Seit über 18 Jahren befasse ich mich mit den Folgen von Destruktivität und Gewalt gegenüber Kindern. Im folgenden Text möchte ich einige Gedanken (die sich aus meinen persönlichen Beobachtungen, Erfahrungen und Eindrücken sowie meiner vielseitigen Literaturrecherche ergeben haben) darüber zusammenfassen, was destruktive Kindheitserfahrungen im Elternhaus alles anstoßen können.
Dass Gewalt-, Missbrauchs- und Demütigungserfahrungen im Elternhaus viele schädliche Folgen für Kinder und auch die später Erwachsenen haben können, steht mittlerweile aus wissenschaftlicher Sicht außer Zweifel. Je früher, je massiver und je vielfältiger die destruktiven Erfahrungen in der Kindheit sind, desto schwerwiegender sind die Folgen. Und auch die Nähe zum Täter beeinflusst die Folgen stark, weshalb Destruktivität im Elternhaus besonders schädlich wirkt.
Bei der Betrachtung der Folgeschäden wird meines Erachtens nach allerdings oftmals etwas ausgeblendet, wofür es mir schwerfällt, einen passenden Namen zu finden. Der beste bildliche Vergleich ist der einer Sogwirkung. Dazu gleich mehr.
Bei der Erforschung der Folgen von destruktiven Kindheitserfahrungen wird oft geschaut, was „vorne“ alles rein ging und was „hinten“ herauskommt. Die sogenannten ACE-Studien haben bisher am breitesten ausgeleuchtet, was alles „vorne“ rein ging (u.a. körperliche, sexuelle + emotionale Misshandlung, Miterleben von Gewalt in der Familie, Suchtmittelgebrauch in der Familie und psychisch kranke Familienmitglieder) und was „hinten“ rauskam (u.a. diverse Krankheitsbilder, psychische Störungen, Suchtmittelgebrauch, Arbeitslosigkeit, früher Tod, Suizid, Gewaltverhalten).
Dabei fehlen allerdings ein paar Puzzleteile, die aber auch schwer messbar sind. Die oben gennannten möglichen Folgen und die erwähnten destruktiven Kindheitserfahrungen stehen zweifellos in einem deutlichen Zusammenhang. Aber noch etwas wirkt hinein, noch etwas wirkt sich aus. Etwas, dass ich wie gesagt als Sogwirkung bezeichne.
Ich gebe einige Beispiele:
Wenn Eltern sich systematisch destruktiv gegen ihr Kind verhalten, so hat dies nicht nur direkte Folgen auf die betroffenen Kinder, sondern nach meinem Eindruck auch auf das Verhältnis zwischen Geschwistern. Es stimmt zwar auch, dass sich nicht selten Geschwister untereinander solidarisieren und sich einen kleinen Schutzraum schaffen, der gegen destruktive Eltern steht. Aber nicht selten ist ebenso (oder auch gleichzeitig), dass das schlechte Vorbild der Eltern bedingt, dass sich auch Geschwister gegenseitig verletzen, ihre Beziehung von einer Hass-Liebe geprägt ist usw.
Nicht nur einmal ist mir aufgefallen, dass die später Erwachsenen, die aus Misshandlungsfamilien oder grob formuliert „destruktiven Familien“ stammen, kein oder ein sehr schlechtes Verhältnis zu ihren Geschwistern haben. Konstruktive Streitkultur wurde nicht gelernt, gegenseitige Verletzungen der Geschwister untereinander wurden nicht vergessen und ein Wiedersehen mit den Geschwistern droht auch jedes Mal unerträgliche Erinnerungen an die eigene Kindheit wieder hoch kommen zu lassen. Vielleicht ist auch ein Geschwisterkind schlechter von den Eltern behandelt worden, als das andere. Was Neid und Missgunst nach sich zieht. Die Folge aus all dem ist, dass solch geprägte Menschen auch weniger durchs Leben „getragen“ werden. Geschwister, die sich gut verstehen, „tragen“ sich gegenseitig, bieten emotionale Nähe, Sicherheit und Wohlbefinden und in der Folge auch eine gesündere Psyche. Wenn diese Bindung bedingt durch elterliche Destruktivität gestört oder gar zerstört wurde, dann belastetet auch dies und trägt mit einen Teil zu beobachtbaren schädlichen Folgen im Erwachsenenalter bei. Die beobachtbaren Folgeschäden sind dann also nicht nur eine direkte Folge elterlicher Destruktivität, sondern auch indirekte Folge durch die negativen Prägungen auf Geschwisterebene. Oder anders gesagt: Elterliche Destruktivität kann eine Sogwirkung entfalten; sie stößt an und bedingt weitere negative Dynamiken, die alle Beteiligten sogartig erfasst und immer weiter nach unten reißt.
Anderes Beispiel: Wenn sich z.B. im Kindergarten oder in der Grundschule zwischen Eltern herumspricht, dass es bei einem Elternteil eines bestimmten Kindes Kinderschutzmaßnahmen/-interventionen gab, dann hat dies u.U. direkte Folgen, die dem betroffenen Kind gar nicht klar sein werden. Das Kind will vielleicht ein anderes Kind zu sich nach Hause einladen oder es lädt zum Geburtstag ein. Nur: Es kommt keiner! Die Eltern der anderen Kinder werden direkte oder indirekte Wege finden, ihr Kind davon zu überzeugen, dass es sich andere Freunde suchen soll. Nicht weil das andere Kind ein Problem ist, sondern weil sie Sorge bezogen auf einen Elternteil oder die Eltern des anderen Kindes haben und ihr eigenes Kind schützen wollen. In der Folge verzweifelt das betroffene Kind und sein Selbstwertgefühl wird erschüttert. Das Kind wird – wie im Beispiel davor – nicht von seinem Umfeld „getragen“, es erlebt weniger oder kaum emotional befriedigende Freundschaften mit anderen Kindern. Es findet dadurch auch kein oder weniger Ausgleich zu den destruktiven Erfahrungen im Elternhaus statt, obwohl diese Ausgleichserfahrungen so unbedingt nötig wären. Das Ausgegrenzt-werden war ursprünglich Folge des destruktiven Verhaltens der eigenen Eltern. Aber das Ausgegrenzt-werden an sich hat wiederum ganz eigene schädliche Folgen für das betroffenen Kind. Auch hier gilt wieder: Elterliche Destruktivität entfaltet eine ganz eigene Sogwirkung nach unten.
Ähnliches Beispiel wie das zuvor: Erlebte elterliche Destruktivität oder gar traumatische Erfahrungen haben natürlich auch akute Folgen für die betroffenen Kinder. Wenn diese Folgen sich so ausdrücken, dass die entsprechenden Kinder verhaltensauffällig werden, dann kann ihr negatives Verhalten wiederum Ausgrenzungserfahrungen nach sich ziehen. Wenn es nette und konstruktive Kinder in der Schule gibt, dann werden sich viele Kinder nicht unbedingt das verhaltensauffällige Kind als besten Freund aussuchen. Die eigene dunkle Ausstrahlung oder Verhaltensauffälligkeit führt zur Vereinsamung des Kindes, was wiederum noch mehr Verhaltensauffälligkeiten nach sich zieht. Die destruktiven Eltern gaben den Anstoß, das Kind wird in den dunklen Strudel hineingezogen. Auch hier gilt wieder: Das Kind macht weniger oder kaum tragende, positive Erfahrungen, sondern lernt ganz im Gegenteil, dass die Welt nicht nur aus destruktiven Eltern besteht, sondern auch das Umfeld gefühlt „feindselig“ ist. Wer ausgegrenzt wird, der erlebt dies als Angriff auf seine Person und fühlt sich feindselig behandelt. Zu Recht. Damit meine ich nicht, dass das Umfeld im wahrsten Sinne des Wortes real feindselig sein muss. Das betroffene Kind wird vielleicht akzeptiert und auch wahrgenommen. Aber was hilft dies, wenn keine Kinder zum Spielen vorbeikommen und wenn man keinen besten Freund findet? Das Kind fühlt sich dann im „Feindesland“. Alles ist grau, das Leben wird zur Qual.
Erneut ähnliches Beispiel: Ein stark vernachlässigtes Kind, das in Kindergarten und Schule gut integriert ist und keine Verhaltensprobleme zeigt, nähert sich einem anderen Kind an, baut eine Freundschaft auf und besucht dieses Kind auch. Das andere Kind lebt in einer sehr herzlichen Familie, die tiefe Bindungen hat. Nun kann dies eine Chance für das vernachlässigte Kind sein, positive Ausgleichserfahrungen zu machen. Aber was ist, wenn sich die „Täterintrojekte“ melden? Wenn eine Stimme innerlich ruft: „Du hast es nicht verdient, diese nette Familie zu kennen und zu besuchen. Du bist schlecht und Dreck! Keiner wird Dich mögen!“ (Botschaften also, die ursprünglich in ähnlicher Weise durch destruktive Elternteile in das Kind eingepflanzt wurden) Oder anders gedacht: Was ist, wenn diese nette Familie zu einer extremen Verunsicherung des vernachlässigten Kindes führt? Denn dieses Kind erlebt quasi bei seinem Besuch live, was es selbst nicht hat und wie sehr es im Grunde Zuhause leidet. Unerträglich! Dieses Kind inszeniert in der Folge plötzlich Streit. Es verhält sich schlecht. Es macht sich unbeliebt. Schließlich wird es von dem einladenden Kind gemieden und verliert den Kontakt. Das vernachlässigte Kind kann jetzt wieder innerlich überleben, weil es nicht mehr sehen muss, was es selbst so gerne hätte. Die Folge: Weniger Sozialkontakt, schlimmstenfalls Vereinsamung mit wiederum ganz eigenen Folgen. Der Sog der destruktiven Eltern wirkt auch hier.
Noch ein Beispiel: Die oben gemachten Überlegungen führen zu einer weiteren Überlegung. Wenn diese Dinge so passieren, hat dies u.U. zur Folge, dass entsprechende Kinder eher „Ihresgleichen“ suchen. Kinder mit destruktiven Eltern finden sich dann gegenseitig. Sie erkennen sich. Sie verbindet auch etwas. Allerdings kann es, wenn es schlecht läuft, auch dazu führen, dass sie ihre schlechten Seiten gegenseitig verstärken. Sie haben Zuhause keinen konstruktiven, liebevollen Umgang erlebt. Sie haben eine andere innere Moral entwickelt. Sie pflegen jetzt gegenseitig ihre destruktiven Seiten. Sie planen jetzt vielleicht Intrigen gegen ein anderes Kind. Oder sie planen, einen Lehrer fertig zu machen. Wenn diese Kinder Jugendliche werden, sind es genau diese unguten Verbindungen, die zu destruktiven Gruppenbildungen führen: Delinquente Jugendgangs, extremistische Gruppen usw. Wie gesagt, man „erkennt sich“ gegenseitig. Traumatisierte Menschen können einander irgendwie anziehen, das gilt auch für Ehepaare.
Wobei wir beim nächsten Thema wären: Destruktive Kindheitserfahrungen können manches Mal ungute Lebensentscheidungen nach sich ziehen. Man(n) will Soldat werden, um sich stark und zugehörig zu fühlen und seine Kindheit abzuschütteln. In der Folge erlebt man(n) traumatisierende Einsätze und wird psychisch immer weiter beschädigt. Oder man findet einen Ehepartner, der ebenfalls in der Kindheit traumatisiert wurde. Beide Partner verletzten sich vielfach gegenseitig und arbeiten gemeinsam an der Zerstörungen ihrer beider Leben und ihres Glücks. Der Sog, der ursprünglich von den Eltern erzeugt wurde, wird immer größer und zieht weitere belastende Erfahrungen nach sich. Dies könnte man in etliche Richtungen weiterspinnen. Etwa dahingehend, dass als Kind schwer verletzte Menschen später oft kein gutes Gefühl für potentiell bedrohliche Situationen oder bedrohliche Menschen haben. Oder ein innerlicher Druck zwingt sie gar auf eine Weise, sich in riskante Situationen zu begeben. In der Folge erleben sie dann schwere Verletzungen.
Es gibt im Extrem in der Tat Biografien, wo sich eine schwere Belastung an die nächste reiht. Am Anfang war die elterliche Misshandlung. Wenn man sich dann die Lebensgeschichte dieser Menschen genau anschaut, dann gab es stets nur Schatten, nie Licht. Dann gab es nur Unglück, nie Glück. Dann gab es keinen Schutz, nur Verletzungen. Socher Art Biografien kann man sich gar nicht ausdenken, sie sind unfassbar.
Mit diesem Beitrag, den man sicher noch weiter ausfeilen könnte, möchte ich unterstreichen, dass elterliche Destruktivität nicht alleine für die beobachtbaren negativen Folgen im Erwachsenenalter (wie z.B. psychische Störungen, massive Gesundheitsprobleme, usw.) verantwortlich sein muss. Die elterliche Destruktivität an sich stößt derart viel an oder bewirkt einen derartigen Sog, dass sich diverse weitere belastenden Erfahrungen daraus ergeben, dass Menschen weniger durchs Leben „getragen“ werden und sie folglich auch psychisch weiter beschädigt werden. Den Grundanstoß gab in der Tat das destruktive Elternhaus! Daraus folgt der Schluss, dass eine Prävention von Leid im Elternhaus der Schlüssel auch von Prävention weiterer belastender Erfahrungen sein kann. Kumulierte Belastungserfahrungen erhöhen massiv den möglichen schädlichen (psychischen) Output. Leider zeigt uns die Realität, dass im Elternhaus belastetet Kinder oft genau das erleben: Mehrfachbelastungen, die sich gegenseitig verstärken oder auch die nächste Belastung nach sich ziehen. Insofern muss die Präventionsarbeit auch einen geschulten Blick auf diese potenziellen Sogwirkungen haben, die im Elternhaus schlecht behandelte Kinder nicht selten erleben.