalytischen Praxis)

Bjørgo (2005): 16 jugendliche Mitglieder (mehrheitlich männlich) in Neonazi-Gruppen; 4 ehemalige jugendliche Neonazis (Norwegen)

Böttger (1998): 10 junge Rechtsextremisten (9 männlich, 1 weiblich)

Bohnsack (1995): 3 junge, männliche Hooligans, die vorher Teil der rechten Skinheadszene waren (insgesamt wurden 4 Hooligans befragt)

Ezekiel (1996): zentral: 9 Mitglieder einer Neonazigruppe in Detroit; weniger zentral: 3 Nazi-Führungspersönlichkeiten in den USA

Fachstelle für Rassismusbekämpfung (2007): Insgesamt 26 Schweizer rechtsextreme Jugendliche (6 junge Frauen, 20 junge Männer)

Fahrig (2020): sechs rechte, männliche Jugendliche

Frindte & Neumann (2002):  91 verurteilte rechte Gewalttäter. 

Funke (2001): 3 männliche deutsche Rechtsextremisten 

Hardtmann (2007): 5 männliche, jugendliche Rechtsextremisten

Heitmeyer & Müller (1995): 45 verurteilte, gewalttätige Jugendliche und junge Erwachsene, die von der Justiz als vermutlich oder tatsächlich fremdenfeindlich bzw. rechtsextremistisch eingestuft worden sind

Hopf et al. (1995): 6 als deutlich rechtsextrem eingestufte männliche Jugendliche (von insgesamt 25 Befragten)

Kahl-Popp (1994): 1 rechtsextremer Jugendlicher in psychoanalytischer Behandlung

Köttig (2004) (in meinem Buch besprochen): 32 weibliche Rechtsextremisten 

Krall (2007): 3 rechtsextreme Jugendliche (2 männlich, 1 weiblich), die in betreuten Wohneinrichtungen lebten. 

Leuzinger-Bohleber, M. (2016): 1 Fallbeispiel (männlich) einer rechten Radikalisierung aus der psychoanalytischen Praxis 

Logan et al. (2022): 10 ehemalige Rechtsextremisten und 10 ehemalige Linksextremisten aus den USA

Lützinger (2010): 39 männliche Extremisten (24 rechts, 9 links und 6 islamistisch)

Marneros et al. (2003): 61 männliche, rechtsextreme Gewalttäter, die angeklagt wurden

Mattsson & Johansson (2022): 27 (davon fünf weiblich) ehemalige oder aktive Neo-Nazis/Skinheads aus Schweden und den USA 

Michel & Schiebel (1989): 3 männliche, rechtsextreme Jugendliche

Nölke (1998): 2 rechte Jugendliche

Schmidt (1996): 1 rechtsextremer, gewaltbereiter Jugendlicher mit schwerer Persönlichkeitsstörung, der psychotherapeutisch behandelt wurde

Scrivens et al. (2019): 10 ehemalige Rechtsextremisten (8 männlich, 2 weiblich) aus Kanada 

Sigl (2013): 3 ehemalige, weibliche Rechtsextremisten

Sigl (2018): 7 ehemalige Rechtsextremisten (5 männlich, 2 weiblich)

Simi et al. (2016):  44 (38 männlich, 6 weiblich) ehemalige Mitglieder rechtsextremistischer Gruppen in den USA

Smith & Sullivan (2022): 1 ehemaliges Mitglied (männlich) einer gewalttätigen Neo-Nazi Gruppe (USA); ausführliche Fallstudie

Speckhard & Ellenberg (2021): 32 (2 weiblich) aktive oder ehemalige Extremisten/Rassisten (die meisten aus den USA, 3 aus Kanada, 3 Deutsche, 1 Brite und 1 Neuseeländer) 

Stern (2014): Ein schwedischer Neo-Nazi und Mörder (Fallstudie). 

Streeck-Fischer (1992): ca. 5 rechte Skinheads (psychoanalytische Arbeit)

Streeck-Fischer (1999): 1 rechter, männlicher Skinhead (aus der stationären, psychiatrischen Behandlung)

Sutterlüty (2003): 3 männliche, gewalttätige Rechtsextremisten

Wahl et al. (2003) (in meinem Buch besprochen): 115 verurteilte, rechte Gewalttäter

Windisch et al. (2020): 91 (70 männlich, 21 weiblich) ehemaligen U.S. Extremisten/Rassisten (aus den Gruppierungen Ku Klux Klan, Christian Identity, neo-Nazi, racist skinheads

Wirth (1989): 6 rechte Skinheads (psychoanalytische Arbeit; nur ein Fall exemplarisch dargestellt)


(Siehe ergänzend auch meinen Beitrag: "Verklärt, beschönigt, verdrängt: Kindheiten von Gewalttätern und Extremisten. Eine Mahnung an die Forschung")



Detaillierte Quellen:

Aigner, J. C. (2013): Der ferne Vater. Zur Psychoanalyse von Vatererfahrung, männlicher Entwicklung und negativem Ödipuskomplex. Psychosozial-Verlag, Gießen. (3. Aufl.)

Bannenberg, B. & Rössner, D. (2000): Hallenser Gewaltstudie - Die Innenwelt der Gewalttäter: Lebensgeschichten ostdeutscher jugendlicher Gewalttäter. DVJJ-Journal: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 11 (2000) 2, S. 121-134.

Baron, S. W. (1997). Canadian Male Street Skinheads: Street Gang or Street Terrorists? Canadian Review of Sociology and Anthropology. Volume 34, Issue 2, S. 125-154.

Bielicki, J. S. (1993): Der rechtsextreme Gewalttäter. Eine Psycho-Analyse. Rasch und Röhring Verlag, Hamburg.

Bjørgo, T. (2005): Conflict processes between youth groups in a norwegian city: polarisation and revenge. European journal of crime, criminal law and criminal justice, Vol. 13(1), S. 44-74.

Böttger, A. (1998): Gewalt und Biographie. Eine qualitative Analyse rekonstruierter Lebensgeschichten von 100 Jugendlichen. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden.

Bohnsack, R., Loos, P., Schäffer, B., Städtler, K. & Wild, B. (1995): Die Suche nach Gemeinsamkeit und die Gewalt der Gruppe: Hooligans, Musikgruppen und andere Jugendcliquen. Leske + Budrich, Opladen.

Ezekiel, R. S. (1996): The Racist Mind: Portraits of American Neo-Nazis and Klansmen. Penguin Books, New York. 

Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB) (Hrsg.) (2007): Jugendliche und Rechtsextremismus: Opfer, Täter, Aussteiger. Wie erfahren Jugendliche rechtsextreme Gewalt, welche biografischen Faktoren beeinflussen den Einstieg, was motiviert zum Ausstieg? Eidgenössisches Departement des Innern, Bern. 

Fahrig, K. (2020). Rechte Jugendliche und ihre Familien: Eine Perspektiven triangulierende Rekonstruktion biografischer Hintergründe (Studien zur Kindheits- und Jugendforschung, Band 4). Springer VS, Wiesbaden.

Frindte, W. & Neumann, J. (2002): Der biografische Verlauf als Wechselspiel von Ressourcenerweiterung und – einengung. In: Frindte, W. & Neumann J. (Hrsg.): Fremdenfeindliche Gewalttäter. Biografien und Tatverläufe. Westdeutscher Verlag. Wiesbaden. S. 115-153.

Funke, H. (2001): Rechtsextremismus 2001. Eine Zwischenbilanz. Verwahrlosung und rassistisch aufgeladene Gewalt – Zur Bedeutung von Familie, Schule und sozialer Integration. In: Eckert, R. et al. (Hrsg.): Demokratie lernen und leben – Eine Initiative gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Band 1. Weinheim, Freudenberg Stiftung. S. 59-108.

Hardtmann, G. (2007). 16, männlich, rechtsradikal: Rechtsextremismus - seine gesellschaftlichen und psychologischen Wurzeln. Patmos Verlag, Düsseldorf. 

Heitmeyer, W. & Müller, J. (1995): Fremdenfeindliche Gewalt junger Menschen. Biographische Hintergründe, soziale Situationskontexte und die Bedeutung strafrechtlicher Sanktionen. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.). Forum Verlag, Bonn.

Hopf, Christel; Rieker, Peter; Sanden-Marcus, Martina und Schmidt, Christian (1995): Familie und Rechtsextremismus. Familiale Sozialisation und rechtsextreme Orientierung junger Männer. Weinheim und München: Juventa Verlag.

Kahl-Popp, J. (1994): „Ich bin Dr. Deutschland." - Rechtsradikale Phantasien als verschlüsselte Kommunikation in der analytischen Psychotherapie eines Jugendlichen. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 43 (1994) 7, S. 266-272.

Köttig, M. (2004): Lebensgeschichten rechtsextrem orientierter Mädchen und junger Frauen: Biografische Verläufe im Kontext der Familien- und Gruppendynamik. Psychosozial-Verlag, Gießen.

Krall, H. (2007): Aggression und Gewalt bei rechtsextremen Jugendlichen — Perspektiven sozialpädagogischer Jugendarbeit. Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, Volume 6, S. 99–113.

Leuzinger-Bohleber, M. (2016): Radikalisierungsprozesse in der Adoleszenz – ein Indikator für eine nicht gelungene Integration? In: Leuzinger-Bohleber, M. /Lebiger-Vogel, J. (Hrsg.): Migration, frühe Elternschaft und die Weitergabe von Traumatisierungen. Klett-Cotta, Stuttgart, S. 171–193.

Logan, M. K., Windisch, S. & Simi, P. (2022). Adverse Childhood Experiences (ACE), Adolescent Misconduct, and Violent Extremism: A Comparison of Former Left-Wing and Right-Wing Extremists. Terrorism and Political Violence. https://doi.org/10.1080/09546553.2022.2098725

Lützinger, S. (2010): Die Sicht der Anderen. Eine qualitative Studie zu Biographien von Extremisten und Terroristen (Polizei + Forschung Bd. 40). BKA – Bundeskriminalamt, Kriminalistisches Institut (Hrsg.). Luchterhand Fachverlag, Köln. (Auch in englischer Übersetzung online einsehbar: Saskia Lützinger: The Other Side of the Story. A qualitative study of the biographies of extremists and terrorists: https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/PolizeiUndForschung/1_40_TheOtherSideOfTheStory.html

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Sutterlüty, F. (2003): Gewaltkarrieren: Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung. Campus Verlag, Frankfurt am Main (2. Auflage). 

Wahl, K., Tramitz, C. & Gaßebner, M. (2003): Fremdenfeindliche Gewalttäter berichten: Interviews und Tests. In: Wahl, K. (Hrsg.): Skinheads, Neonazis, Mitläufer. Täterstudien und Prävention. Leske & Budrich, Opladen.

Windisch, S., W., Simi, P., Blee, K. & DeMichele, M. (2020): Measuring the Extent and Nature of Adverse Childhood Experiences (ACE) among Former White Supremacists. Terrorism and Political Violence. (Onlineveröffentlichung Juni)

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Gewaltkarrieren: Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung + 3 Fallbeispiele aus der rechtsextremen Szene

Erneut habe ich eine interessante Arbeit durchgesehen:

Sutterlüty, F. (2003): Gewaltkarrieren: Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung. Campus Verlag, Frankfurt am Main (2. Auflage). 

Der Autor hat Gespräche mit 18 gewalttätigen Jugendlichen (15 männlich, 3 weiblich) im Alter zwischen 15 und 21 Jahren geführt. Destruktive Kindheitserfahrungen kamen offensichtlich derart deutlich ins Blickfeld, dass Sutterlüty fast 100 Seiten unter dem Obertitel „Gewalt und Missachtung in der Familie“ dazu aufführt. An einer Stelle schreibt er zusammenfassend:
Die interviewten Jugendlichen, die wiederholt als Gewalttäter in Erscheinung treten, wurden ausnahmslos – meist über einen längeren Zeitraum hinweg und bereits in frühen Phasen ihrer familiären Sozialisation – Opfer familiärer Gewalt und gewaltbelasteter Familienverhältnisse. Sie sind in Familienverhältnissen aufgewachsen, die man als einen dauerhaften Gewaltzusammenhang bezeichnen kann. Wenn man den Erzählungen der Jugendlichen folgt, fällt auf, dass Vorkommnisse von Gewalt in ihren Familien durchweg mit Erfahrungen der Ohnmacht verbunden waren“ (S. 150f.). 

Die Details der Studie kann ich hier nicht besprechen. Für diesen Beitrag möchte ich gezielt die Biografien von drei rechten Jugendlichen hervorheben. 

Fall „Kai“ (S. 48 +286f.):

Kai war aktives Mitglied in der rechten Skinheadszene und hat in der Zeit zwischen seinem 16. und 18. Lebensjahr diverse Gewalttaten begangen. Auffällig bei Kai war besonders seine Faszination für Gewalt und Grausamkeiten. Kais Kindheit wird nicht ausführlich geschildert, aber die kurzen Details zeugen von einer sehr destruktiven Kindheit. Sein Vater war gewalttätig und schlug die Kinder. Innerhalb der Familie scheint es vor allem auch unter den vielen Geschwistern massive Konflikte gegeben zu haben. So wird deutlich, dass Kai seine drei jüngeren Geschwister ablehnte und wünschte, sie wären nie geboren worden. Ergänzend belasteten ihn Missachtungs- und Ausgrenzungserfahrungen, die vor allem seine Mutter zu erleiden hatte. 

Fall „Kilian“ (S. 151-155):

Kilian war aktives Mitglied in der rechten Skinheadszene in Ostberlin. Sein Vater trank oft Alkohol und wurde dann auch gewalttätig. Die väterliche Gewalt richtetet sich dann auch gegen Kilians Mutter. Kilian selbst wurde aber nicht vom Vater, sondern von seiner Mutter geschlagen. Die Mutter schlug außerdem Killians Schwester und Kilian wurde Zeuge dieser Gewalt. Die mütterliche Gewalt gegen Kilian kam häufig vor, wurde teils mit Gegenständen ausgeführt und hinterließ auch Verletzungen bis hin zu Blutungen. Der Vater schützte seinen Sohn nicht vor dieser Gewalt. Kilians Eltern trennten sich, als Kilian ca. 11 Jahre alt war. Danach sah er seinen Vater kaum noch. In der Familie gab es zudem sehr viele Verbote und offensichtlich eine allgemein autoritäre Erziehung. 

Fall „Olaf“ (S. 159-163):

Olaf war Teil einer rechtsextremen Gruppe in Ostdeutschland. Der Vater war sehr kontrollierend und schlug seinen Sohn regelmäßig, ja fast täglich. Der Vater sei außerdem jeden Tag betrunken nach Hause gekommen. Die Mutter schützte ihren Sohn nicht und war offensichtlich selbst den Aggressionen ihres Mannes ausgesetzt. Irgendwann hätten ihm die Schläge des Vaters nichts mehr ausgemacht bzw. er hätte nichts mehr gespürt (Anmerkung: was für eine psychische Spaltung spricht). 


Demnächst werde ich in einem gesonderten Beitrag alle von mir gefundenen bzw. besprochenen Studien zum Thema „Kindheit von Rechtsextremisten" zusammenführen. Die empirische Datenlage ist geradezu überwältigend.  Es ist vor diesem Hintergrund nicht zu verstehen, dass nicht in allen großen Debatten (und auch Veröffentlichungen von Fachbüchern) über die Ursachen von Rechtsextremismus das Thema Kindheit zentral besprochen wird. 


Donnerstag, 24. September 2020

Kindheit und Jugend des Nazi-Anführers Michael Kühnen

Michael Kühnen war eine bekannte Führungsfigur der Neonazi-Szene der 1980er Jahre. 

Über ihn hat der Publizist Werner Bräuninger eine ganze Biografie verfasst: Kühnen: Porträt einer deutschen Karriere (erschienen 2016 im Gerhard Hess Verlag, Bad Schuddenried). 

Ich muss gleich vorweg schreiben, dass über die Kindheit und Jugend von Michael Kühnen dem Biografen nach sehr wenig bekannt ist. Trotzdem schreibe ich einen Blogbeitrag über Kühnen. Denn es gibt einige Infos und Andeutungen, die von belastenden Erfahrungen zeugen. 

Der Vater von Michael „führte eine Leben nach konservativ-katholischen Grundsätzen und Moralvorstellungen“ (S. 14). Michael war das einzige Kind der Familie. In seinen ersten Lebensjahren scheint er recht häufig bei den Großeltern gelebt zu haben. Vor allem die Großmutter war seine Hauptbezugsperson. „Wenn er dann an den Wochenenden wieder zu den Eltern nach Bonn geholt wurde, führte dies meist zu heftigen Abschiedsszenen, weil er lieber bei der geliebten Großmutter bleiben wollte. Damit das Kind den Eltern nicht vollends entfremdet würde, entschied die Mutter schließlich ihn wieder ganz zu sich zu nehmen. Darüber sagte Kühnen später: `Meine Mutter war eine starke Persönlichkeit. Sie hat mich verwöhnt, aber auch kontrolliert. Ich durfte nirgendwo hingehen, ohne Bescheid zu sagen. Sie war sehr ängstlich, und ich war ihr einziges Kind. Einzelkinder haben es enorm schwer. Ohne Geschwister aufzuwachsen, ist das Schlimmste, was einem Kind passieren kann` “ (S. 15). 

Rückblickend schrieb Kühnen später einmal: „Ich war ein verwöhntes Muttersöhnchen, schüchtern und voller Komplexe. Ich habe mich in meine Bücher vergraben und tagelang nichts gesprochen. Ich war unfähig für das Leben in der Gemeinschaft“ (S. 21). 

Als Schüler scheint er eher ein Außenseiter und auch Einzelgänger gewesen zu sein (S. 22, 33, 37). Der Biograf hebt hervor, dass Kühnen einige Monate nach seiner Grundschulzeit auf das „Collegium Josephinum“ in Bonn wechselte und dass dort bis weit in den 1960er Jahre hinein Kinder sexuell missbraucht und gedemütigt wurden (S. 20). Der Biograf vermutet allerdings, dass Kühnen als Externer nicht mehr „in diesen Strudel des Missbrauchs am Bonner Josephinum“ hineingeraten ist (S. 21). Viel mehr lässt sich aus der verwendeten Quelle nicht über Kindheit und Jugend von Michael Kühnen erschließen. 

Ich nutzte diesen Fall also für einige Interpretationen und auch Spekulationen:

Das Elternhaus war streng-katholisch und Kühnen war ein Kind der 50er und 60er Jahre. In dieser Zeit erlebte die Mehrheit der Kinder Körperstrafen in ihren Familien (was uns kriminologische Dunkelfeldstudien vom KFN heute aufzeigen), wobei Häufigkeit und Schwere der Gewalt damals unterschiedlich verteilt waren. Rein statistisch ist es sehr wahrscheinlich, dass auch Kühnen Körperstrafen erlitten hat. Das betont konservativ-katholische Elternhaus mag dies noch einmal mehr wahrscheinlicher machen. Dieser Bezug zum allgemeinen Ausmaß von Gewalt gegen Kinder einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Land fehlt leider sehr oft bei Biografien von gewalttätigen und/oder extremistischen Akteuren (inkl. Diktatoren und kriegslüsternden Führungspolitikern). Dies verwundert, denn allgemeine Erkenntnisse aus Dunkelfeldstudien + dem historischen Ausmaß von Gewalt und Demütigungen gegen Kinder auch in solchen Biografien aufzuführen, wäre nicht unwissenschaftlich. Es geht hier schließlich rein um statistische Wahrscheinlichkeiten bezogen auf stark prägende Kindheitserfahrungen. 

Aber kommen wird nochmals zu den oben zitierten Textzeilen und Infos zurück: Warum gab die Familie ihr einziges Kind früh weg, was ja zu einer Entfremdung führte? Wie wirkte sich dies auf Michael aus? Wir wirkte es sich aus, als er dann wiederum den Großeltern entzogen wurde und zurück zur Familie musste? Hinweise auf eine verwöhnende, ängstliche Mutter und eine „Muttersöhnchenbeziehung“ lassen bei mir zudem immer die Alarmglocken erklingen. Hatte diese Mutter-Sohn-Beziehung Ansätze von emotionalem Missbrauch, der so oft in solchen Konstellationen ausfindig zu machen ist?
   Der Vater wird in der Biografie übrigens fast nicht erwähnt. Über das Vater-Sohn-Verhältnis bleiben wir absolut im Dunkeln. Dass Michael lange Jahre in einer Institution verbrachte, innerhalb der sich einzelne Geistliche an Kindern vergingen, sagt nicht automatisch aus, dass er ähnliches erlebt hat. Darin stimme ich dem Biografen zu. Allerdings ist dies auch nicht absolut auszuschließen, genauso wenig wie auszuschließen ist, dass Michael teils Zeuge oder auch „gefühlter Zeuge“ wurde, indem er „ungute Atmosphären“ an der Schule aufnahm oder mitbekam.

Es bleiben gewiss viele Fragezeichen. Ich möchte den Fall Kühnen hier insofern hervorheben, weil dieser Fall aufzeigt, dass es auch viel anzumerken und auch zu vermuten gibt, wenn die Informationslage dürftig ist. Auch aus dürftigen Informationen, die allerdings deutliche Tendenzen aufzeigen (wie oben zitiert und besprochen), lassen sich Schlüsse ziehen. Dies gilt einmal mehr, wenn man sich die spätere extremistische Wandlung von Kühnen anschaut. Sehr viel Hass war in diesem Menschen. Wo kam der Hass her? Die dürftigen Infos zeigen bzgl. der Antwort auf diese Frage in Richtung Kindheit und Jugend.   


Freitag, 18. September 2020

Wurde die Mutter von Adolf Hitler von ihrem Mann misshandelt?

 

Ich habe mir jetzt einmal die Zeit genommen, mir die kommentierte Fassung von „Mein Kampf“ (Hitler, Mein Kampf. Eine Kritische Edition. Band 1; herausgegeben 2016 im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München/Berlin von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel) anzusehen; dabei gezielt die Teile, die Hitlers Kindheit, Eltern und in diese Richtung zeigende Ausführungen Hitlers beinhalten.

Zwei Stelle sind für mich dabei zentral, in denen Hitler allerdings nicht in Ich-Form spricht, sondern sich allgemein hält bzw. sich auf die klassische Arbeiterschicht bezieht:

Übel aber endet es, wenn der Mann von Anfang an seine eigenen Wege geht und das Weib, gerade den Kindern zuliebe, dagegen auftritt. Dann gibt es Streit und Hader, und in dem Maße, in dem der Mann der Frau nun fremder wird, kommt er dem Alkohol näher. Jeden Samstag ist er nun betrunken, und im Selbsterhaltungstrieb für sich und ihre Kinder rauft sich das Weib und die wenigen Groschen, die sie ihm, noch dazu meistens auf dem Wege von der Fabrik zur Spelunke, abjagen muss. Kommt er endlich Sonntag oder Montag nachts selber nach Hause, betrunken und brutal, immer aber befreit vom letzten Heller und Pfennig, dann spielen sich oft Szenen ab, dass Gott erbarm.
In Hunderten von Beispielen habe ich dieses alles miterlebt, anfangs angewidert oder wohl auch empört, um später die ganze Tragik dieses Leides zu begreifen, die tieferen Ursachen zu verstehen. Unglückliche Opfer schlechter Verhältnisse
“ (S. 149f).

Und bezogen auf enge Räumlichkeiten und große Familien mit vielen Kindern und nachfolgenden Streitigkeiten schreibt Hitler:

Wenn dieser Kampf unter den Eltern selber ausgefochten wird, und zwar fast jeden Tag, in Formen, die an innerer Rohheit oft wirklich nichts zu wünschen übriglassen, dann müssen sich, wenn auch noch so langsam, endlich die Resultate eines solchen Anschauungsunterrichtes bei den Kleinen zeigen. Welcher Art sie sein müssen, wenn dieser gegenseitige Zwist die Form roher Ausschreitungen des Vaters gegen die Mutter annimmt, zu Misshandlungen in betrunkenem Zustande führt, kann sich der ein solches Milieu eben nicht Kennende nur schwer vorstellen. Mit sechs Jahren ahnt der kleine, zu bedauernde Junge Dinge, von denen auch ein Erwachsener nur Grauen empfinden kann“ (S.159).

Interessant sind sie jeweiligen Kommentierungen der Herausgeber an beiden Stellen.
Beim ersten langen Zitat oben kommentieren sie bezogen auf den Alkoholkonsum u.a.:
Auch Hitlers Kritik des Alkoholismus dürften eigene Erfahrungen zugrunde liegen: Hitlers Vater, der durch Alkohol aufbrausend und jähzornig wurde, starb in einem Gasthaus. Es ist denkbar, dass Hitler, der die Persönlichkeitsveränderung seines Vaters infolge des Alkoholmissbrauchs miterlebt hatte, dadurch zum Abstinenzler wurde (…)„ (S. 150). Hier wird also den verallgemeinerten Schilderungen Hitlers autobiografischer Hintergrund unterstellt (zu Recht, wie ich finde), wohl auch in dem Wissen über andere Quellen, die den Alkoholmissbrauch von Alois Hitler bezeugen (wobei von den Herausgebern kein Bezug auf entsprechende Quellen genommen wird).

Ganz anders jedoch wird von den Herausgebern die zweite zitierte Passage kommentiert:
„Von der Psychologin Alice Miller stammt die These, dass Hitlers folgende Schilderungen – trotz der allgemein gehaltenen Formulierungen – auf persönliche Erfahrungen basierten. Hitlers eigene Kindheit sei im hohen Maße geprägt gewesen von seinem zum Alkohol und zur Gewalttätigkeit neigenden Vater, vom Streit zwischen den Eltern, den fünf Kindern (aus zweiter und dritter Ehe), schließlich dem Zerwürfnis zwischen seinem Vater, Alois Hitler senior, und seinem Halbbruder Alois junior, der mit 14 Jahren im Streit das Elternhaus verließ. Definitiv beweisen lässt sich diese These nicht“ (S. 156).

Es ist ganz und gar erstaunlich, wie unterschiedlich hier die beiden Textstellen kommentiert wurden. Denn natürlich gibt es mittlerweile genügend Belege dafür, dass Hitler von seinem Vater misshandelt wurde (siehe u.a. in meinem Buch oder hier im Blog) und dass auch andere Familienmitglieder – vor allem der erwähnte Halbbruder – Schläge bekamen (Die Jähzornigkeit des Vaters wurde ja auch von den Herausgebern in der zuvor zitierten Kommentierung gesehen). Man könnte zwar formulieren, dass nicht bewiesen werden kann, ob Hitler hier auch seine eigene Kindheitsbiografie meinte, denn dies wüsste nur Hitler allein. Aber warum scheuen sich die Herausgeber hier, ähnlich zu kommentieren, wie sie es beim Alkoholmissbrauch zuvor getan haben? Diese Widersprüchlichkeiten oder diesen Hin-und-Her-Gerissen-Sein habe ich oft erlebt, wenn es um Kindheiten von Diktatoren und Massenmördern oder auch politische Gewalt und Kindheit an sich geht (ich habe dazu in meinem Buch entsprechend kommentiert).

Wenn man sich mit Hitlers Kindheit ausführlich befasst, dann fällt es nicht schwer, das „Aufflackern“ dieser Kindheit in den oben zitierten Auszügen aus „Mein Kampf“ zu erkennen. Ich sehe es wie Alice Miller: Hitler hat hier seine eigenen Erfahrungen eingebracht. Wohl aber hat er sie auch auf das Erleben vieler anderer Menschen übertragen (und er hat nicht seine Eltern direkt angeklagt). „In Hunderten von Beispielen habe ich dieses alles miterlebt“, schreibt Hitler. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass Hitler nicht hunderte Male in Arbeiterfamilie zugegen war, wenn der Vater des Hauses „betrunken und brutal“, wie er schreibt, nach Hause kam. Wahrscheinlich wusste er aus Erzählungen Anderer darum, dass solche häusliche Destruktivität nicht selten vorkam. Vielleicht hat er auch hin und wieder in einer Familie übernachtet. Aber diese seine Betonung auf „Hunderten von Beispielen“ spricht aus seiner Tiefe heraus. Und ich meine, dass da auch das Kind in ihm spricht.

Meine wesentliche Frage aber ist (und dies war der eigentliche Hauptgrund für diesen Beitrag), ob auch Hitlers Mutter Klara von ihrem Mann misshandelt wurde (verbale Demütigungen sind dagegen nahezu sicher, wenn man sich mit den häuslichen Verhältnissen im Hause Hitler und der Stellung von Klara befasst)? Ich finde auch hier, dass Hitlers Aussagen in „Mein Kampf“ eine überdeutliche Sprache sprechen. Ergänzt wird dies durch einen Bericht des Halbbruders, den der Historiker John Toland wiedergegeben hat. Toland schildert zunächst die väterlichen Misshandlungen, die der Halbruder und auch Adolf erlebt haben (ergänzend wurde auch der Hund des Hauses mit einer Peitsche traktiert und zwar so lange „bis er sich krümmte und den Fussboden nässte“). Dann hängt er an: „Gewalttätigkeiten dieser Art musste, Alois Hitler jr. zufolge, sogar die duldsame Ehefrau Klara Hitler ertragen; wenn diese Angaben stimmen, so müssen solche Auftritte bei Adolf Hitler einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen haben“ (Toland, J. (1977): Adolf Hitler. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach, S. 26)

Das Miterleben von (schwerer) Gewalt gegen die eigene Mutter ist eine folgenschwere Erfahrung für Kinder. Auch ohne diesen Belastungsfaktor war Adolf Hitlers Kindheit in der Gesamtsicht unfassbar traumatisch. Trotzdem, ich meine, dass in anderen Fällen schon bei weit weniger Belegen von häuslicher Gewalt zwischen Elternteilen ausgegangen wird. Wir haben Belge für schwere und häufige väterliche Gewalt und ein aufbrausendes Temperament + Alkoholmissbrauch des Vaters. Dazu der große Altersunterschied zwischen Klara und Alois, Klaras ursprüngliche Stellung als Dienstmädchen im Haus und ihre entsprechende Unterlegenheit und Ohnmacht (auch ergänzend auf Grund damaliger stark patriarchaler Strukturen und Verhältnisse). Dazu die deutlichen Aussagen des Halbruders (nach Toland) und Hitlers Schilderungen in „Mein Kampf“. Ich bin entsprechend davon überzeugt, dass Klara Hitler Misshandlungen seitens ihres Mannes erlitten hat und die Kinder im Haus dies auch mitbekommen haben.

Dienstag, 15. September 2020

Einzelfall einer rechten Radikalisierung, der psychoanalytisch besprochen wurde


Erneut habe ich eine interessante psychoanalytische Arbeit gefunden, innerhalb der ein Einzelfall einer rechten Radikalisierung ausführlich besprochen wird: 

Leuzinger-Bohleber, M. (2016): Radikalisierungsprozesse in der Adoleszenz – ein Indikator für eine nicht gelungene Integration? In: Leuzinger-Bohleber, M. /Lebiger-Vogel, J. (Hrsg.): Migration, frühe Elternschaft und die Weitergabe von Traumatisierungen. Klett-Cotta, Stuttgart, S. 171–193.

Diese ganzen immer wieder von mir besprochenen „Einzelfälle“ mögen manch einen Leser oder eine Leserin hier ermüden, für mich ist es aber wichtig, diese Rechercheergebnisse festzuhalten und die Einzelfälle zusammen mit größeren Studien zu einem Gesamtbild zusammenzutragen.  

Die Autorin bespricht den Fall „Herr A.“, den sie in ihrer Praxis betreut hat. Herr A. war stark suizidal, litt unter sozialem Rückzug und war früher aktives Mitglied einer rechten, gewalttätigen Gruppierung. Der Vater von Herrn A. war ein arabischer Flüchtling, die Mutter eine Deutsche. Die Beziehung der Eltern sei chronisch unglücklich gewesen. Beide Elternteile hatten zudem ein Alkoholproblem. Im Alter von 12 Jahren hatte Herr A. seinen Vater bei einem Suizidversuch entdeckt. Er rief den Krankenwagen und rettete so seinem Vater das Leben. Als Jugendlicher schloss sich Herr A. einer rechten Gruppe an. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen wurde er einmal schwer verletzt. Einige Wochen danach wurde er wegen aggressiven Verhaltens von der Schule ausgeschlossen. Daraufhin schlug sein Vater ihn in einer Kneipe vor den Augen seiner Kumpels zusammen, für Herrn A. eine sehr demütigende Erfahrung. Der Kontakt zu den Eltern brach in der Folge ab. Als 15-Jähriger lebte Herr A. fast ein Jahr auf der Straße oder bei dubiosen Freunden. In dieser Zeit nahm er auch Drogen (Leuzinger-Bohleber 2017, S. 183-186). Auf Grund des geschilderten gewaltvollen Verhaltens des Vaters würde ich persönlich stark davon ausgehen, dass der Vater auch vorher gewalttätig gegen seinen Sohn agiert hat. 

Dieser Fall zeigt für mich auch zwei Widersprüche auf: Der Vater von Herrn A. kam aus einem arabischen Land. Mit der rechten Gruppe hetzte Herr A, gegen und bekämpfte „Ausländer“ oder fremd aussehende Menschen (und die rechte Gruppe akzeptierte ihn als rechtes Mitglied, trotz der Herkunft seines Vaters). Hier wird überdeutlich, dass Abstammung oder Gruppenzugehörigkeit gar nicht immer so zentral sind. Zentral ist einfach das Gruppengefühl, der „gemeinsame Feind“ und die Möglichkeit, Hass nach außen zu tragen. Den zweiten Widerspruch stellt die Reaktion von Herrn A. auf den Terroranschlag vom „11. September“ dar. Herr A. war zu der Zeit am Ende seiner psychoanalytischen Therapie. Herr A. sympathisierte stark mit dem Terror gegen die USA. Er fühlte sich plötzlich als Teil der gedemütigten, muslimischen Gemeinschaft. Die USA hätte arabische Länder zuvor gedemütigt und ausgebeutet. In der Therapie konnten seine feindlichen und gewaltvollen Fantasien bearbeitet werden (und auch in Bezug zu seinem destruktiven Vater gesetzt werden). Allerdings fällt es leicht, sich vorzustellen, dass dieser Mann durch zufällige Begegnung mit islamistischen Kreisen auch in dieser extremen Ecke hätte landen können. Extremistische Ideologie scheint mehr Mittel zum (emotionalen) Zweck zu sein. 


Freitag, 4. September 2020

Kindheit und Extremismus (mit Blick auch auf den NSU). Erneute Anregung für die Forschung.

Der Band Böckler, N. & Hoffmann, J. (Hrsg.) (2017): Radikalisierung und terroristische Gewalt. Perspektiven aus dem Fall- und Bedrohungsmanagement. Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt ist ein erneutes Beispiel dafür, dass die Forschung beim Thema Terrorismus und Extremismus selten schwerpunktmäßig Kindheitserfahrungen in den Blick nimmt. 

Nur in zwei Beiträgen finden sich kurze Einlassungen auf Kindheitshintergründe. Nils Böckler hat unter dem Titel „Der sogenannte Islamische Staat und die Mudschaheddin aus dem Westen: Radikalisierungsprozesse unter schwarzer Flagge“ (S. 119-137) 33 Islamisten in den Blick genommen und einige Hintergründe recherchiert. 

Er schreibt: „Über alle Fälle hinweg konnten eine Vielzahl von Konflikten in der Familie, in der Schule, bei dem Übergang in das Berufsleben, wie auch in Interaktion mit der Gruppe Gleichaltriger identifiziert werden“ (Böckler 2017, S. 105) Dem hängt er vier Konfliktmuster an, von denen eines „Gewalterfahrungen als Opfer im Elternhaus“ ist. Leider wurde die Analyse nicht vertiefend dargestellt und Kindheitserfahrungen wurden auch nicht weiter hervorgehoben. Insofern ist seine Analyse auch schwer zu verarbeiten. Allerdings wurden 3 Fallbeispiele (S. 108-114) ausführlich besprochen. 

Beim Fall „Frank“ werden destruktive Kindheitserfahrungen überdeutlich. Er wuchs mit 4 Stiefgeschwistern auf, die aus verschiedenen Beziehungen der Mutter stammten. Die Mutter ist berufstätig und die Kinder waren oft alleine. „Bereits seit seiner Kindheit fällt Frank durch aggressives Verhalten auf. Zudem sind die Beziehungen im familiären Umfeld durchgehend von Konflikten und körperlichen Auseinandersetzungen geprägt“ (S. 108). Nach gewalttätigen Auseinandersetzungen im Elternhaus auf Grund eines Streits um seinen übermäßigen Computergebrauchs zog Frank zu seiner älteren Stiefschwester. Ihr Lebensgefährte war Salafist und Frank kam mit extremistischem Gedankengut in Kontakt. 

„Rakin“ ist das jüngste von sieben Kindern. Im Altern von 5 Jahren migriert er mit seiner Familie nach Deutschland. In der Schule hat er Probleme mit den Anforderungen und dem Anschluss an Gleichaltrige. Während seiner Jugend wird bei seinem Vater Krebs diagnostiziert. Der Vater stirbt schließlich, als Rakin 17 Jahre alt ist. Über den Erziehungsstil der Eltern erfährt man nichts. 

Die Kindheit von „Hassan“ (dem dritten Fallbeispiel) wird kaum beleuchtet. Seine schulische Laufbahn verlief unauffällig und er studierte später. Die Familie sei auf Grund der Selbstständigkeit des Vaters und der Pflege eines Verwandten sehr eingebunden gewesen, so dass Konflikte in der Familie im Allgemeinen vermieden wurden. 

Die Forschung steht wie immer vor dem Problem, dass Kindheitshintergründe nicht immer einfach zu ermitteln sind. Aus den drei gezeigten Fallbeispielen lässt sich ableiten, dass belastende Kindheitserfahrungen eine wichtige Rolle bei der Genese von Extremismus spielen, allerdings bleibt das Bild uneinheitlich, weil der Erziehungsstil im Fall Rakin und Hassen nicht besprochen wird (oder nicht ermittelt werden konnte). Ich habe insofern auch Verständnis dafür, dass die Forschenden vorsichtig formulieren. 

Problematisch wird es nach meiner Ansicht allerdings dann, wenn das uneinheitliche Bild zur Wahrheit umgebaut wird oder anders gesagt: wenn das uneinheitliche Bild zum festen Ergebnis wird. Dies zeigt sich am Beitrag von Matthias Quent „Akteure des Rechtsterrorismus: Radikalisierungsverläufe im NSU-Komplex“ (S. 169-190) in dem Band. 

Quent hat die Hintergründe und Sozialisation von 6 am NSU-Komplex (Beate Zschäpe, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Ralf Wohlleben, André Kapke, Holger Gerlach; wobei er die Nachnamen nicht voll ausgeschrieben hat) beteiligten Akteuren analysiert. Aus dieser Analyse heraus hat er „Typen rechtsextremer Radikalisierungskarrieren“ (S. 182f.) herausgestellt und daraus 3 Modelle gemacht, die grafisch aufbereitet wurden. In "Modell 1" verortet er Uwe B, Holger G und Beate Z.. Das „Modell 1“ beginnt mit „familiären Konflikterfahrungen“, führt über „schulische Probleme“ u.a. zu „Gewalt“ und über weitere Wege schließlich zur politischen Gewalt. 

Ralf W. und André K. wurden in das „Modell 2“ kategorisiert, das mit „(angeblicher) rechtsextremen Cliquenzugehörigkeit“ beginnt, über „Phasen der Erwerbslosigkeit“ zur Gewalt und später politischer Gewalt führt. „Modell 3“ umfasst nur Uwe M und beginnt mit „Politischer Provokation“, führt über „rechtsextreme Politisierung und Cliquenzugehörigkeit“ zur „Gewalt“, dann „Gruppenmitgliedschaft“ und später politischer Gewalt. Das Modell schließt somit aus, dass bei Ralf W., André K. und Uwe M. familiäre Konflikte (bzw. Kindheitshintergründe) ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Eine solche Vorgehensweise halte ich für falsch!

Die realen Kindheitserfahrungen von Gewalttätern und Extremisten zu erfahren, gestaltet sich immer als schwierig (schon der "Durchschnittsbürger" spricht ungern offen über erlebtes Leid in der Kindheit oder verdrängt. Und Eltern, die zu Tätern gegenüber ihren Kindern wurden, werden sich hüten, öffentlich zu berichten, was sie getan haben). Zu dem Themenkomplex habe ich in meinem Buch ein ganzes Kapitel verfasst: „Kapitel 11. Das Schweigen der Täter: Von der Schwierigkeit, die ganze Wahrheit über das erlebte Kindheitsleid zu erfahren“. Meine Bedenken kann ich hier nicht alle wiederholen. Hier im Blog habe ich dazu bereits einen wichtigen Beitrag verfasst. 

Die Kindheiten von Zschäpe und Böhnhardt habe ich hier im Blog und erweiternd auch in meinem Buch besprochen. Die Kategorie „Familiäre Konflikterfahrungen“ kann ich bei ihnen also nur bestätigen. Wobei die Kategorie eher harmlos klingt. Zschäpe und Böhnhardt haben viel mehr traumatische Kindheitserfahrungen gemacht. 

Quent beschreibt die Kindheit von Holger Gerlach wie folgt: Nach der Scheidung der Eltern hatte er kaum Kontakt zu seinem Vater. Den neuen Stiefvater der Mutter akzeptierte er. Der Stiefvater starb 1986, Holger muss damals ca. 12 Jahre alt gewesen sein. Der Tod des Stiefvaters markiert den Zeitpunkt, ab dem Holger durch sein Verhalten auffällig wurde (Quent 2017, S. 181). Auch hier geht es sowohl um Belastungen in der Kindheit, als auch ein traumatisches Ereignis. (Und über den Erziehungsstil erfährt man ebenfalls nichts, insofern könnten hier noch weitere Belastungen liegen)

Ralf Wohlleben wird von Quent nicht im „Modell 1“ untergebracht, obwohl ich Konflikte im Elternhaus recherchiert habe: Seine Eltern waren streng, Ausriss von zu Hause, Aufenthalt im Heim, später wieder bei seinen Eltern (Ramelsberger, A. (2015, 16. Dez.): Wie Wohlleben sein Leben beschreibt. Süddeutsche Zeitung.) 

Über die Kindheit von Uwe Mundlos habe auch ich nichts von Bedeutung gefunden. Allerdings habe ich in meinem Buch auf Grund der Verhaltensauffälligkeiten seines Vaters vor Gericht ein wenig spekuliert. Über André Kapke fand ich im Grunde gar keine Infos über seine Kindheit. Bei beiden Tätern finden sich aber auch keine Belege dafür, dass sie unbelastet und gewaltfrei aufgewachsen sind. 

Wir dürfen bei diesem Thema niemals entsprechende Belastungen ausschließen! Immerhin reden wir hier über Extremisten, die durch ihr Verhalten bereits einiges über sich erzählen. Außerdem gibt es mittlerweile etliche Studien über Rechtsextremisten (für die die Akteure konkret befragt wurden), die mehrheitlich (oft auch schwere und/oder mehrfache) Belastungen in der Kindheit ausmachen konnten (siehe dafür u.a. in meinem Blog im Inhaltsverzeichnis). Es spricht also einiges dafür, vorsichtig zu sein, wenn es um die Betrachtung von Kindheitshintergründen von Extremisten geht und nicht voreilig abschließende Schlüsse zu ziehen. Das Modell von Matthias Quent ist dabei wenig hilfreich. Ich möchte erneut durch diesen Beitrag einen Wink in Richtung Extremismusforschung geben, den Themenkomplex „Kindheit“ deutlicher, vertiefender und spezialisierter anzugehen. Denn in der Kindheit liegen die Wurzeln des Übels. 


Dienstag, 25. August 2020

Wie Peter Lustig mit "Löwenzahn" Kinder und vor allem Jungs geprägt hat

Derzeit schaue ich mit meinen Kindern hin und wieder die Sendung „Löwenzahn“ (mit Peter Lustig). Die Sendung ist auch heute noch sehr sehenswert und hat mich (wie so viele Kinder meiner Generation, ich wurde 1977 geboren) in den 1980er Jahren sehr geprägt und begeistert. 

In meiner Arbeit habe ich mich immer wieder mit den Folgen von destruktiver Erziehung und Elternschaft befasst. Ich möchte heute einen Wink in eine weitere Richtung geben. Die Väter und älteren Männer, die meine Generation (also die „Sesamstraßen- und Löwenzahngeneration“, wie ich uns bezeichne) erlebt und zum Vorbild hatten, waren meist Kriegs- oder Nachkriegskinder. Sie waren es gewohnt, sich durchzukämpfen und Schwächen abzuwehren oder zu vergraben. Mit ihren eigenen Eltern hatten sie nie echten Austausch und Lockerheit erlebt. Und dies waren auch noch Männer, die noch nah an der traditionellen Männlichkeit sozialisiert wurden (auch wenn es schon damals Stück für Stück Entwicklung und Fortschritt bzgl. der Geschlechtsrollen gab). Geduld, Schwächen oder Fehler eingestehen, Reden auf Augenhöhe mit Kindern usw. waren nicht so ihr Ding. Das Lustige ist, dass der 1937 geborene Peter Lustig so gar nicht die Männlichkeitsbilder seiner Generation erfüllte! Vielfach ist berichtet worden, dass Peter Lustig privat genau so war, wie in seiner Sendung. Aber selbst wenn dies nicht so gewesen wäre: Für mich zählt in diesem Beitrag nur, was er in der Sendung „Löwenzahn“ darstellte und den Kindern mit auf den Weg gab. 

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Kinder meiner Generation Peter Lustig nicht nur wegen der Themen und der gut konzipierten Sendung (dessen Autor Peter Lustig auch häufig war) so geliebt haben. Wir staunten auch über die Männlichkeit (und auch Väterlichkeit), die er vorlebte! Er war immer ruhig und höflich, nie auf Kampf oder Feindschaft aus. Seinen Mitmenschen (vor allem sein Nachbar), die viele Fehler machten und sich destruktiv verhielten, begegnete er mit Toleranz und zeigte ihnen durch sein Verhalten, wie es auch gehen könnte. Er wehrte weder Ideen, noch Menschen ab. Er zeigte ständig offen seine Schwächen (z.B. schmeckte der selbst gemachte Kakao einfach furchtbar), aber auch seine Lernbereitschaft aus gemachten Fehlern während seiner Entdeckungsreisen. In der Sendung sprach er stets die Kinder vor dem Fernseher direkt an und das machte er auf eine sehr zugewandte, väterliche, ernstnehmende Weise und auf Augenhöhe. 

Menschen wie Peter Lustig verändern etwas in der Welt. Sie zeigen durch ihr Vorbild, wie es auch gehen kann. Sie wirken durch sich selbst. Es ist nicht zu unterschätzen, was solche Männer für Wirkungen erzielen. Ich bin sicher, dass vor allem viele Jungs aus meiner Generation ein Stück weit etwas mitgenommen haben von Peter Lustig. Etwas, das sie bestenfalls selbst in ihr eigenes Mann- und auch Vatersein einbauen konnten. 


Donnerstag, 20. August 2020

Kurze Info: Beiträge im Blog und auf Twitter

Liebe Leute,

obwohl ich soziale Medien immer gerne als "Zeiträuber" bezeichne, weil dort oft viel Zeit durch Nebensächlichkeiten verschwendet wird (und auch die Eitelkeit im Menschen stark angesprochen wird, weil mensch nach Followern giert) und mir auch nicht gefällt, dass zu viele Daten über mich gesammelt werden, muss ich doch zugeben, dass Twitter ein für mich nützliches Werkzeug darstellt. Seit Februar bin ich auf Twitter und habe mich dort langsam warm gelaufen. 

Mein Twitter-Account ergänzt meine Arbeit hier im Blog. Dort kann ich kurze Infos, die ich entdeckt habe, nicht nur verbreiten, sondern auch für mich selbst festhalten (und dann ggf. später wieder darauf zurückgreifen). Eine neu entdeckte Studie hier im Blog zu besprechen, kostet mehr Zeit, als wenn ich kurz auf Twitter darauf verweise. Allerdings bleibt Twitter oberflächlich, was ich an den Statistiken sehe. Selten werden dort Links von den Leuten angeklickt, nur die Kurznachricht wird gelesen. Typisch Social Media :-). 

Meinen Blog verstehe ich mittlerweile als Gesamtwerk, das sich im Inhaltsverzeichnis widerspiegelt. Ich bin weiterhin bemüht, Kindheitsbiografien, Studien und auch wesentliche Gedanken systematisch zu sammeln und im Inhaltsverzeichnis unterzubringen. Wer allerdings auf dem Laufenden bleiben möchte, was ich sonst noch so entdecke, der muss auf mein Twitter-Account schauen. Ich bin sehr bemüht, auch auf Twitter möglichst nur relevante Infos unterzubringen und die Zeit der Leserschaft nicht zu verschwenden. 

Herzliche Grüße

Sven Fuchs

Dienstag, 18. August 2020

Belarus. Was sagen uns Daten zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder über die aktuelle politische Situation und zukünftige Entwicklungen?


Belarus ist nach den Wahlen und Massendemonstrationen aktuell Thema in vielen Medien. Um die Lage und auch mögliche (zukünftige) Krisen (inkl. potentieller Bürgerkriegsgefahr) besser einschätzen zu können, habe ich mir Daten zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in dem Land angeschaut. Das mag für Außenstehende natürlich ein ungewöhnlicher Schritt sein (zumindest wenn man nicht mit der Psychohistorie vertraut ist). Ich bin allerdings überzeugt davon, dass solcher Art Daten Rückschlüsse auf gesellschaftliche Entwicklungen zulassen. Letztlich geht es darum, das „Traumapaket“ des Landes einzuschätzen. Traumatisierungen in der Kindheit sind eine gewichtige Ursache von späteren destruktiven Verhalten, aber auch von Ohnmachtsgefühlen, von dem Gefühl ja eh nichts in der Welt bewegen zu können. In der Folge steigt das Risiko, dass Menschen sich Machtmenschen ergeben, unterordnen oder sich sogar als deren Gehilfen anbieten (Ohnmachtsgefühle sind bei der Analyse von Diktaturen ebenso bedeutsam wie die Täterpotentiale). 

Oder einmal anders gesagt und auf den Punkt gebracht: Wenn ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung eines Landes in der Kindheit im Elternhaus „Demokratie“ erlebt hat (keine absolute Autorität der Eltern, keine Gewalt, kein Machtmissbrauch, sondern Kommunikation und Verhandlung + echte Beziehungen) dann werden solch geprägte Menschen eine tiefe Abneigung gegen gesellschaftlich autoritäre oder gar diktatorische Strukturen empfinden. Wenn sich diese Abneigung Bahn bricht, indem sich plötzlich tausende Menschen offen äußern und auf die Straße gehen, dann kommen Dynamiken in Gang, die nicht mit einem Bürgerkrieg enden werden. Die emotional/psychische Struktur dieser so geprägten Menschen verlangt nach Veränderungen und Demokratie (so wie es zu Hause erlebt wurde), ohne gleichzeitig von innerem Hass durchzogen zu sein, der zum chaotischen Umsturz der Gesellschaft führt. In vielen arabischen Ländern haben wir in den letzten Jahren gesehen, dass der Wunsch nach Veränderung in Krieg und Chaos mündete. Das „Traumapaket“ in diesen Ländern ist aber auch extrem hoch. Die Frage ist jetzt, wie es in Belarus aussieht. 

Glücklicherweise gibt es drei MICS-Studien (aus dem Jahr 2005, 2012 und 2019), die direkt miteinander vergleichbar sind. Ich beziehe mich nachfolgend nur auf den Bereich der Gewalt gegen Kinder. Die Daten zeigen einen überdeutlichen Fortschritt in dem Land und ein deutliches Weniger an Gewalt gegen Kinder. Schwere körperliche Gewalt kommt zudem verhältnismäßig selten vor (das sieht in arabischen und afrikanischen MICS-Studien ganz anders aus).  

Hier die Daten (diese zeigen das Gewaltverhalten von Eltern/Erziehungspersonen im Haushalt gegen Kinder - 2 bis 14 Jahre - innerhalb von 4 Wochen!): 

MICS-2019 (Belarus 2019. Child Discipline - Snapshot)
  • Körperliche und/oder psychische Gewalt: 57 %
  • Nur körperliche Gewalt: 26 %
  • Besonders schwere körperliche Gewalt: < 1 %
  • Nur psychische Gewalt/Aggression: 51 %
  • 9  % der Eltern/Erziehungsberechtigten glauben, dass Körperstrafen gegen Kinder notwendig sind

  • Körperliche und/oder psychische Gewalt: 64,5 %
  • Nur körperliche Gewalt: 34,2 %
  • Nur psychische Gewalt/Aggression: 58,7 %
  • 7,9 % der Eltern/Erziehungsberechtigten glauben, dass Körperstrafen gegen Kinder notwendig sind

MICS-2005 (Republic of Belarus. Multiple Indicator Cluster Survey 2005, veröffentlicht 2007, S. 41, 93)
  • Körperliche und/oder psychische Gewalt: 82,6 %
  • Nur körperliche Gewalt: 49,4 %
  • Besonders schwere körperliche Gewalt: 2,1 %
  • Nur psychische Gewalt/Aggression gegen Jungen: 80,5 %
  • Nur psychische Gewalt/Aggression gegen Mädchen: 73,6 % 
  • 15,2 % der Eltern/Erziehungsberechtigten glauben, dass Körperstrafen gegen Kinder notwendig sind
Der positive Trend bzgl. des Umgangs mit Kindern zeigt sich überdeutlich! Körperliche Gewalt gegen Kinder hat sich zwischen 2005 und 2019 fast halbiert. Psychische Gewalt/Aggression sank im gleichen Zeitraum von 80,5 bzw. 73,6 % auf 51 %. Dabei darf nicht vergessen werden, dass dies auch etwas über die aktuelle Erwachsenengeneration aussagt. Denn diese verhält sich gegenüber dem Nachwuchs immer gewaltfreier, was auch etwas über die emotionale Reife der Erwachsenen aussagt. 

Das Land ist also auf dem Weg, die Kindheit immer mehr zu demokratisieren. Dass daraus auch politische Veränderungen folgen, ist für mich keine Überraschung. Beides ist miteinander verzahnt. 

Schaut man sich abschließend die UNICEF Studie "Hidden in Plain Sight" (2014, S. 96f.) an (für die MICS-Daten ausgewertet wurde), dann zeigt sich, dass Belarus damals bzgl. dem Gewaltverhalten gegen Kinder ca. auf dem Niveau der Ukraine lag. In der Ukraine gab und gibt es bekanntlich in Teilen des Landes bürgerkriegsähnliche Zustände (wenn auch mit Opferzahlen, die bei weitem nicht an die welchen z.B. in Syrien oder einigen afrikanischen Ländern heranreichen, in denen Bürgerkrieg herrschte bzw. herrscht). Nun wird ein Bürgerkrieg nicht nur durch die Kindheitserfahrungen der Bevölkerung befeuert, sondern auch durch andere Entwicklungen und Einflüsse. In Belarus will die Bevölkerung bzw. ein erheblicher Teil davon den Diktator weg haben. In der Ukraine gab es ganz andere Hintergründe. Vom "Traumapaket" her ist Belarus mehr belastet als z.B. Deutschland. Allerdings sehe ich auch die Chancen, die sich aus der oben gezeigten Demokratisierung von Kindheit in dem Land ergeben. Vor allem langfristig wird sich dadurch in dem Land viel zum Positiven verändern. Vom Gefühl her gepaart mit den o.g. Daten würde ich also sagen, dass Belarus vermutlich nicht in Chaos und Gewalt versinken wird. Trotzdem wird es vermutlich Opfer geben und auch Krisen. Wir werden aber keine Situation wie z.B. in Syrien erleben.  

Ein Diktator hat langfristig keine Chance, wenn die Mehrheit der Bevölkerung in ihren Familien demokratisch erzogen wurde! 

Über die Kindheit des Diktators Alexander Lukaschenko habe ich übrigens nicht viel gefunden. Allerdings deuten sich schwere Problemlagen und auch Verletzungen an: "In gewisser Hinsicht gleicht sein Leben dem Märchen von Aschenputtel. 1954 als unehelicher Sohn einer Melkerin geboren, erlebte er in der Kindheit nicht nur Armut, er musste auch schiefe Blicke ertragen. Später wird er behaupten, sein Vater sei als Soldat im Krieg gefallen" (TagesWoche, 09.10.2015: Der stolze Diktator Lukaschenko strebt einen überwältigenden Wahlsieg an). Und: "Born in the village of Kopys in 1954, Mr Lukashenko had an unhappy childhood, taunted by his peers for having an unmarried mother"  (Telegraph, 25.09.2008: Alexander Lukashenko: Dictator with a difference). Ich fand allerdings keine Informationen darüber, wie seine alleinerziehende Mutter mit ihm umging. 

Freitag, 14. August 2020

Fünfachmord in Kitzbühel: Wirklich alles "normal" in der Kindheit des Täters?

Andreas E. hat seine Ex-Freundin, deren Freund und die Familie (Vater, Mutter, Bruder) der Ex-Freundin eiskalt getötet. Auslöser war wohl die Trennung, erneute Zurückweisungen durch seine Ex-Freundin und ihr neuer Freund. 

Der Täter habe eine behütete und schöne Kindheit gehabt, heißt es in vielen Medien. Der SPIEGEL schreibt aktuell: „E. ist kein Einzelgänger und kein Psychopath. Er wurde nicht gemobbt oder misshandelt. Er nimmt keine Drogen (…). Seine Eltern sind seit 37 Jahren verheiratet, er wurde als Kind nicht traumatisiert“ (Der Spiegel, Nr. 33, 08.08.2020: „Nicht ohne dich“, S. 51; online siehe den entsprechenden Artikel hier). Außerdem sei er finanziell abgesichert und hatte Pläne für sein Leben. Die Gutachterin Adelheid Kastner hat Andreas ausgiebig befragt und sie hat auch Tests durchführen lassen, um neurologische Schäden auszuschließen. Fazit: Bei Andreas ist alles normal und wunderbar. Im Untertitel des SPIEGEL-Artikels heißt es dann auch: „Eine Tat, die umso rätselhafter wird, je mehr man über sie weiß“ (S. 50). 

Für den SPIEGEL war der Fall offenkundig nicht nur auf Grund der Brutalität und des Fünfachmordes von Interesse. Die Story wurde besonders gerade dadurch, dass Andreas so normal und gesund dargestellt wurde. Keine Erklärung für eine solche Tat zu finden, gruselt uns Menschen zutiefst. Und ja, so etwas wird auch gerne gelesen. 

Dabei gibt es im SPIEGEL-Artikel auch leichte Hinweise in eine andere Richtung, die aber nicht weiter mit Fragezeichen versehen wurden. „Seine Mutter habe es jedem recht machen wollen, sein Vater habe ihm vor Urlauben ab und zu eine Watschn gegeben, weil er, der Vater, vor lagen Autofahrten so nervös gewesen sei. Ansonsten sei seine Kindheit problemlos verlaufen“ (Der Spiegel, wie oben, S. 52). Nun lese ich aus dieser Schilderung keine Misshandlung sondern leichtere Gewaltformen heraus. Allerdings wird von „Urlauben“ gesprochen und Andreas wird entsprechend nicht nur einmal geschlagen worden sein. Für mich ergibt sich daraus die Frage, ob auch in anderen Situationen Gewalt angedroht oder angewendet wurde? Das gilt besonders auch für die Kleinkindzeit (an die Andreas keine Erinnerungen haben kann), die Eltern nervlich vor manche Herausforderungen stellt. Wenn einem Vater eine anstehende Urlaubsreise derart belastet, dass er seinen Sohn ohrfeigt, wie ging er dann mit einem schreienden und trotzigen Kleinkind um? Eine Mutter, die es „allen recht machen“ will, macht mich ebenfalls hellhörig. Ergänzend hellhörig machte mich die Schilderung (ebenfalls im SPIEGEL berichtet), dass Andreas nach seinem Schulabschluss zunächst herumdriftete, u.a. eine Henne stahl und ihr mit einer Machete den Kopf abschlug. Junge Männer machen viel Mist, wenn sie Langeweile haben. Aber ein Tier aus Langeweile töten?

Ich kann die Aussagen im SPIEGEL-Bericht und auch in anderen Medienberichten zu dem Fall so nicht stehen lassen! Es gibt viele Möglichkeiten, um Kinder derart zu belasten, dass sie emotional abstumpfen oder sich spalten müssen. Dafür braucht es nicht unbedingt körperliche Misshandlungen oder auffällige Traumatisierungen.  "Wer mit viel Liebe und gewaltfrei erzogen wird, kommt mit solchen Schicksalsschlägen klar. Der leidet auch, aber bringt niemanden um“, sagte der Kriminologe Christian Pfeiffer mit Blick auf den Fünffachmord in Kitzbühl und den Täter Andreas A. (Rtl.de, 12.08.2020, Kriminologe Christian Pfeiffer: „Es muss etwas im Dunkeln liegen“) Und Pfeiffer mahnt mit Blick auf die Kindheit von Andreas: „Es muss etwas im Dunkeln liegen.“ So sehe ich das auch!

Was übrigens bisher gar nicht zur Sprache kam ist, wie Männlichkeit in der Familie und in dem Umfeld von Andreas definiert wurde. Welche Männlichkeitsnormen herrschten dort? Andreas arbeitete auf dem Bau als Maurer und kam in Kontakt mit einem sehr rauen Jargon (siehe ebenfalls den o.g. SPIEGEL-Bericht). Aber das alleine reicht nicht aus. Eine männliche Sozialisation ist, wenn sie traditionell daherkommt (also Weichheit und Emotionen ablehnt und für Härte und starke Männlichkeit wirbt), an sich eine Verletzung des männlichen Kindes und prägt dessen emotionale Entwicklung. Und sie entwertet gleichzeitig Frauen. Nun: Der Fall wirft in der Tat sehr viele Fragen auf. Was mir nicht reicht ist das Fazit: „Kindheit und Umfeld gut = Tat unerklärlich“ 

Donnerstag, 13. August 2020

4 Rechtsextremisten und ein 1 Islamist = 5 "Einzelfälle", die bzgl. Kindheitshintergründen typisch sind.


Ich habe 4 rechtsextremistische Einzelfälle und einen Fall eines Islamisten recherchiert. Die gezeigten Kindheitshintergründe findet man so oder so ähnlich immer wieder bei der Betrachtung von weiteren "Einzelfällen" sowie auch in etlichen Extremismusstudien mit höheren Fallzahlen, die ich hier im Blog oder in meinem Buch besprochen habe. Für mich besonders interessant sind hier auch die Quellen für die Rechtsextremisten. Denn die AutorInnen haben einen psychologischen bzw. psychoanalytischen Hintergrund und nutzen die Einzelfälle teils für umfassende (psychiatrische oder psychoanalytische) Analysen und Anmerkungen, die ich hier nicht wiedergeben kann. Ich empfehle Interessierten eine vertiefende Lektüre. 

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Verwendete Quelle: Bielicki, J. S. (1993): Der rechtsextreme Gewalttäter. Eine Psycho-Analyse. Rasch und Röhring Verlag, Hamburg.

Fallbeispiel Hans-Jürgen M., rechtsextremer junger Mann aus der psychoanalytischen Praxis (Bielicki 1993, S. 111-118):

Hans-Jürgen M. beschreibt seinen Vater als schwachen Menschen und Waschlappen, der es in seinem Leben nie zu etwas gebracht habe. Zudem sei der Vater häufig abwesend gewesen und er hätte nicht viel von ihm gehabt. Der Vater habe auch öfter Alkohol getrunken und seinen Sohn dann manchmal verprügelt. Auch der Großvater väterlicherseits sei ein brutaler Mensch gewesen, der Frau und Kinder (also auch den Vater von Hans-Jürgen) geschlagen habe. 

Seine Mutter beschreibt Hans-Jürgen als kaltherzig und egoistisch. Sie sei in der Familie die dominierende Figur gewesen. Auch sie habe ihn geschlagen (auch manchmal einfach so, weil sie schlecht drauf war) oder sie habe ihn stundenlang, auch im Winter, im Kohlenkeller eingesperrt. Trotz all dieser Schilderungen meint Hans-Jürgen, dass seine Eltern weder besonders streng, noch besonders konsequent gewesen wären.

Als Hans-Jürgen ca. 1 Jahr alt war, zog sich die Mutter einen komplizierten Bruch zu und musste ein dreiviertel Jahr ins Krankenhaus. Während dieser Zeit hätten sich abwechselnd die Großmutter und zwei verschiedene Tanten um ihn gekümmert. Er selbst habe keine Erinnerungen an diese Zeit. Die Familienatmosphäre sei angespannt gewesen und die Eltern hatten oft Streit und hätten sich dann angeschrien. Als Kind sei er eher schüchtern gewesen und sei oft von anderen Kindern verprügelt worden. Der weitere Lebensweg von Hans-Jürgen ist von Destruktivität gekennzeichnet: Arbeitslosigkeit, Angststörungen, Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken, Gewalt gegen die Lebensgefährtin, rechtsextreme Gesinnung, Straftaten und Gefängnisaufenthalt. 

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Verwendete Quelle: Streeck-Fischer, A. (1999): Über die Mimikryentwicklung am Beispiel eines jugendlichen Skinheads mit frühen Erfahrungen von Vernachlässigung und Misshandlung. In: Streeck-Fischer (Hrsg.): Adoleszenz und Trauma. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen. S. 161-173. 

Fallbeispiel „Bernd“ (rechter Skinhead) aus der stationären Behandlung (Streeck-Fischer 1999, S. 167-171): 

Bernd war bis zu seinem 6. Lebensjahre diversen Traumatisierungen ausgesetzt. Die ersten 3 Lebensjahre verbrachte er bei seiner Herkunftsfamilie. Die Mutter war unzuverlässig und lebensunfähig. Der Vater neigte sehr dem Alkohol zu und war gewalttätig. Das Jugendamt veranlasste eine Heimunterbringung. Dieses Heim wurde allerdings wegen verwahrloster und pädagogisch fragwürdiger Bedingungen geschlossen, als Bernd 6 Jahre alt war. Was er in diesem Heim alles erlitten hat, wird nicht deutlich. Er kam dann zu Adoptiveltern. Ab dem 13. Lebensjahr kam er durch einen Freund immer mehr in Kontakt mit Gewaltfantasien und rechtsextremen Einstellungen. Seine oberflächlich gute Anpassung an die Lebensbedingungen brach in der Folge zusammen. 

Bezugnehmend auf Winnicott spricht Streeck-Fischer von einem „falschen Selbst“, das Bernd bedingt durch die Traumatisierungen entwickelt hätte. Bernd reinszenierte ein frühes Beziehungsmuster bzw. seine abgespalteten Selbstanteile kamen als Jugendlicher zum Vorschein. Die Analyse von Streeck-Fischer ist komplex (und sehr interessant) und kann hier nicht gänzlich besprochen werden. Nur ein Zitat: „Mit seinem Angleichungsselbst entwickelte er zwei Leben. Er lebte mit seinem Angleichungsselbst in der Erwachsenenwelt und in der Rechtsextremenszene. Die Anziehungskraft, die für Bernd von der rechtsextremen Gruppierung ausging, die von Gewalt und antisozialen Einstellungen geprägt waren, hatte einerseits mit der inneren Vertrautheit dieses Gewalt- und Demütigungsmilieus durch frühe Kindheitserfahrungen zu tun, zum anderen fand er hier eine äußere Lösung für seinen inneren Notstand. Er begegnete dort der Doppelgesichtigkeit seines bedrohlichen inneren Objekts, das bedingungslose Unterwerfung und Angleichung fordert und ihn zugleich einen Austragungsort für seine abgespaltenen fremden Selbst-Objektanteile ermöglichte, die er im Hass gegen Ausländer kanalisierten und kontrollieren konnte“ (Streeck-Fischer 1999, S. 171). 

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Verwendete Quelle: Schmidt, B. (1996): Psychoanalytische Überlegungen zur rechtsextremistischen Orientierung männlicher Jugendlicher. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 45 (1996) 10, S. 370-374. 

Der Fall A. (rechtsextremer, gewaltbereiter Jugendlicher mit schwerer Persönlichkeitsstörung, der psychotherapeutisch behandelt wurde):

Der Vater war bis zum 9. Lebensjahr von A. überwiegend abwesend und auf Montage. Danach arbeitete der Vater als LKW-Fahrer. Der Vater hatte Alkoholprobleme. Im Alter von 2 oder 3 Jahren drohte deswegen die Ehe der Eltern von A. zu zerbrechen. Der Vater „ist konfliktscheu und bezieht bei Problemen keine Stellung, unter Alkoholeinfluss wird er jedoch schnell jähzornig und aggressiv. Statt zu reden schlägt er dann auch gelegentlich zu. Er entzieht sich bei wichtigen familiären Entscheidungen und überlässt diese der Mutter. (…) Frauen sind für den Vater Zweite-Klasse Menschen. Er hat auch etwas gegen Ausländer, die er für die wirtschaftlichen Probleme verantwortlich macht“ (Schmidt 1996, S. 371). 

Der Großvater väterlicherseits wird von A. stark idealisiert und als Held verehrt. Der Großvater sei rechts eingestellt und auch gegen Ausländer gewesen. Besonders schockierend, aber für die den Umgang in dieser Familie wohl bezeichnend, ist die erste Kindheitserinnerung von A. (er war damals ca. 7 Jahre alt): Sein Vater hatte zusammen mit einem Freund einen Ziegenbock geschlachtet und den Kopf des Tieres auf einen Ameisenhaufen gelegt. „Der abgefressene Kopf wurde ihm dann lächelnd vom Vater vor das Gesicht gehalten“ (Schmidt 1996, S. 371). Die Mutter wird als sehr dominant in der Familie beschrieben. Die Beziehung zwischen ihr und ihrem Sohn sei durch einen frühen Mangel an emotionaler Versorgung bei gleichzeitiger Verwöhnung gekennzeichnet. Die Eltern hätten sich beide bekämpft, die Familienatmosphäre sei aggressiv gewesen. 

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Verwendete Quelle: Kahl-Popp, J. (1994): ,Ich bin Dr. Deutschland." - Rechtsradikale Phantasien als verschlüsselte Kommunikation in der analytischen Psychotherapie eines Jugendlichen. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 43 (1994) 7, S. 266-272.

Der Fall „Paul“ (rechtsextremer Jugendlicher in psychoanalytischer Behandlung): 

Seit der Geburt von Paul war der Vater ständig untreu, was die Ehe der Eltern erheblich belastete. Die Vater-Sohn Beziehung war durch Ambivalenz geprägt. „Paul charakterisiert die Beziehung des Vaters zu ihm als ständiges Wechselbad zwischen Idealisierung, Verwöhnung, Entwertung, und der Drohung, ihn und die Familie zu verlassen. Der Vater reagiere selbst mit Wut und Gewalt, um Pauls Anpassung zu erzwingen, wenn er sich z B durch die rechten Parolen und Attribute Pauls provoziert fühle (…)“ (Kahl-Popp 1994, S. 267). 

Die Mutter war latent depressiv und ließ sich vom Vater ausbeuten und abwerten. Sie konnte schlecht Grenzen setzen und verwöhnte ihren Sohn. Paul fühlte sich oft von ihr gefangen. Die Autorin meint, dass beide Eltern ihren Sohn narzisstisch missbraucht hätten. Pauls Eltern sind beide Akademiker, geben sich linksliberal, weltoffen und ausländerfreundlich. Nach außen hin also eine „perfekte“ Familie, was dem realen Inneren nicht entsprach. 

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Verwendete Quellen: 

Behr, S. (2018, 02. Nov.): Islamist vor Gericht. "Wir leben hier ja nicht in einem Kalifat". Frankfurter Rundschau online. 

Dantschke, C.; Mansour, A., Müller, J. & Serbest, Y. (2011): "Ich lebe nur für Allah". Argumente und Anziehungskraft des Salafismus. Eine Handreichung für Pädagogik, Jugend- und Sozialarbeit, Familien und Politik. ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH, Berlin.

Der Fall Harry M.; Gründer einer islamistischen Internetseite, auf der er Propaganda u.a. für den IS oder Anleitungen zum Bombenbau verbreitete (siehe näheres über ihn in einem SPIEGEL TV Porträt).

Der Fall Harry M. ist laut dem Autorenteam Dantschke et al. (2011) ein "typischer Fall" für eine Radikalisierung. Dazu gehört auch eine sehr destruktive Kindheit. Seinen Vater kenne er nicht, dieser habe die Familie verlassen, als Harry 2 Jahre alt war. Mit der Mutter (diese ist im o.g. SPIEGEL Porträt auch kurz zu hören und zu sehen) gab es offenbar ständig Probleme; als Harry 13 Jahre alt war, schmiss sie ihn raus. "Harry übernachtete mal hier, mal dort, schlug sich irgendwie durch" (Dantschke et al. 2011, S. 74). Er nahm Dorgen und Alkohol zu sich, um sich zu beruhigen. Mit 16 Jahren schmiss er die Schule und kam dann durch einen Schwager mit dem Islam in Verbindung. Verschiedene islamistische Prediger prägten in der Folge den jungen Mann für seinen weiteren Weg in die Radikalität. 

Behr (2018) spricht ebenfalls die destruktive Kindheit von Harry an und schließt mit: "Sein Werdegang im Schnelldurchlauf: Heimaufenthalte, Drogenexzesse, Blitzradikalisierung. Harry M. machte sich in der Salafistenszene schnell einen Namen".