Montag, 9. November 2020
Gewalt durch Mütter/Stiefmütter gegen junge Frauen/Jugendliche in der Welt
Donnerstag, 5. November 2020
Gewalt gegen Kinder in Kanada (und Unterschiede im Vergleich zu den USA)
Die politischen Vorgänge in den USA bis hin zur aktuellen Wahl beschäftigen mich stark. Ja sie belasten mich auch, weil wir aus Europa "Zuschauer" eines offenen, politischen Wahns sind. Viele irrationale Prozesse (inkl. einer Tendenz zur Selbstzerstörung) sind in den USA am Werk, die meiner Auffassung nach auch viel mit dem zu tun haben, wie Kindheit in diesem Land war und ist. Auch am Beispiel der Kindheit von Donald Trump wird dies überdeutlich. Aber auch mit Blick auf Zahlen und Daten zum Thema Kindheit in den USA (siehe "Kindheit in den USA", "Belastende Kindheitserfahrungen in den USA: Neue Daten" und ergänzend ein Hinweis in meinem Twitter-Account auf eine Studie aus dem Jahr 2019 mit 18.845 Befragten). Ebenso wie mit Blick auf sonstige Bedingungen, wie fehlender gesetzlicher Mutterschutz in den USA (was bzgl. Industrienationen nur in den USA so zu finden ist) oder hohe Arbeitsbelastung vieler Eltern, um die eigene Existenz in einem Land mit schlechter sozialer Absicherung zu sichern.
Ich möchte den Blick einmal vergleichend nach Kanada richten. Kanada steht im Vergleich zu den USA, zumindest nach meinem Kenntnisstand, für deutlich weniger destruktive, politische Prozesse (inkl. nach außen in Form von Kriegseinsätzen) und auch für soziales Engagement. Im GLOBAL PEACE INDEX steht Kanada aktuell auf Platz 6, die USA auf Platz 121... Kanada hat außerdem eine deutlich niedrigere Mordrate als die USA. Der aktuelle Präsident Justin Trudeau steht für Liberalismus und ist bekennender Feminist. Im Vergleich zu Donald Trump könnte der Unterschied kaum größer sein!
Ich selbst bin im Alter von 21 Jahren (also vor ca. 22 Jahren) 3 Monate durch die gesamte USA und auch Kanada gereist (beginnend in New York von Ost über Süd nach West, dann beginnend über Vancouver durch Kanada und später wieder zurück in den Nord-Osten der USA und zurück nach New York). Ich erinnere mich sehr gut an regionale Unterschiede in den USA, auch was ungute Gefühle und Bedrohungsängste anging. Am unsichersten fühlte ich mich damals in Detroit, Los Angeles und in Teilen des Südens. Am sichersten und auch am lockersten war es in Seattle (wie gesagt, rein subjektiv empfunden). Aber mit dem Übertritt über die Grenze nach Kanada war es grundsätzlich anders. In Gesamtkanada fühlte ich mich sehr sicher und wohl. Im sehr französisch geprägtem Québec merkte ich schließlich, wie sehr ich Europäer bin und Europa vermisse. Auch dort fühlte ich mich sehr sicher.
Für die Unterschiede in beiden Ländern gibt es sicher einige Erklärungen. Wie immer konzentriere ich mich mehr auf die Kindheit und diese ist in der Tat in Kanada deutlich gewaltfreier, als in den USA.
Bzgl. der Gesetzgebung sind beide Länder gar nicht so unterschiedlich, wobei Kanada etwas besser dasteht. In beiden Ländern sind Körperstrafen gegen Kinder im Elternhaus legal, wobei Kanada die Gewalt etwas deutlicher beschränkt hat. In den meisten Schulen Kanadas sind Körperstrafen verboten, dagegen gibt es in den USA noch etliche Staaten, die Körperstrafen erlauben und auch praktizieren.
Den wesentlichsten Unterschied zwischen beiden Ländern und dem Ausmaß von Gewalt gegen Kinder findet man im Elternhaus. Kanada bewegt sich – wie die Daten unten zeigen – deutlich auf das nordeuropäische Niveau zu. Nur noch eine deutliche Minderheit der Kinder wird im Elternhaus geschlagen und dies meist nicht häufig. Wobei zu beachten ist, dass die unten genannten Daten bzgl. der Aktualität auf dem Stand zwischen 2008 und 2013 sind. Es ist bei der Trendlage davon auszugehen, dass sich bis zum Jahr 2020 der Gewaltrückgang gegen Kinder noch weiter verbreitet hat.
Der Rückgang von Körperstrafen gegen Kinder ist ein sehr bedeutender Faktor, um eine Gesellschaft in ihrem Sein zu bewerten (was ich hier im Blog schon oft betont habe). Eltern, die in der Lage sind, ihre Kinder gewaltfrei zu erziehen, bezeugen durch ihr Handeln bereits einen hohen emotionalen Entwicklungsstand. Gewaltfreiheit gegenüber Kindern bedeutet auf der einen Seite deutlich weniger schädliche Entwicklungsverläufe für die Kinder eines Landes, aber sie bedeutet eben auch, dass die Erwachsenen einen wichtigen Schritt in der psychosozialen Evolution gemacht haben. Dieser Schritt wurde von vielen Eltern und Erwachsenen in den USA noch nicht gemacht! Und dies erklärt meiner Auffassung nach auch ganz wesentlich politisch-soziale Unterschiede an sich zwischen den USA und Kanada.
Hier nun einige Daten aus Kanada:
In repräsentativen Befragungen wurden kanadische Eltern im Zeitraum zwischen 1994 und 2008 bzgl. ihres Strafverhaltens gegenüber Kindern erfasst. 1994 schlugen noch ca. 50 % der kanadischen Eltern ihre 2-5jährigen Kinder, bis 2008 sank die Rate auf ca. 30 %. Bei den 6-9jährigen Kindern sank die Rate von etwas unter 40 % im Jahr 1994 auf etwas über 20 % im Jahr 2008. Gleichzeitig nahm die Häufigkeit des Strafverhaltens stetig ab. Die meisten kanadischen Eltern, die ihre Kinder schlagen, tun dies eher selten. (Fréchette, S. & Romano, E. (2015): Change in Corporal Punishment Over Time in a Representative Sample of Canadian Parents. Journal of Family Psychology. Vol. 29, Nr. 4. S. 507-517.)
Speziell für die kanadische Provinz Québec wurden drei große Studien aus den Jahren 1999, 2004 und 2012 miteinander verglichen. Abgefragt wurde jeweils das elterliche Gewaltverhalten innerhalb eines Jahres gegen Kinder zwischen 0 und 18 Jahren. 1999 erlebten 47,7 %, 2004 42,9 % und 2012 34,7 % der Kinder mindestens einmal körperliche Gewalt im Elternhaus. Gleichzeitig sank die Zustimmungsrate zu Körperstrafen. 1999 stimmten beispielsweise noch 29,2 % der Eltern in Québec zu, dass manche Kinder geschlagen werden müssten, um eine Lektion zu lernen, 2004 war der Wert auf 25,7 % und 2012 auf 15 % gesunken. (Clément, M.-E. & Chamberland, C. (2014): Trends in Corporal Punishment and Attitudes in Favour of This Practice: Toward a Change in Societal Norms. Canadian Journal of Community Mental Health. Vol. 33, NO. 2. S. 13-29.)
Im Jahr 2013 wurden 500 Erwachsene in Ontario, die mit einem Kind im Alter von 6 Jahren oder darunter zusammenlebten, befragt. 72 % der Befragten glauben nicht, dass Körperstrafen gegen Kinder eine effektive Methode sind, diesen etwas beizubringen. 26 % glauben an den Nutzen von Körperstrafen. 68 % der Befragten hatten ihr Kind noch nie geschlagen. 27 % der Befragten hatten ihr Kind geschlagen. Nur 4 % hatten ihr Kind häufig geschlagen. (Best Start Resource Centre (2014): Child Discipline: Ontario Parents’ Knowledge, Beliefs and Behaviours, Toronto: Best Start Resource Centre)
Donnerstag, 29. Oktober 2020
"Familienkrieg" - Kindheit und Familie des Neonazis Simon
Bereits vor 18 Jahren habe ich die Doku „Familienkrieg“ von Reinhard Schneider aus dem Jahr 2002 im Fernsehen gesehen und nie vergessen. Seit einigen Monaten ist die Doku nun auch online zu sehen:
Dazu gibt es auch noch das Hör-Feature „Mein Sohn der Nazi - Szenen einer Familie aus Niederbayern“
(Aus all den oben genannten Quellen beziehe ich meine unten aufgestellten Informationen.)
Für mich ist die heutige Sicht allerdings eine etwas andere, eine komplexere als vor 18 Jahren. Damals hatte ich zwar sehr wohl den Zusammenhang zwischen der destruktiven Kindheit und Familie von Simon und seinem Weg zum Nazi erkannt (es wäre auch erstaunlich, wenn Zuschauer dies nicht erkennen würden), aber ich hatte noch kein Schema bzgl. der verschiedenen Belastungsfaktoren im Hinterkopf. Heute, 18 Jahre später, habe ich sehr viel mehr Belastungsfaktoren im Fall Simon erkannt, als damals. Es ist schockierend, was dieses Kind alles erlitten hat.
Simons Vater, ein Seemann, war Alkoholiker. Simons Mutter war bei Simons Geburt nur 19 Jahre alt. Die Mutter wurde von ihrem Mann systematisch schwer gedemütigt, terrorisiert und herabgesetzt, auch schon während der Schwangerschaft. Ihr Mann drohte ihr auch Gewalt an. Als sie mit Simon schwanger war, bekam sie Selbstmordgedanken. Später sagte sie dies auch ihrem Kind Simon: „Ich wollte mich umbringen, als Du in meinem Bauch warst“, berichtet Simons spätere Freundin. Auch eine Abtreibung stand kurz im Raum. Simon war alles andere als ein Wunschkind. Gezeugt wurde er, in dem sein Vater die Mutter vergewaltigte. Dies habe Simons Mutter ihrem Sohn später auch immer wieder vorgehalten. Die Geburt von Simon war schwierig, das Kind kam zu früh und musste zudem mit der Saugglocke geholt werden. Die finanzielle Lage der Familie war nach Simons Geburt angespannt, der alkoholabhängige Vater oft abwesend. Die Mutter hatte oft nicht genug zu essen und verlor an Gewicht.
Simon fühlt sich grundsätzlich von seiner Mutter abgelehnt. Seine Mutter und sein Vater hätten außerdem seinen jüngeren Bruder bevorzugt. Simon wurde nicht getauft und wurde in seinem katholisch-konservativen Umfeld ausgegrenzt. An sich hatte Simon in seiner frühen Kindheit keinen Kontakt zu anderen Kindern, er hatte nur seinen Hund.
Seine Mutter war Krankschwester und dadurch beruflich (auch im Schichtdienst) sehr ausgelastet. Ihr Sohn warf ihr später vor, dass sie nie da war, wenn sie gebraucht wurde. Sie wendete außerdem auch häufig körperliche Gewalt gegen Simon an, auch Simons Vater schlug seinen Sohn. Der Vater verließ schließlich die Familie, der genaue Zeitpunkt wird nicht klar. Vermisst wurde er nicht. Er starb an Krebs, als Simon noch ein Jugendlicher war. Der Sohn erfuhr nachträglich vom Tod des Vaters und konnte nicht an der Beerdigung teilnehmen. Simons Mutter bedauert dies, weil sie es ihrem Sohn gewünscht hätte, auf das Grab des Vaters spucken zu können, als eine Art Abschluss. Simon selbst meint, dass er gerne auf das offene Grab „gepisst“ hätte. Nur die politisch rechte Einstellung des Vaters wäre in Ordnung gewesen. Ansonsten scheint er ihn einfach nur gehasst zu haben.
Simons neuer Stiefvater ist ein LKW-Fahrer und meist nur am Wochenende zu Hause. In der textlichen Beschreibung des Hör-Feature wird geschrieben, dass dieser Stiefvater, ein ehemaliger Boxer, Simon eines Tages brutal zusammenschlug und Simon ihn danach anzeigte. Aber auch Simon hätte gedroht, den Stiefvater und die Mutter umzubringen.
Als Jugendlicher wurde Simon zunächst linker Punk und lehnte das politische System in Deutschland ab. Durch Bekanntschaften kam er später mit der rechten Szene in Kontakt und wandelte sich schnell zum Neonazi. Die Kommunikation mit seiner Mutter endet stets im Streit, gegenseitigen Vorwürfen und Beleidigungen. Wobei die Mutter stets sehr kalt wirkt, stichelt und ihren Sohn extrem provoziert. In dieser Familie gab es keine Liebe, sondern immer nur Krieg, das ist der Schlussstrich, den man unter die Doku „Familienkrieg“ ziehen kann.
Die Destruktivität geht aber noch über die rechte Gesinnung von Simon hinaus. Simon verliebte sich in eine drogenabhängige Frau, die er später heiratete. Die Beziehung der beiden ist von extremer Destruktivität geprägt. Sie wurde außerdem schwanger und verlor das Kind. Außerdem findet Simon keine Arbeit und driftet durch den Tag.
Die Belastungen in Kindheit und Jugend von Simon sind unfassbar komplex. Im Jahr 2002 konnte ich diese ganzen Belastungen noch nicht deutlich erfassen und sortieren. Würde man für Simon einmal den ACE score erfassen bzw. einen ACE-Fragebogen für ihn ausfüllen, würde er zu einer kleinen Gruppe von besonders stark als Kind belasteten und traumatisierten Menschen gehören. Der ACE-Fragebogen reicht aber in seinem Fall noch nicht einmal aus. Die Belastungen für den Fötus und während der Geburt würden nicht erfasst. Ebenso wenig wie der Sachverhalt, dass er durch eine Vergewaltigung gezeugt wurde. Da seine Mutter von ihrem Mann nicht geschlagen, sondern verbal terrorisiert wurde, würde auch dies wohl nicht erfasst werden. Die Ausgrenzung durch Gleichaltrige käme ebenfalls nicht in die Auswertung. Die Bevorzugung des Bruders wäre kein Thema usw.
Fragebögen können nur das erfassen und messen, wofür sie gedacht sind. Das Leben eines Kindes ist immer komplexer, als das, was Fragebögen abbilden können. Die Doku „Familienkrieg“ und das dazugehörige Hör-Feature geben uns einen sehr breiten und tiefen Blick in die Abgründe einer Familie, aus der ein gewaltbereiter Neo-Nazi hervorging. Wer wundert sich ernsthaft, dass dieser Junge zu dem werden konnte, wer er ist? Heute wissen wir dank vieler Forschungsarbeiten, dass destruktive Kindheiten bei Rechtsextremisten/rechten Gewalttätern keine Ausnahmen sind, sondern die Regel.
Der „Familienkrieg“ zeigt aber noch mehr auf. Simons Vater hatte selbst eine sehr unglückliche Kindheit, war also auch Opfer. Die Kindheit von Simons Mutter war kein Thema, ich vermute auch in ihrer Kindheit schwere Belastungen. Sie wirkt auf mich wie eine sehr traumatisierte Person. Auf jeden Fall war sie Opfer ihres Mannes. Aber sie war nicht nur Opfer, sondern auch massive Täterin gegenüber ihrem Sohn. Traumatische Belastungen können an die nächste Generation weitergegeben werden, wenn dieser Teufelskreis nicht – bestenfalls durch Therapien und Unterstützung – unterbrochen werden kann. Sollte Simon mit seiner drogenabhängigen Frau (die ebenfalls sehr traumatische, eigene Kindheitshintergründe angedeutet hat) doch noch Kinder bekommen haben, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch diese Kinder schwer belastet werden. Der ganze Fall zeigt auch auf die „Geschichte der Kindheit“, auf letztlich jahrhundertelange Folgewirkungen von Traumatisierungen und desaströsem Umgang mit Kindern.
Dienstag, 27. Oktober 2020
Belastende Kindheitserfahrungen und Extremismus in den USA - Neue Studie
Simi und Kollegen hatten bereits im Jahr 2016 eine eindrucksvolle Studie (Narratives of Childhood Adversity and Adolescent Misconduct as Precursors to Violent Extremism: A Life-Course Criminological Approach) veröffentlicht, für die 44 ehemalige Rechtsextremisten bzgl. Kindheitserfahrungen befragt wurden.
Nun haben die Forschenden noch einmal nachgelegt und Befragungen von 91 (70 männlich, 21 weiblich) ehemaligen U.S. Extremisten/Rassisten (aus den Gruppierungen Ku Klux Klan, Christian Identity, neo-Nazi, racist skinheads) durchgeführt:
Windisch, S., W., Simi, P., Blee, K. & DeMichele, M. (2020): Measuring the Extent and Nature of Adverse Childhood Experiences (ACE) among Former White Supremacists. Terrorism and Political Violence. (Onlineveröffentlichung Juni)
Die Befragungen wurde als sogenannte ACE-Studie durchgeführt. Die Studie ist somit direkt mit Ergebnisse von allgemeinen ACE-Studien vergleichbar. Die Extremisten sind im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich belasteter bzw. ihre ACE-Werte gleichen eher denen von "Hochrisikogruppen", was das Autorenteam auch kommentiert und ausführt.
Ergebnisse (Misshandlungsformen vor dem 18. Lebensjahr gegen die Befragten durch Elternteile/Erziehungsberechtigte):
48 % wurden körperlich misshandelt
46 % wurden emotional vernachlässigt
46 % wurden emotional misshandelt
23 % wurden sexuell missbraucht
15 % wurden körperlich vernachlässigt
Insgesamt 65 % der Befragten berichteten über eine oder mehr Erfahrungen von Misshandlungen wie oben aufgeführt.
Ergebnisse für weitere Belastungen in den Familien:
68 % berichteten davon, von Elternteilen verlassen worden zu sein
66 % berichteten von elterlichem Suchtmittelmissbrauch
47 % wurden Zeugen häuslicher Gewalt
47 % berichteten von psychischen Erkrankungen von Elternteilen/Erziehungsberechtigten
32 % berichteten, dass Elternteile inhaftiert wurden
Verteilung der Belastungen bzw. ACE-Werte:
0 ACE Wert = 10 %
1 ACE Wert = 9 %
2 ACE Werte = 10 %
3 ACE Werte = 9 %
4 ACE Werte = 15 %
5 ACE Werte = 10 %
6 ACE Werte = 10 %
7 ACE Werte = 11 %
8 ACE Werte = 11 %
9 ACE Werte = 5 %
10 ACE Werte = 0 %
Freitag, 9. Oktober 2020
"Sogwirkungen" von Missachtung- und Gewalterfahrungen im Elternhaus
Seit über 18 Jahren befasse ich mich mit den Folgen von Destruktivität und Gewalt gegenüber Kindern. Im folgenden Text möchte ich einige Gedanken (die sich aus meinen persönlichen Beobachtungen, Erfahrungen und Eindrücken sowie meiner vielseitigen Literaturrecherche ergeben haben) darüber zusammenfassen, was destruktive Kindheitserfahrungen im Elternhaus alles anstoßen können.
Dass Gewalt-, Missbrauchs- und Demütigungserfahrungen im Elternhaus viele schädliche Folgen für Kinder und auch die später Erwachsenen haben können, steht mittlerweile aus wissenschaftlicher Sicht außer Zweifel. Je früher, je massiver und je vielfältiger die destruktiven Erfahrungen in der Kindheit sind, desto schwerwiegender sind die Folgen. Und auch die Nähe zum Täter beeinflusst die Folgen stark, weshalb Destruktivität im Elternhaus besonders schädlich wirkt.
Bei der Betrachtung der Folgeschäden wird meines Erachtens nach allerdings oftmals etwas ausgeblendet, wofür es mir schwerfällt, einen passenden Namen zu finden. Der beste bildliche Vergleich ist der einer Sogwirkung. Dazu gleich mehr.
Bei der Erforschung der Folgen von destruktiven Kindheitserfahrungen wird oft geschaut, was „vorne“ alles rein ging und was „hinten“ herauskommt. Die sogenannten ACE-Studien haben bisher am breitesten ausgeleuchtet, was alles „vorne“ rein ging (u.a. körperliche, sexuelle + emotionale Misshandlung, Miterleben von Gewalt in der Familie, Suchtmittelgebrauch in der Familie und psychisch kranke Familienmitglieder) und was „hinten“ rauskam (u.a. diverse Krankheitsbilder, psychische Störungen, Suchtmittelgebrauch, Arbeitslosigkeit, früher Tod, Suizid, Gewaltverhalten).
Dabei fehlen allerdings ein paar Puzzleteile, die aber auch schwer messbar sind. Die oben gennannten möglichen Folgen und die erwähnten destruktiven Kindheitserfahrungen stehen zweifellos in einem deutlichen Zusammenhang. Aber noch etwas wirkt hinein, noch etwas wirkt sich aus. Etwas, dass ich wie gesagt als Sogwirkung bezeichne.
Ich gebe einige Beispiele:
Wenn Eltern sich systematisch destruktiv gegen ihr Kind verhalten, so hat dies nicht nur direkte Folgen auf die betroffenen Kinder, sondern nach meinem Eindruck auch auf das Verhältnis zwischen Geschwistern. Es stimmt zwar auch, dass sich nicht selten Geschwister untereinander solidarisieren und sich einen kleinen Schutzraum schaffen, der gegen destruktive Eltern steht. Aber nicht selten ist ebenso (oder auch gleichzeitig), dass das schlechte Vorbild der Eltern bedingt, dass sich auch Geschwister gegenseitig verletzen, ihre Beziehung von einer Hass-Liebe geprägt ist usw.
Nicht nur einmal ist mir aufgefallen, dass die später Erwachsenen, die aus Misshandlungsfamilien oder grob formuliert „destruktiven Familien“ stammen, kein oder ein sehr schlechtes Verhältnis zu ihren Geschwistern haben. Konstruktive Streitkultur wurde nicht gelernt, gegenseitige Verletzungen der Geschwister untereinander wurden nicht vergessen und ein Wiedersehen mit den Geschwistern droht auch jedes Mal unerträgliche Erinnerungen an die eigene Kindheit wieder hoch kommen zu lassen. Vielleicht ist auch ein Geschwisterkind schlechter von den Eltern behandelt worden, als das andere. Was Neid und Missgunst nach sich zieht. Die Folge aus all dem ist, dass solch geprägte Menschen auch weniger durchs Leben „getragen“ werden. Geschwister, die sich gut verstehen, „tragen“ sich gegenseitig, bieten emotionale Nähe, Sicherheit und Wohlbefinden und in der Folge auch eine gesündere Psyche. Wenn diese Bindung bedingt durch elterliche Destruktivität gestört oder gar zerstört wurde, dann belastetet auch dies und trägt mit einen Teil zu beobachtbaren schädlichen Folgen im Erwachsenenalter bei. Die beobachtbaren Folgeschäden sind dann also nicht nur eine direkte Folge elterlicher Destruktivität, sondern auch indirekte Folge durch die negativen Prägungen auf Geschwisterebene. Oder anders gesagt: Elterliche Destruktivität kann eine Sogwirkung entfalten; sie stößt an und bedingt weitere negative Dynamiken, die alle Beteiligten sogartig erfasst und immer weiter nach unten reißt.
Anderes Beispiel: Wenn sich z.B. im Kindergarten oder in der Grundschule zwischen Eltern herumspricht, dass es bei einem Elternteil eines bestimmten Kindes Kinderschutzmaßnahmen/-interventionen gab, dann hat dies u.U. direkte Folgen, die dem betroffenen Kind gar nicht klar sein werden. Das Kind will vielleicht ein anderes Kind zu sich nach Hause einladen oder es lädt zum Geburtstag ein. Nur: Es kommt keiner! Die Eltern der anderen Kinder werden direkte oder indirekte Wege finden, ihr Kind davon zu überzeugen, dass es sich andere Freunde suchen soll. Nicht weil das andere Kind ein Problem ist, sondern weil sie Sorge bezogen auf einen Elternteil oder die Eltern des anderen Kindes haben und ihr eigenes Kind schützen wollen. In der Folge verzweifelt das betroffene Kind und sein Selbstwertgefühl wird erschüttert. Das Kind wird – wie im Beispiel davor – nicht von seinem Umfeld „getragen“, es erlebt weniger oder kaum emotional befriedigende Freundschaften mit anderen Kindern. Es findet dadurch auch kein oder weniger Ausgleich zu den destruktiven Erfahrungen im Elternhaus statt, obwohl diese Ausgleichserfahrungen so unbedingt nötig wären. Das Ausgegrenzt-werden war ursprünglich Folge des destruktiven Verhaltens der eigenen Eltern. Aber das Ausgegrenzt-werden an sich hat wiederum ganz eigene schädliche Folgen für das betroffenen Kind. Auch hier gilt wieder: Elterliche Destruktivität entfaltet eine ganz eigene Sogwirkung nach unten.
Ähnliches Beispiel wie das zuvor: Erlebte elterliche Destruktivität oder gar traumatische Erfahrungen haben natürlich auch akute Folgen für die betroffenen Kinder. Wenn diese Folgen sich so ausdrücken, dass die entsprechenden Kinder verhaltensauffällig werden, dann kann ihr negatives Verhalten wiederum Ausgrenzungserfahrungen nach sich ziehen. Wenn es nette und konstruktive Kinder in der Schule gibt, dann werden sich viele Kinder nicht unbedingt das verhaltensauffällige Kind als besten Freund aussuchen. Die eigene dunkle Ausstrahlung oder Verhaltensauffälligkeit führt zur Vereinsamung des Kindes, was wiederum noch mehr Verhaltensauffälligkeiten nach sich zieht. Die destruktiven Eltern gaben den Anstoß, das Kind wird in den dunklen Strudel hineingezogen. Auch hier gilt wieder: Das Kind macht weniger oder kaum tragende, positive Erfahrungen, sondern lernt ganz im Gegenteil, dass die Welt nicht nur aus destruktiven Eltern besteht, sondern auch das Umfeld gefühlt „feindselig“ ist. Wer ausgegrenzt wird, der erlebt dies als Angriff auf seine Person und fühlt sich feindselig behandelt. Zu Recht. Damit meine ich nicht, dass das Umfeld im wahrsten Sinne des Wortes real feindselig sein muss. Das betroffene Kind wird vielleicht akzeptiert und auch wahrgenommen. Aber was hilft dies, wenn keine Kinder zum Spielen vorbeikommen und wenn man keinen besten Freund findet? Das Kind fühlt sich dann im „Feindesland“. Alles ist grau, das Leben wird zur Qual.
Erneut ähnliches Beispiel: Ein stark vernachlässigtes Kind, das in Kindergarten und Schule gut integriert ist und keine Verhaltensprobleme zeigt, nähert sich einem anderen Kind an, baut eine Freundschaft auf und besucht dieses Kind auch. Das andere Kind lebt in einer sehr herzlichen Familie, die tiefe Bindungen hat. Nun kann dies eine Chance für das vernachlässigte Kind sein, positive Ausgleichserfahrungen zu machen. Aber was ist, wenn sich die „Täterintrojekte“ melden? Wenn eine Stimme innerlich ruft: „Du hast es nicht verdient, diese nette Familie zu kennen und zu besuchen. Du bist schlecht und Dreck! Keiner wird Dich mögen!“ (Botschaften also, die ursprünglich in ähnlicher Weise durch destruktive Elternteile in das Kind eingepflanzt wurden) Oder anders gedacht: Was ist, wenn diese nette Familie zu einer extremen Verunsicherung des vernachlässigten Kindes führt? Denn dieses Kind erlebt quasi bei seinem Besuch live, was es selbst nicht hat und wie sehr es im Grunde Zuhause leidet. Unerträglich! Dieses Kind inszeniert in der Folge plötzlich Streit. Es verhält sich schlecht. Es macht sich unbeliebt. Schließlich wird es von dem einladenden Kind gemieden und verliert den Kontakt. Das vernachlässigte Kind kann jetzt wieder innerlich überleben, weil es nicht mehr sehen muss, was es selbst so gerne hätte. Die Folge: Weniger Sozialkontakt, schlimmstenfalls Vereinsamung mit wiederum ganz eigenen Folgen. Der Sog der destruktiven Eltern wirkt auch hier.
Noch ein Beispiel: Die oben gemachten Überlegungen führen zu einer weiteren Überlegung. Wenn diese Dinge so passieren, hat dies u.U. zur Folge, dass entsprechende Kinder eher „Ihresgleichen“ suchen. Kinder mit destruktiven Eltern finden sich dann gegenseitig. Sie erkennen sich. Sie verbindet auch etwas. Allerdings kann es, wenn es schlecht läuft, auch dazu führen, dass sie ihre schlechten Seiten gegenseitig verstärken. Sie haben Zuhause keinen konstruktiven, liebevollen Umgang erlebt. Sie haben eine andere innere Moral entwickelt. Sie pflegen jetzt gegenseitig ihre destruktiven Seiten. Sie planen jetzt vielleicht Intrigen gegen ein anderes Kind. Oder sie planen, einen Lehrer fertig zu machen. Wenn diese Kinder Jugendliche werden, sind es genau diese unguten Verbindungen, die zu destruktiven Gruppenbildungen führen: Delinquente Jugendgangs, extremistische Gruppen usw. Wie gesagt, man „erkennt sich“ gegenseitig. Traumatisierte Menschen können einander irgendwie anziehen, das gilt auch für Ehepaare.
Wobei wir beim nächsten Thema wären: Destruktive Kindheitserfahrungen können manches Mal ungute Lebensentscheidungen nach sich ziehen. Man(n) will Soldat werden, um sich stark und zugehörig zu fühlen und seine Kindheit abzuschütteln. In der Folge erlebt man(n) traumatisierende Einsätze und wird psychisch immer weiter beschädigt. Oder man findet einen Ehepartner, der ebenfalls in der Kindheit traumatisiert wurde. Beide Partner verletzten sich vielfach gegenseitig und arbeiten gemeinsam an der Zerstörungen ihrer beider Leben und ihres Glücks. Der Sog, der ursprünglich von den Eltern erzeugt wurde, wird immer größer und zieht weitere belastende Erfahrungen nach sich. Dies könnte man in etliche Richtungen weiterspinnen. Etwa dahingehend, dass als Kind schwer verletzte Menschen später oft kein gutes Gefühl für potentiell bedrohliche Situationen oder bedrohliche Menschen haben. Oder ein innerlicher Druck zwingt sie gar auf eine Weise, sich in riskante Situationen zu begeben. In der Folge erleben sie dann schwere Verletzungen.
Es gibt im Extrem in der Tat Biografien, wo sich eine schwere Belastung an die nächste reiht. Am Anfang war die elterliche Misshandlung. Wenn man sich dann die Lebensgeschichte dieser Menschen genau anschaut, dann gab es stets nur Schatten, nie Licht. Dann gab es nur Unglück, nie Glück. Dann gab es keinen Schutz, nur Verletzungen. Socher Art Biografien kann man sich gar nicht ausdenken, sie sind unfassbar.
Mit diesem Beitrag, den man sicher noch weiter ausfeilen könnte, möchte ich unterstreichen, dass elterliche Destruktivität nicht alleine für die beobachtbaren negativen Folgen im Erwachsenenalter (wie z.B. psychische Störungen, massive Gesundheitsprobleme, usw.) verantwortlich sein muss. Die elterliche Destruktivität an sich stößt derart viel an oder bewirkt einen derartigen Sog, dass sich diverse weitere belastenden Erfahrungen daraus ergeben, dass Menschen weniger durchs Leben „getragen“ werden und sie folglich auch psychisch weiter beschädigt werden. Den Grundanstoß gab in der Tat das destruktive Elternhaus! Daraus folgt der Schluss, dass eine Prävention von Leid im Elternhaus der Schlüssel auch von Prävention weiterer belastender Erfahrungen sein kann. Kumulierte Belastungserfahrungen erhöhen massiv den möglichen schädlichen (psychischen) Output. Leider zeigt uns die Realität, dass im Elternhaus belastetet Kinder oft genau das erleben: Mehrfachbelastungen, die sich gegenseitig verstärken oder auch die nächste Belastung nach sich ziehen. Insofern muss die Präventionsarbeit auch einen geschulten Blick auf diese potenziellen Sogwirkungen haben, die im Elternhaus schlecht behandelte Kinder nicht selten erleben.
Mittwoch, 30. September 2020
Kindheit von Mustafa Kemal Atatürk
Der Psychiater und Psychoanalytiker Vamik D. Volkan hat in seinem Buch „Das Versagen der Demokratie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethischer und religiöser Konflikte“ (2003 im Psychosozial-Verlag erschienen) eine recht ausführliche Beschreibung von Kindheit und Lebensweg von Mustafa Kemal Atatürk geliefert. In meinem Buch habe ich die Kindheit von Atatürk bereits kurz gestreift, indem ich die die Mutter Atatürks idealisierenden Darstellungen des Psychiaters Johann Benos kritisierte. Atatürks Mutter lebte sehr traditionell und religiös, was ihr Sohn ablehnte. Nach kurzen Einlassungen auf seine Kindheit schrieb ich abschließend: „Atatürks Kampf gegen das Alte, gegen religiöse Einflüsse und Traditionen sind symbolisch auch eine Art Kampf gegen seine Mutter, die für eben diese alten Wertvorstellungen stand. Was würde wohl ein Psychoanalytiker dazu sagen?“
Die Ausführungen von Volkan sind bei weitem ausführlicher als das, was ich bei meinen damaligen Recherchen fand. Und sie beantworten auch weiter die Frage, die ich in meinem Buch in den Raum stellte.
Die Mutter von Atatürk stammte aus einer kleinbäuerlichen Familie und wurde bereits als Kind verheiratet. Mustafas Eltern verloren vor seiner Geburt drei ihrer Kinder; das älteste Kind starb, als es 7 Jahre alt war. Die Geburt Mustafas fiel in eine Zeit, in der es der Familie finanziell überaus gut ging und in der Zuversicht herrschte. Eine Amme wurde für Mustafa engagiert, weil die Milch der Mutter nicht ausreichte.
Zwei weitere Töchter folgten, von denen aber nur eine das Erwachsenenalter erreichte. Wie alt Mustafa beim Tod seiner jüngeren Schwester war und wie ihn das prägte, wird von Volkan nicht beschrieben. Weitere schwere Belastungen folgten: Die Mutter wurde Witwe, als sie 27 Jahre alt war.
„Ihr Mann hatte seine Existenz verloren (...). Als Ergebnis dessen war er dann zum Trinker und in die Verzweiflung abgerutscht, bis er schließlich starb, als sein Sohn sieben Jahre alt war. Mustafa wurde somit in einem Haus des Todes geboren und fand sich der Fürsorge einer trauernden Mutter überlassen, deren Leben, abgesehen von einer kurzzeitigen Schonfrist, voller Härten und Schwermut gewesen war. Er trug sogar den Namen eines Onkels väterlicherseits, der als kleines Kind bei einem Unfall, als sein Kinderbettchen umkippte, ums Leben gekommen war, ein Unfall, für den im übrigen Mustafas Vater verantwortlich gewesen war “ (S. 106).
Nach dem Tod des Vaters zog die kleine Familie zu Verwandten auf einen Bauernhof. „Mustafa wurde jedoch nach Saloniki zurückgeschickt, um bis zu seinem Schulabschluss bei einer Tante zu leben. Er wurde dabei erwischt, wie er mit einem Kind kämpfte, und schlimm von seinem Lehrer geschlagen, der als religiös bekannt war. `Mein ganzer Körper war voller Blut.`“(S. 108). Daraufhin nahm Mustafas Mutter ihren Sohn von der Schule.
Als Mustafa in die Pubertät kam, heiratete seine Mutter erneut. Er wurde daraufhin derart eifersüchtig, dass er von zu Hause auszog und sich an einer militärischen Internatsschule einschrieb (S. 108). Später verließ seine Mutter den Stiefvater und zog nach Istanbul zu ihrer Tochter und deren Mann. Dort nahm sie einen dreijährigen Waisenjungen auf, den Volkan später ausfindig machte. „Ich interviewte ihn, Abdürrahim Tuncak, als er in den Sechzigern war. (…). Nachdem, was er mir darüber erzählte, wie Atatürks Mutter ihn behandelt hatte, konnte ich einen Eindruck davon bekommen, wie sie als Mutter wohl gewesen war. Seinen Erinnerungen zufolge war sie nicht nur eine herrische Frau, sondern auch eine, die ihn als psychologische Krücke (…) benutzte“ (S. 110f.)
Volkon deutet ergänzend die Wege Atatürks zum Staatsoberhaupt und verbindet diesen Weg auch mit seiner Kindheitsgeschichte. Seine Ausführungen sind zu ausführlich, um sie hier wiederzugeben. Ich verweise bei Interesse daran auf sein Buch.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Atatürk ein schwer belastetes, traumatisiertes Kind war. Die Bezeichnung Volkans „Haus des Todes“ (Tod von insgesamt 4 Kindern + dem Vater) bringt es auf den Punkt. Gleich nach der Geburt gab es die erste Trennung, indem eine Amme sich seiner annahm. Sein Vater wurde zum Trinker, was das Kind ebenfalls sehr geprägt haben wird. Der Tod entriss ihm den Vater. Zwei weitere Trennungen folgten (Unterbringung bei einer Tante und später im Militärinternat). Schwere Gewalt durch einen Lehrer ist überliefert. Mütterlicher emotionaler Missbrauch und mütterliche Härte sind zu vermuten.
Freitag, 25. September 2020
Kindheitsursprünge von Rechtsextremismus: DIE gesammelten Studien.
(aktualisiert am 19.06.2023, Hinweise zu neuen Aktualisierungen jeweils im Kommentarbereich)
Bisher habe ich 39 Studien und Einzelarbeiten (Befragungen oder Fallbeispiele aus der psychotherapeutischen Praxis) gefunden, innerhalb derer Kindheiten von rechten Gewalttätern bzw. Rechtsextremisten besprochen wurden. Diese Studien stelle ich unten vor.
Viele dieser Studien habe ich hier im Blog bereits ausführlicher besprochen (siehe entsprechend die Links unten). Dass sich nicht immer in 100 % der untersuchten Fälle destruktive Kindheiten nachweisen lassen, ist logisch und dazu habe ich auch bereits hier und hier deutliche Anmerkungen gemacht. Allerdings lässt sich zusammenfassend eindeutig sagen: Generell zeigt sich, dass rechte Gewalttäter bzw. Rechtsextremisten i.d.R. eine sehr destruktive Kindheit hatten!
Das Bild, das diese 39 Studien aufzeigen, wird noch durch kriminologische Befragungen mit hohen Fallzahlen ergänzt (z.B. "Einflussfaktoren extremistischer Einstellungen unter Jugendlichen in der Schweiz" oder "Einflussfaktoren des politischen Extremismus im Jugendalter — Rechtsextremismus, Linksextremismus und islamischer Extremismus im Vergleich"). Sie zeigen signifikante Zusammenhänge zwischen Gewalterleben (Körperstrafen) in der Kindheit (und auch fehlender elterlicher Zuwendung) und rechtsextremistischen Einstellungen. Es gibt auch andere interessante Ansätze. In den USA (Quest for Significance and Violent Extremism: The Case of Domestic Radicalization. Political Psychology 38(5)) wurden 1496 Akteure (90% männlich), die ideologisch bedingte Straftaten (rechtes, linkes + islamistisches Spektrum) begangen hatten, an Hand öffentlich zugänglicher Daten/Berichte untersucht (keine direkten Befragungen). 62 % der untersuchten Akteure hatten Gewalt ausgeübt. 35 % aller Akteure wurden als Kind misshandelt, 48 % erlitten ein Trauma (nicht nur auf Kindheit bezogen), 29 % hatten stark extremistische Familienmitglieder. Dafür, dass keine direkten Befragungen stattfanden, sind die Ergebnisse bezogen auf Belastungen recht eindrucksvoll. Auch hier wird deutlich, dass traumatische Erfahrungen und belastende Kindheitserfahrungen bedeutsam bei der Genese von Extremismus sind.
Es gibt auch etwas ältere Forschungsansätze (immer noch aktuell!), die in eine ähnliche Richtung zeigen. So fand eine Forschungsgruppe bei einer Befragung von 695 Jugendlichen heraus, dass negatives Erziehungsverhalten einen direkten Effekt auf Level und Anstieg von fremdenfeindlichen Einstellungen hat (Hefler, G., Boehnke, K.& Butz, P. (1999): Zur Bedeutung der Familie für die Genese von Fremdenfeindlichkeit bei Jugendlichen: Eine Längsschnittanalyse. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation (19). S. 72–87).
Eine große Studie im Auftrag des Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen fand, dass rechtsextrem eingestellte Jugendliche im Vergleich zur allgemeinen Altersgruppe häufiger geschlagen, strenger erzogen und weniger von den Eltern unterstützt wurden. Die rechtsextrem eingestellten Jugendlichen bekamen auch weniger elterliche Aufmerksamkeit und fühlten sich in der Kindheit einsamer als ihre Altersgenossen. Die gleichen Ergebnisse zeigt auch die große Vorgängerstudie ebenfalls aus Nordrhein-Westfalen.
Zu diesem Gesamtbild gehören ergänzend auch die vielen „Einzelfälle“, die ich hier im Blog oder in meinem Buch besprochen habe: Diverse NS-Täter (inkl. Adolf Hitler + weitere wichtige Anmerkungen über seine Kindheit hier und hier) sowie Rechtsterroristen wie Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt, Anders Breivik und Stephan Ernst (siehe diese und diverse weitere Fälle aus dem rechtsextremen Spektrum + diverse NS-Täter im Inhaltsverzeichnis). Was sowohl bei den detaillierten Einzelfällen als auch in so machen Studien mit vielen Befragten auffällt sind oftmals Mehrfachbelastungen (!), also z.B. eine autoritäre Erziehung und der Tod eines Elternteils (wie es z.B. bei Adolf Eichmann war). Andere erlebten eine autoritäre Erziehung und ergänzend Mobbingerfahrungen oder wurden Zeuge von häuslicher Gewalt oder hatten suchtkranke Familienmitglieder usw. Bei manchen Tätern kommen gar so viele Belastungen zusammen, dass man sich fragt, wie diese Menschen ihre Kindheit überhaupt überlebt haben (Paradebeispiel dafür ist Adolf Hitler).
Die empirische Datenlage ist geradezu überwältigend! Trotz dieser vielen Einzelarbeiten ist mir bis heute keine Arbeit bekannt, die all diese hier genannten Studien (und ergänzend auch Einzelfälle) zusammengebracht hat. Dieser Beitrag dürfte somit der bisher umfassendste im deutschsprachigen Raum sein, wenn es um die Kindheitsursprünge (und somit um die tieferen Ursachen an sich) von Rechtsextremismus geht.
Diese Feststellungen mache ich mit einem "lachenden" und "weinenden" Auge. „Lachend“ deshalb, weil es mich nach all der Recherchearbeit und Mühen schon ein wenig stolz macht, dass ich als unabhängiger, "nebenberuflicher" Gewaltforscher diese Dinge zusammenführen konnte. „Weinend“ deshalb, weil es mich immer wieder erstaunt und auch ärgert, dass die akademisch eingebundene Fachwelt sowie auch die Medien das Thema „Kindheit und Extremismus“ (und weitergedacht also auch das Thema „Kindheit und NS-Zeit“) einfach viel zu selten zentral in den Blick nehmen. In jede größere Debatte (und auch in entsprechende Fachbuchreihen) über Ursachen und Prävention von Rechtsextremismus gehört das Thema „destruktive Kindheitserfahrungen“ deutlich und zentral auf den Tisch.
Ich wünsche mir, dass diese meine Arbeit einen Beitrag dazu leisten kann, dass Scheuklappen abgelegt werden und dass die Opfererfahrungen der Täter mehr in den Blick genommen werden. Und ich wünsche mir, dass in der Folge größere Bemühungen für weltweit mehr Kinderschutz unternommen werden: Kinderschutz ist mehr als nur die Verhinderung von individuellem Leid. Kinderschutz ist immer auch Gewalt- und Extremismusprävention (und in der Folge auch Kriegsprävention)!
Meine Grundthesen sind und bleiben: Wer eine wirklich gute Kindheit hatte, wer gewaltfrei aufwachsen durfte und wer mindestens ein Elternteil hatte, von dem er/sie wirklich geliebt wurde, der wird kein Rechtsextremist oder gar Massenmörder. Die gezeigten Studien untermauern meine Thesen einmal mehr. Diese Erkenntnisse bedeuten umgekehrt nicht, dass misshandelte, gedemütigte und traumatisierte Kinder automatisch zu Extremisten werden. Dies wäre empirisch auch gar nicht haltbar. Belastende Kindheitserfahrungen bilden nur das Fundament für Extremismus und Gewaltverhalten. Aber nicht vergessen: Die Kindheit ist politisch!
Hier nun die gesammelten Studien (verlinkte hier im Blog bereits besprochen):
(Vorweg ein Hinweis für meine Auswahlkriterien und Herangehensweise: Für mich zählte, dass mit den Akteuren gesprochen wurde, was in allen Arbeiten der Fall war. In manchen Arbeiten wurden sehr komplex oder strukturiert die Kindheitshintergründe erfasst; in anderen wurden die Gespräche mit rechten Akteuren zu generellen Aussagen über die Kindheitshintergründe zusammengefasst; wieder andere haben nur Teilaspekte aus der Kindheit aufgeführt. Sofern nur Teilaspekte aufgeführt wurden, war für mich wichtig, dass die Ergebnisse in eine deutliche Richtung bzgl. der Kindheit zeigten und dadurch aussagekräftig waren.)
Aigner (2013): 3 (ehemalige) rechte Skinheads (männlich)
Bannenberg & Rössner (2000): 17 junge, rechtsextreme oder rechts-denkende Gewalttäter in Ostdeutschland
Baron (1997): 14 männliche, gewalttätige Skinheads (uneinheitliches Profil bzgl. politischer Einstellungen, sechs Befragte waren extreme Rassisten) aus Kanada
Bielicki (1993): 1 rechtsextremer junger Mann (aus der psychoanalytischen Praxis)
Bjørgo (2005): 16 jugendliche Mitglieder (mehrheitlich männlich) in Neonazi-Gruppen; 4 ehemalige jugendliche Neonazis (Norwegen)
Ezekiel (1996): zentral: 9 Mitglieder einer Neonazigruppe in Detroit; weniger zentral: 3 Nazi-Führungspersönlichkeiten in den USA
Fachstelle für Rassismusbekämpfung (2007): Insgesamt 26 Schweizer rechtsextreme Jugendliche (6 junge Frauen, 20 junge Männer)
Fahrig (2020): sechs rechte, männliche Jugendliche
Frindte & Neumann (2002): 91 verurteilte rechte Gewalttäter.
Funke (2001): 3 männliche deutsche Rechtsextremisten
Hardtmann (2007): 5 männliche, jugendliche Rechtsextremisten
Heitmeyer & Müller (1995): 45 verurteilte, gewalttätige Jugendliche und junge Erwachsene, die von der Justiz als vermutlich oder tatsächlich fremdenfeindlich bzw. rechtsextremistisch eingestuft worden sind
Hopf et al. (1995): 6 als deutlich rechtsextrem eingestufte männliche Jugendliche (von insgesamt 25 Befragten)
Kahl-Popp (1994): 1 rechtsextremer Jugendlicher in psychoanalytischer Behandlung
Köttig (2004) (in meinem Buch besprochen): 32 weibliche Rechtsextremisten
Krall (2007): 3 rechtsextreme Jugendliche (2 männlich, 1 weiblich), die in betreuten Wohneinrichtungen lebten.
Leuzinger-Bohleber, M. (2016): 1 Fallbeispiel (männlich) einer rechten Radikalisierung aus der psychoanalytischen Praxis
Logan et al. (2022): 10 ehemalige Rechtsextremisten und 10 ehemalige Linksextremisten aus den USA
Lützinger (2010): 39 männliche Extremisten (24 rechts, 9 links und 6 islamistisch)
Marneros et al. (2003): 61 männliche, rechtsextreme Gewalttäter, die angeklagt wurden
Mattsson & Johansson (2022): 27 (davon fünf weiblich) ehemalige oder aktive Neo-Nazis/Skinheads aus Schweden und den USA
Michel & Schiebel (1989): 3 männliche, rechtsextreme Jugendliche
Nölke (1998): 2 rechte Jugendliche
Schmidt (1996): 1 rechtsextremer, gewaltbereiter Jugendlicher mit schwerer Persönlichkeitsstörung, der psychotherapeutisch behandelt wurde
Scrivens et al. (2019): 10 ehemalige Rechtsextremisten (8 männlich, 2 weiblich) aus Kanada
Sigl (2013): 3 ehemalige, weibliche Rechtsextremisten
Sigl (2018): 7 ehemalige Rechtsextremisten (5 männlich, 2 weiblich)
Simi et al. (2016): 44 (38 männlich, 6 weiblich) ehemalige Mitglieder rechtsextremistischer Gruppen in den USA
Smith & Sullivan (2022): 1 ehemaliges Mitglied (männlich) einer gewalttätigen Neo-Nazi Gruppe (USA); ausführliche Fallstudie
Speckhard & Ellenberg (2021): 32 (2 weiblich) aktive oder ehemalige Extremisten/Rassisten (die meisten aus den USA, 3 aus Kanada, 3 Deutsche, 1 Brite und 1 Neuseeländer)
Stern (2014): Ein schwedischer Neo-Nazi und Mörder (Fallstudie).
Streeck-Fischer (1992): ca. 5 rechte Skinheads (psychoanalytische Arbeit)
Streeck-Fischer (1999): 1 rechter, männlicher Skinhead (aus der stationären, psychiatrischen Behandlung)
Sutterlüty (2003): 3 männliche, gewalttätige Rechtsextremisten
Wahl et al. (2003) (in meinem Buch besprochen): 115 verurteilte, rechte Gewalttäter
Windisch et al. (2020): 91 (70 männlich, 21 weiblich) ehemaligen U.S. Extremisten/Rassisten (aus den Gruppierungen Ku Klux Klan, Christian Identity, neo-Nazi, racist skinheads)
Wirth (1989): 6 rechte Skinheads (psychoanalytische Arbeit; nur ein Fall exemplarisch dargestellt)
(Siehe ergänzend auch meinen Beitrag: "Verklärt, beschönigt, verdrängt: Kindheiten von Gewalttätern und Extremisten. Eine Mahnung an die Forschung")
Detaillierte Quellen:
Aigner, J. C. (2013): Der ferne Vater. Zur Psychoanalyse von Vatererfahrung, männlicher Entwicklung und negativem Ödipuskomplex. Psychosozial-Verlag, Gießen. (3. Aufl.)
Bannenberg, B. & Rössner, D. (2000): Hallenser Gewaltstudie - Die Innenwelt der Gewalttäter: Lebensgeschichten ostdeutscher jugendlicher Gewalttäter. DVJJ-Journal: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 11 (2000) 2, S. 121-134.
Baron, S. W. (1997). Canadian Male Street Skinheads: Street Gang or Street Terrorists? Canadian Review of Sociology and Anthropology. Volume 34, Issue 2, S. 125-154.
Bielicki, J. S. (1993): Der rechtsextreme Gewalttäter. Eine Psycho-Analyse. Rasch und Röhring Verlag, Hamburg.
Bjørgo, T. (2005): Conflict processes between youth groups in a norwegian city: polarisation and revenge. European journal of crime, criminal law and criminal justice, Vol. 13(1), S. 44-74.
Böttger, A. (1998): Gewalt und Biographie. Eine qualitative Analyse rekonstruierter Lebensgeschichten von 100 Jugendlichen. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden.
Bohnsack, R., Loos, P., Schäffer, B., Städtler, K. & Wild, B. (1995): Die Suche nach Gemeinsamkeit und die Gewalt der Gruppe: Hooligans, Musikgruppen und andere Jugendcliquen. Leske + Budrich, Opladen.
Ezekiel, R. S. (1996): The Racist Mind: Portraits of American Neo-Nazis and Klansmen. Penguin Books, New York.
Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB) (Hrsg.) (2007): Jugendliche und Rechtsextremismus: Opfer, Täter, Aussteiger. Wie erfahren Jugendliche rechtsextreme Gewalt, welche biografischen Faktoren beeinflussen den Einstieg, was motiviert zum Ausstieg? Eidgenössisches Departement des Innern, Bern.
Fahrig, K. (2020). Rechte Jugendliche und ihre Familien: Eine Perspektiven triangulierende Rekonstruktion biografischer Hintergründe (Studien zur Kindheits- und Jugendforschung, Band 4). Springer VS, Wiesbaden.
Frindte, W. & Neumann, J. (2002): Der biografische Verlauf als Wechselspiel von Ressourcenerweiterung und – einengung. In: Frindte, W. & Neumann J. (Hrsg.): Fremdenfeindliche Gewalttäter. Biografien und Tatverläufe. Westdeutscher Verlag. Wiesbaden. S. 115-153.
Funke, H. (2001): Rechtsextremismus 2001. Eine Zwischenbilanz. Verwahrlosung und rassistisch aufgeladene Gewalt – Zur Bedeutung von Familie, Schule und sozialer Integration. In: Eckert, R. et al. (Hrsg.): Demokratie lernen und leben – Eine Initiative gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Band 1. Weinheim, Freudenberg Stiftung. S. 59-108.
Hardtmann, G. (2007). 16, männlich, rechtsradikal: Rechtsextremismus - seine gesellschaftlichen und psychologischen Wurzeln. Patmos Verlag, Düsseldorf.
Heitmeyer, W. & Müller, J. (1995): Fremdenfeindliche Gewalt junger Menschen. Biographische Hintergründe, soziale Situationskontexte und die Bedeutung strafrechtlicher Sanktionen. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.). Forum Verlag, Bonn.
Hopf, Christel; Rieker, Peter; Sanden-Marcus, Martina und Schmidt, Christian (1995): Familie und Rechtsextremismus. Familiale Sozialisation und rechtsextreme Orientierung junger Männer. Weinheim und München: Juventa Verlag.
Kahl-Popp, J. (1994): „Ich bin Dr. Deutschland." - Rechtsradikale Phantasien als verschlüsselte Kommunikation in der analytischen Psychotherapie eines Jugendlichen. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 43 (1994) 7, S. 266-272.
Köttig, M. (2004): Lebensgeschichten rechtsextrem orientierter Mädchen und junger Frauen: Biografische Verläufe im Kontext der Familien- und Gruppendynamik. Psychosozial-Verlag, Gießen.
Krall, H. (2007): Aggression und Gewalt bei rechtsextremen Jugendlichen — Perspektiven sozialpädagogischer Jugendarbeit. Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, Volume 6, S. 99–113.
Leuzinger-Bohleber, M. (2016): Radikalisierungsprozesse in der Adoleszenz – ein Indikator für eine nicht gelungene Integration? In: Leuzinger-Bohleber, M. /Lebiger-Vogel, J. (Hrsg.): Migration, frühe Elternschaft und die Weitergabe von Traumatisierungen. Klett-Cotta, Stuttgart, S. 171–193.
Logan, M. K., Windisch, S. & Simi, P. (2022). Adverse Childhood Experiences (ACE), Adolescent Misconduct, and Violent Extremism: A Comparison of Former Left-Wing and Right-Wing Extremists. Terrorism and Political Violence. https://doi.org/10.1080/09546553.2022.2098725
Lützinger, S. (2010): Die Sicht der Anderen. Eine qualitative Studie zu Biographien von Extremisten und Terroristen (Polizei + Forschung Bd. 40). BKA – Bundeskriminalamt, Kriminalistisches Institut (Hrsg.). Luchterhand Fachverlag, Köln. (Auch in englischer Übersetzung online einsehbar: Saskia Lützinger: The Other Side of the Story. A qualitative study of the biographies of extremists and terrorists: https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/PolizeiUndForschung/1_40_TheOtherSideOfTheStory.html
Marneros, A., Steil, B. & Galvao, A. (2003): Der soziobiographische Hintergrund rechtsextremistischer Gewalttäter. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform. Band 86, Heft 5. S. 364–372.
Mattsson, C. & Johansson, T. (2022). Radicalization and Disengagement in Neo-Nazi Movements: Social Psychology Perspective (Routledge Studies in Countering Violent Extremism). Routledge, New York. (Kindle E-Book Edition)
Michel, S. & Schiebel, M. (1989): Lebensgeschichten von rechtsextremen Jugendlichen. In: Rosenthal, G. (Hrsg.): Wie erzählen Menschen ihre Lebensgeschichte? Hermeneutische Fallrekonstruktion distinkter Typen. Forschungsbericht des Lehrprojektes: „Biographie“. Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie. S. 212-233.
Nölke, E. (1998): Marginalisierung und Rechtsextremismus. Exemplarische Rekonstruktion der Biographie- und Bildungsverläufe von Jugendlichen aus dem Umfeld der rechten Szene. In: König, H.-D. (Hrsg.): Sozialpsychologie des Rechtsextremismus. Suhrkamp, Frankfurt am Main. S. 257- 278.
Schmidt, B. (1996): Psychoanalytische Überlegungen zur rechtsextremistischen Orientierung männlicher Jugendlicher. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 45 (1996) 10, S. 370-374.
Scrivens, R., Venkatesh, V., Bérubé, M. & Gaudette, T. (2019): Combating Violent Extremism: Voices of Former Right-Wing Extremists. Studies in Conflict & Terrorism. Onlineveröfentlichung 11. Nov. 2019.
Sigl, J. (2013): Lebensgeschichten von Aussteigerinnen aus der extremen Rechten. Genderspezifische Aspekte und mögliche Ansatzpunkte für eine ausstiegsorientierte Soziale Arbeit. In: Radvan, H. (Hrsg.): Gender und Rechtsextremismusprävention. Metropol Verlag, S.273-289.
Sigl, J. (2018): Biografische Wandlungen ehemals organisierter Rechtsextremer: Eine biografieanalytische und geschlechterreflektierende Untersuchung. Springer VS, Wiesbaden.
Simi, P., Sporer, K. & Bubolz, B. F. (2016): Narratives of Childhood Adversity and Adolescent Misconduct as Precursors to Violent Extremism: A Life-Course Criminological Approach. Journal of Research in Crime and Delinquency. Vol 53, Issue 4. S. 536-563.
Smith, A. F. & Sullivan, C. R. (2022). Exiting far-right extremism: a case study in applying the developmental core need framework. Behavioral Sciences of Terrorism and Political Aggression. Onlineveröffentlichung vom 13.06.2022. https://doi.org/10.1080/19434472.2022.2076718
Speckhard, A. & Ellenberg, M. (2021, 17.05.): White Supremacists Speak: Recruitment, Radicalization & Experiences of Engaging and Disengaging from Hate Groups. ICSVE Research Reports.
Stern, J. E. (2014). X: A Case Study of a Swedish Neo-Nazi and His Reintegration into Swedish Society. Behavioral Sciences and the Law. 32(3), S. 440-453.
Streeck-Fischer, A. (1992): »Geil auf Gewalt«. Psychoanalytische Bemerkungen zu Adoleszenz und Rechtsextremismus. Psyche, 46(8), S. 745-768.
Streeck-Fischer, A. (1999): Über die Mimikryentwicklung am Beispiel eines jugendlichen Skinheads mit frühen Erfahrungen von Vernachlässigung und Misshandlung. In: Streeck-Fischer (Hrsg.): Adoleszenz und Trauma. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen. S. 161-173.
Sutterlüty, F. (2003): Gewaltkarrieren: Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung. Campus Verlag, Frankfurt am Main (2. Auflage).
Wahl, K., Tramitz, C. & Gaßebner, M. (2003): Fremdenfeindliche Gewalttäter berichten: Interviews und Tests. In: Wahl, K. (Hrsg.): Skinheads, Neonazis, Mitläufer. Täterstudien und Prävention. Leske & Budrich, Opladen.
Windisch, S., W., Simi, P., Blee, K. & DeMichele, M. (2020): Measuring the Extent and Nature of Adverse Childhood Experiences (ACE) among Former White Supremacists. Terrorism and Political Violence. (Onlineveröffentlichung Juni)
Wirth, H.-J. (1989): Sich fühlen wie der letzte Dreck. Zur Sozialpsychologie der Skinheads In: Bock, M., Reimitz, M., Richter, H.-E., Thiel, T. & Wirth, H.-J. (Hrsg.): Zwischen Resignation und Gewalt. Jugendprotest in den achtziger Jahren. S. 187-202.
Gewaltkarrieren: Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung + 3 Fallbeispiele aus der rechtsextremen Szene
Erneut habe ich eine interessante Arbeit durchgesehen:
Sutterlüty, F. (2003): Gewaltkarrieren: Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung. Campus Verlag, Frankfurt am Main (2. Auflage).
Der Autor hat Gespräche mit 18 gewalttätigen Jugendlichen (15 männlich, 3 weiblich) im Alter zwischen 15 und 21 Jahren geführt. Destruktive Kindheitserfahrungen kamen offensichtlich derart deutlich ins Blickfeld, dass Sutterlüty fast 100 Seiten unter dem Obertitel „Gewalt und Missachtung in der Familie“ dazu aufführt. An einer Stelle schreibt er zusammenfassend:
„Die interviewten Jugendlichen, die wiederholt als Gewalttäter in Erscheinung treten, wurden ausnahmslos – meist über einen längeren Zeitraum hinweg und bereits in frühen Phasen ihrer familiären Sozialisation – Opfer familiärer Gewalt und gewaltbelasteter Familienverhältnisse. Sie sind in Familienverhältnissen aufgewachsen, die man als einen dauerhaften Gewaltzusammenhang bezeichnen kann. Wenn man den Erzählungen der Jugendlichen folgt, fällt auf, dass Vorkommnisse von Gewalt in ihren Familien durchweg mit Erfahrungen der Ohnmacht verbunden waren“ (S. 150f.).
Die Details der Studie kann ich hier nicht besprechen. Für diesen Beitrag möchte ich gezielt die Biografien von drei rechten Jugendlichen hervorheben.
Fall „Kai“ (S. 48 +286f.):
Kai war aktives Mitglied in der rechten Skinheadszene und hat in der Zeit zwischen seinem 16. und 18. Lebensjahr diverse Gewalttaten begangen. Auffällig bei Kai war besonders seine Faszination für Gewalt und Grausamkeiten. Kais Kindheit wird nicht ausführlich geschildert, aber die kurzen Details zeugen von einer sehr destruktiven Kindheit. Sein Vater war gewalttätig und schlug die Kinder. Innerhalb der Familie scheint es vor allem auch unter den vielen Geschwistern massive Konflikte gegeben zu haben. So wird deutlich, dass Kai seine drei jüngeren Geschwister ablehnte und wünschte, sie wären nie geboren worden. Ergänzend belasteten ihn Missachtungs- und Ausgrenzungserfahrungen, die vor allem seine Mutter zu erleiden hatte.
Fall „Kilian“ (S. 151-155):
Kilian war aktives Mitglied in der rechten Skinheadszene in Ostberlin. Sein Vater trank oft Alkohol und wurde dann auch gewalttätig. Die väterliche Gewalt richtetet sich dann auch gegen Kilians Mutter. Kilian selbst wurde aber nicht vom Vater, sondern von seiner Mutter geschlagen. Die Mutter schlug außerdem Killians Schwester und Kilian wurde Zeuge dieser Gewalt. Die mütterliche Gewalt gegen Kilian kam häufig vor, wurde teils mit Gegenständen ausgeführt und hinterließ auch Verletzungen bis hin zu Blutungen. Der Vater schützte seinen Sohn nicht vor dieser Gewalt. Kilians Eltern trennten sich, als Kilian ca. 11 Jahre alt war. Danach sah er seinen Vater kaum noch. In der Familie gab es zudem sehr viele Verbote und offensichtlich eine allgemein autoritäre Erziehung.
Fall „Olaf“ (S. 159-163):
Olaf war Teil einer rechtsextremen Gruppe in Ostdeutschland. Der Vater war sehr kontrollierend und schlug seinen Sohn regelmäßig, ja fast täglich. Der Vater sei außerdem jeden Tag betrunken nach Hause gekommen. Die Mutter schützte ihren Sohn nicht und war offensichtlich selbst den Aggressionen ihres Mannes ausgesetzt. Irgendwann hätten ihm die Schläge des Vaters nichts mehr ausgemacht bzw. er hätte nichts mehr gespürt (Anmerkung: was für eine psychische Spaltung spricht).
Demnächst werde ich in einem gesonderten Beitrag alle von mir gefundenen bzw. besprochenen Studien zum Thema „Kindheit von Rechtsextremisten" zusammenführen. Die empirische Datenlage ist geradezu überwältigend. Es ist vor diesem Hintergrund nicht zu verstehen, dass nicht in allen großen Debatten (und auch Veröffentlichungen von Fachbüchern) über die Ursachen von Rechtsextremismus das Thema Kindheit zentral besprochen wird.
Donnerstag, 24. September 2020
Kindheit und Jugend des Nazi-Anführers Michael Kühnen
Michael Kühnen war eine bekannte Führungsfigur der Neonazi-Szene der 1980er Jahre.
Über ihn hat der Publizist Werner Bräuninger eine ganze Biografie verfasst: Kühnen: Porträt einer deutschen Karriere (erschienen 2016 im Gerhard Hess Verlag, Bad Schuddenried).
Ich muss gleich vorweg schreiben, dass über die Kindheit und Jugend von Michael Kühnen dem Biografen nach sehr wenig bekannt ist. Trotzdem schreibe ich einen Blogbeitrag über Kühnen. Denn es gibt einige Infos und Andeutungen, die von belastenden Erfahrungen zeugen.
Der Vater von Michael „führte eine Leben nach konservativ-katholischen Grundsätzen und Moralvorstellungen“ (S. 14). Michael war das einzige Kind der Familie. In seinen ersten Lebensjahren scheint er recht häufig bei den Großeltern gelebt zu haben. Vor allem die Großmutter war seine Hauptbezugsperson. „Wenn er dann an den Wochenenden wieder zu den Eltern nach Bonn geholt wurde, führte dies meist zu heftigen Abschiedsszenen, weil er lieber bei der geliebten Großmutter bleiben wollte. Damit das Kind den Eltern nicht vollends entfremdet würde, entschied die Mutter schließlich ihn wieder ganz zu sich zu nehmen. Darüber sagte Kühnen später: `Meine Mutter war eine starke Persönlichkeit. Sie hat mich verwöhnt, aber auch kontrolliert. Ich durfte nirgendwo hingehen, ohne Bescheid zu sagen. Sie war sehr ängstlich, und ich war ihr einziges Kind. Einzelkinder haben es enorm schwer. Ohne Geschwister aufzuwachsen, ist das Schlimmste, was einem Kind passieren kann` “ (S. 15).
Rückblickend schrieb Kühnen später einmal: „Ich war ein verwöhntes Muttersöhnchen, schüchtern und voller Komplexe. Ich habe mich in meine Bücher vergraben und tagelang nichts gesprochen. Ich war unfähig für das Leben in der Gemeinschaft“ (S. 21).
Als Schüler scheint er eher ein Außenseiter und auch Einzelgänger gewesen zu sein (S. 22, 33, 37). Der Biograf hebt hervor, dass Kühnen einige Monate nach seiner Grundschulzeit auf das „Collegium Josephinum“ in Bonn wechselte und dass dort bis weit in den 1960er Jahre hinein Kinder sexuell missbraucht und gedemütigt wurden (S. 20). Der Biograf vermutet allerdings, dass Kühnen als Externer nicht mehr „in diesen Strudel des Missbrauchs am Bonner Josephinum“ hineingeraten ist (S. 21). Viel mehr lässt sich aus der verwendeten Quelle nicht über Kindheit und Jugend von Michael Kühnen erschließen.
Ich nutzte diesen Fall also für einige Interpretationen und auch Spekulationen:
Das Elternhaus war streng-katholisch und Kühnen war ein Kind der 50er und 60er Jahre. In dieser Zeit erlebte die Mehrheit der Kinder Körperstrafen in ihren Familien (was uns kriminologische Dunkelfeldstudien vom KFN heute aufzeigen), wobei Häufigkeit und Schwere der Gewalt damals unterschiedlich verteilt waren. Rein statistisch ist es sehr wahrscheinlich, dass auch Kühnen Körperstrafen erlitten hat. Das betont konservativ-katholische Elternhaus mag dies noch einmal mehr wahrscheinlicher machen. Dieser Bezug zum allgemeinen Ausmaß von Gewalt gegen Kinder einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Land fehlt leider sehr oft bei Biografien von gewalttätigen und/oder extremistischen Akteuren (inkl. Diktatoren und kriegslüsternden Führungspolitikern). Dies verwundert, denn allgemeine Erkenntnisse aus Dunkelfeldstudien + dem historischen Ausmaß von Gewalt und Demütigungen gegen Kinder auch in solchen Biografien aufzuführen, wäre nicht unwissenschaftlich. Es geht hier schließlich rein um statistische Wahrscheinlichkeiten bezogen auf stark prägende Kindheitserfahrungen.
Aber kommen wird nochmals zu den oben zitierten Textzeilen und Infos zurück: Warum gab die Familie ihr einziges Kind früh weg, was ja zu einer Entfremdung führte? Wie wirkte sich dies auf Michael aus? Wir wirkte es sich aus, als er dann wiederum den Großeltern entzogen wurde und zurück zur Familie musste? Hinweise auf eine verwöhnende, ängstliche Mutter und eine „Muttersöhnchenbeziehung“ lassen bei mir zudem immer die Alarmglocken erklingen. Hatte diese Mutter-Sohn-Beziehung Ansätze von emotionalem Missbrauch, der so oft in solchen Konstellationen ausfindig zu machen ist?
Der Vater wird in der Biografie übrigens fast nicht erwähnt. Über das Vater-Sohn-Verhältnis bleiben wir absolut im Dunkeln. Dass Michael lange Jahre in einer Institution verbrachte, innerhalb der sich einzelne Geistliche an Kindern vergingen, sagt nicht automatisch aus, dass er ähnliches erlebt hat. Darin stimme ich dem Biografen zu. Allerdings ist dies auch nicht absolut auszuschließen, genauso wenig wie auszuschließen ist, dass Michael teils Zeuge oder auch „gefühlter Zeuge“ wurde, indem er „ungute Atmosphären“ an der Schule aufnahm oder mitbekam.
Es bleiben gewiss viele Fragezeichen. Ich möchte den Fall Kühnen hier insofern hervorheben, weil dieser Fall aufzeigt, dass es auch viel anzumerken und auch zu vermuten gibt, wenn die Informationslage dürftig ist. Auch aus dürftigen Informationen, die allerdings deutliche Tendenzen aufzeigen (wie oben zitiert und besprochen), lassen sich Schlüsse ziehen. Dies gilt einmal mehr, wenn man sich die spätere extremistische Wandlung von Kühnen anschaut. Sehr viel Hass war in diesem Menschen. Wo kam der Hass her? Die dürftigen Infos zeigen bzgl. der Antwort auf diese Frage in Richtung Kindheit und Jugend.
Freitag, 18. September 2020
Wurde die Mutter von Adolf Hitler von ihrem Mann misshandelt?
Ich habe mir jetzt einmal die Zeit genommen, mir die
kommentierte Fassung von „Mein Kampf“ (Hitler, Mein Kampf. Eine Kritische
Edition. Band 1; herausgegeben 2016 im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte
München/Berlin von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger
und Roman Töppel) anzusehen; dabei gezielt die Teile, die Hitlers Kindheit,
Eltern und in diese Richtung zeigende Ausführungen Hitlers beinhalten.
Zwei Stelle sind für mich dabei zentral, in denen Hitler
allerdings nicht in Ich-Form spricht, sondern sich allgemein hält bzw. sich auf
die klassische Arbeiterschicht bezieht:
„Übel aber endet es, wenn der Mann von Anfang an seine
eigenen Wege geht und das Weib, gerade den Kindern zuliebe, dagegen auftritt.
Dann gibt es Streit und Hader, und in dem Maße, in dem der Mann der Frau nun
fremder wird, kommt er dem Alkohol näher. Jeden Samstag ist er nun betrunken,
und im Selbsterhaltungstrieb für sich und ihre Kinder rauft sich das Weib und
die wenigen Groschen, die sie ihm, noch dazu meistens auf dem Wege von der
Fabrik zur Spelunke, abjagen muss. Kommt er endlich Sonntag oder Montag nachts
selber nach Hause, betrunken und brutal, immer aber befreit vom letzten Heller
und Pfennig, dann spielen sich oft Szenen ab, dass Gott erbarm.
In Hunderten von Beispielen habe ich dieses alles miterlebt, anfangs angewidert
oder wohl auch empört, um später die ganze Tragik dieses Leides zu begreifen,
die tieferen Ursachen zu verstehen. Unglückliche Opfer schlechter
Verhältnisse“ (S. 149f).
Und bezogen auf enge Räumlichkeiten und große Familien mit
vielen Kindern und nachfolgenden Streitigkeiten schreibt Hitler:
„Wenn dieser Kampf unter den Eltern selber ausgefochten
wird, und zwar fast jeden Tag, in Formen, die an innerer Rohheit oft wirklich
nichts zu wünschen übriglassen, dann müssen sich, wenn auch noch so langsam,
endlich die Resultate eines solchen Anschauungsunterrichtes bei den Kleinen
zeigen. Welcher Art sie sein müssen, wenn dieser gegenseitige Zwist die Form
roher Ausschreitungen des Vaters gegen die Mutter annimmt, zu Misshandlungen in
betrunkenem Zustande führt, kann sich der ein solches Milieu eben nicht
Kennende nur schwer vorstellen. Mit sechs Jahren ahnt der kleine, zu bedauernde
Junge Dinge, von denen auch ein Erwachsener nur Grauen empfinden kann“ (S.159).
Interessant sind sie jeweiligen Kommentierungen der
Herausgeber an beiden Stellen.
Beim ersten langen Zitat oben kommentieren sie bezogen auf den Alkoholkonsum
u.a.:
„Auch Hitlers Kritik des Alkoholismus dürften eigene Erfahrungen zugrunde
liegen: Hitlers Vater, der durch Alkohol aufbrausend und jähzornig wurde, starb
in einem Gasthaus. Es ist denkbar, dass Hitler, der die
Persönlichkeitsveränderung seines Vaters infolge des Alkoholmissbrauchs
miterlebt hatte, dadurch zum Abstinenzler wurde (…)„ (S. 150). Hier wird also
den verallgemeinerten Schilderungen Hitlers autobiografischer Hintergrund
unterstellt (zu Recht, wie ich finde), wohl auch in dem Wissen über andere
Quellen, die den Alkoholmissbrauch von Alois Hitler bezeugen (wobei von den Herausgebern
kein Bezug auf entsprechende Quellen genommen wird).
Ganz anders jedoch wird von den Herausgebern die zweite
zitierte Passage kommentiert:
„Von der Psychologin Alice Miller stammt die These, dass Hitlers folgende
Schilderungen – trotz der allgemein gehaltenen Formulierungen – auf persönliche
Erfahrungen basierten. Hitlers eigene Kindheit sei im hohen Maße geprägt
gewesen von seinem zum Alkohol und zur Gewalttätigkeit neigenden Vater, vom
Streit zwischen den Eltern, den fünf Kindern (aus zweiter und dritter Ehe),
schließlich dem Zerwürfnis zwischen seinem Vater, Alois Hitler senior, und
seinem Halbbruder Alois junior, der mit 14 Jahren im Streit das Elternhaus
verließ. Definitiv beweisen lässt sich diese These nicht“ (S. 156).
Es ist ganz und gar erstaunlich, wie unterschiedlich hier
die beiden Textstellen kommentiert wurden. Denn natürlich gibt es mittlerweile
genügend Belege dafür, dass Hitler von seinem Vater misshandelt wurde (siehe
u.a. in meinem Buch oder hier im Blog) und dass auch andere Familienmitglieder
– vor allem der erwähnte Halbbruder – Schläge bekamen (Die Jähzornigkeit des
Vaters wurde ja auch von den Herausgebern in der zuvor zitierten Kommentierung
gesehen). Man könnte zwar formulieren, dass nicht bewiesen werden kann, ob
Hitler hier auch seine eigene Kindheitsbiografie meinte, denn dies wüsste nur
Hitler allein. Aber warum scheuen sich die Herausgeber hier, ähnlich zu
kommentieren, wie sie es beim Alkoholmissbrauch zuvor getan haben? Diese
Widersprüchlichkeiten oder diesen Hin-und-Her-Gerissen-Sein habe ich oft
erlebt, wenn es um Kindheiten von Diktatoren und Massenmördern oder auch
politische Gewalt und Kindheit an sich geht (ich habe dazu in meinem Buch
entsprechend kommentiert).
Wenn man sich mit Hitlers Kindheit ausführlich befasst, dann
fällt es nicht schwer, das „Aufflackern“ dieser Kindheit in den oben zitierten
Auszügen aus „Mein Kampf“ zu erkennen. Ich sehe es wie Alice Miller: Hitler hat
hier seine eigenen Erfahrungen eingebracht. Wohl aber hat er sie auch auf das
Erleben vieler anderer Menschen übertragen (und er hat nicht seine Eltern
direkt angeklagt). „In Hunderten von Beispielen habe ich dieses alles miterlebt“,
schreibt Hitler. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass Hitler nicht
hunderte Male in Arbeiterfamilie zugegen war, wenn der Vater des Hauses „betrunken
und brutal“, wie er schreibt, nach Hause kam. Wahrscheinlich wusste er aus
Erzählungen Anderer darum, dass solche häusliche Destruktivität nicht selten
vorkam. Vielleicht hat er auch hin und wieder in einer Familie übernachtet.
Aber diese seine Betonung auf „Hunderten von Beispielen“ spricht aus seiner
Tiefe heraus. Und ich meine, dass da auch das Kind in ihm spricht.
Meine wesentliche Frage aber ist (und dies war der
eigentliche Hauptgrund für diesen Beitrag), ob auch Hitlers Mutter Klara von
ihrem Mann misshandelt wurde (verbale Demütigungen sind dagegen nahezu sicher,
wenn man sich mit den häuslichen Verhältnissen im Hause Hitler und der Stellung
von Klara befasst)? Ich finde auch hier, dass Hitlers Aussagen in „Mein Kampf“
eine überdeutliche Sprache sprechen. Ergänzt wird dies durch einen Bericht des
Halbbruders, den der Historiker John Toland wiedergegeben hat. Toland schildert
zunächst die väterlichen Misshandlungen, die der Halbruder und auch Adolf
erlebt haben (ergänzend wurde auch der Hund des Hauses mit einer Peitsche
traktiert und zwar so lange „bis er sich krümmte und den Fussboden nässte“).
Dann hängt er an: „Gewalttätigkeiten dieser Art musste, Alois Hitler jr. zufolge,
sogar die duldsame Ehefrau Klara Hitler ertragen; wenn diese Angaben stimmen,
so müssen solche Auftritte bei Adolf Hitler einen unauslöschlichen Eindruck
hinterlassen haben“ (Toland, J. (1977): Adolf Hitler. Gustav Lübbe Verlag,
Bergisch Gladbach, S. 26)
Das Miterleben von (schwerer) Gewalt gegen die eigene Mutter
ist eine folgenschwere Erfahrung für Kinder. Auch ohne diesen Belastungsfaktor war
Adolf Hitlers Kindheit in der Gesamtsicht unfassbar traumatisch. Trotzdem, ich
meine, dass in anderen Fällen schon bei weit weniger Belegen von häuslicher
Gewalt zwischen Elternteilen ausgegangen wird. Wir haben Belge für schwere und
häufige väterliche Gewalt und ein aufbrausendes Temperament + Alkoholmissbrauch
des Vaters. Dazu der große Altersunterschied zwischen Klara und Alois, Klaras
ursprüngliche Stellung als Dienstmädchen im Haus und ihre entsprechende Unterlegenheit
und Ohnmacht (auch ergänzend auf Grund damaliger stark
patriarchaler Strukturen und Verhältnisse). Dazu die deutlichen Aussagen des
Halbruders (nach Toland) und Hitlers Schilderungen in „Mein Kampf“. Ich bin
entsprechend davon überzeugt, dass Klara Hitler Misshandlungen seitens ihres
Mannes erlitten hat und die Kinder im Haus dies auch mitbekommen haben.
Dienstag, 15. September 2020
Einzelfall einer rechten Radikalisierung, der psychoanalytisch besprochen wurde
Erneut habe ich eine interessante psychoanalytische Arbeit gefunden, innerhalb der ein Einzelfall einer rechten Radikalisierung ausführlich besprochen wird:
Leuzinger-Bohleber, M. (2016): Radikalisierungsprozesse in der Adoleszenz – ein Indikator für eine nicht gelungene Integration? In: Leuzinger-Bohleber, M. /Lebiger-Vogel, J. (Hrsg.): Migration, frühe Elternschaft und die Weitergabe von Traumatisierungen. Klett-Cotta, Stuttgart, S. 171–193.
Diese ganzen immer wieder von mir besprochenen „Einzelfälle“ mögen manch einen Leser oder eine Leserin hier ermüden, für mich ist es aber wichtig, diese Rechercheergebnisse festzuhalten und die Einzelfälle zusammen mit größeren Studien zu einem Gesamtbild zusammenzutragen.
Die Autorin bespricht den Fall „Herr A.“, den sie in ihrer Praxis betreut hat. Herr A. war stark suizidal, litt unter sozialem Rückzug und war früher aktives Mitglied einer rechten, gewalttätigen Gruppierung. Der Vater von Herrn A. war ein arabischer Flüchtling, die Mutter eine Deutsche. Die Beziehung der Eltern sei chronisch unglücklich gewesen. Beide Elternteile hatten zudem ein Alkoholproblem. Im Alter von 12 Jahren hatte Herr A. seinen Vater bei einem Suizidversuch entdeckt. Er rief den Krankenwagen und rettete so seinem Vater das Leben. Als Jugendlicher schloss sich Herr A. einer rechten Gruppe an. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen wurde er einmal schwer verletzt. Einige Wochen danach wurde er wegen aggressiven Verhaltens von der Schule ausgeschlossen. Daraufhin schlug sein Vater ihn in einer Kneipe vor den Augen seiner Kumpels zusammen, für Herrn A. eine sehr demütigende Erfahrung. Der Kontakt zu den Eltern brach in der Folge ab. Als 15-Jähriger lebte Herr A. fast ein Jahr auf der Straße oder bei dubiosen Freunden. In dieser Zeit nahm er auch Drogen (Leuzinger-Bohleber 2017, S. 183-186). Auf Grund des geschilderten gewaltvollen Verhaltens des Vaters würde ich persönlich stark davon ausgehen, dass der Vater auch vorher gewalttätig gegen seinen Sohn agiert hat.
Dieser Fall zeigt für mich auch zwei Widersprüche auf: Der Vater von Herrn A. kam aus einem arabischen Land. Mit der rechten Gruppe hetzte Herr A, gegen und bekämpfte „Ausländer“ oder fremd aussehende Menschen (und die rechte Gruppe akzeptierte ihn als rechtes Mitglied, trotz der Herkunft seines Vaters). Hier wird überdeutlich, dass Abstammung oder Gruppenzugehörigkeit gar nicht immer so zentral sind. Zentral ist einfach das Gruppengefühl, der „gemeinsame Feind“ und die Möglichkeit, Hass nach außen zu tragen. Den zweiten Widerspruch stellt die Reaktion von Herrn A. auf den Terroranschlag vom „11. September“ dar. Herr A. war zu der Zeit am Ende seiner psychoanalytischen Therapie. Herr A. sympathisierte stark mit dem Terror gegen die USA. Er fühlte sich plötzlich als Teil der gedemütigten, muslimischen Gemeinschaft. Die USA hätte arabische Länder zuvor gedemütigt und ausgebeutet. In der Therapie konnten seine feindlichen und gewaltvollen Fantasien bearbeitet werden (und auch in Bezug zu seinem destruktiven Vater gesetzt werden). Allerdings fällt es leicht, sich vorzustellen, dass dieser Mann durch zufällige Begegnung mit islamistischen Kreisen auch in dieser extremen Ecke hätte landen können. Extremistische Ideologie scheint mehr Mittel zum (emotionalen) Zweck zu sein.
Freitag, 4. September 2020
Kindheit und Extremismus (mit Blick auch auf den NSU). Erneute Anregung für die Forschung.
Der Band Böckler, N. & Hoffmann, J. (Hrsg.) (2017): Radikalisierung und terroristische Gewalt. Perspektiven aus dem Fall- und Bedrohungsmanagement. Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt ist ein erneutes Beispiel dafür, dass die Forschung beim Thema Terrorismus und Extremismus selten schwerpunktmäßig Kindheitserfahrungen in den Blick nimmt.
Nur in zwei Beiträgen finden sich kurze Einlassungen auf Kindheitshintergründe. Nils Böckler hat unter dem Titel „Der sogenannte Islamische Staat und die Mudschaheddin aus dem Westen: Radikalisierungsprozesse unter schwarzer Flagge“ (S. 119-137) 33 Islamisten in den Blick genommen und einige Hintergründe recherchiert.
Er schreibt: „Über alle Fälle hinweg konnten eine Vielzahl von Konflikten in der Familie, in der Schule, bei dem Übergang in das Berufsleben, wie auch in Interaktion mit der Gruppe Gleichaltriger identifiziert werden“ (Böckler 2017, S. 105) Dem hängt er vier Konfliktmuster an, von denen eines „Gewalterfahrungen als Opfer im Elternhaus“ ist. Leider wurde die Analyse nicht vertiefend dargestellt und Kindheitserfahrungen wurden auch nicht weiter hervorgehoben. Insofern ist seine Analyse auch schwer zu verarbeiten. Allerdings wurden 3 Fallbeispiele (S. 108-114) ausführlich besprochen.
Beim Fall „Frank“ werden destruktive Kindheitserfahrungen überdeutlich. Er wuchs mit 4 Stiefgeschwistern auf, die aus verschiedenen Beziehungen der Mutter stammten. Die Mutter ist berufstätig und die Kinder waren oft alleine. „Bereits seit seiner Kindheit fällt Frank durch aggressives Verhalten auf. Zudem sind die Beziehungen im familiären Umfeld durchgehend von Konflikten und körperlichen Auseinandersetzungen geprägt“ (S. 108). Nach gewalttätigen Auseinandersetzungen im Elternhaus auf Grund eines Streits um seinen übermäßigen Computergebrauchs zog Frank zu seiner älteren Stiefschwester. Ihr Lebensgefährte war Salafist und Frank kam mit extremistischem Gedankengut in Kontakt.
„Rakin“ ist das jüngste von sieben Kindern. Im Altern von 5 Jahren migriert er mit seiner Familie nach Deutschland. In der Schule hat er Probleme mit den Anforderungen und dem Anschluss an Gleichaltrige. Während seiner Jugend wird bei seinem Vater Krebs diagnostiziert. Der Vater stirbt schließlich, als Rakin 17 Jahre alt ist. Über den Erziehungsstil der Eltern erfährt man nichts.
Die Kindheit von „Hassan“ (dem dritten Fallbeispiel) wird kaum beleuchtet. Seine schulische Laufbahn verlief unauffällig und er studierte später. Die Familie sei auf Grund der Selbstständigkeit des Vaters und der Pflege eines Verwandten sehr eingebunden gewesen, so dass Konflikte in der Familie im Allgemeinen vermieden wurden.
Die Forschung steht wie immer vor dem Problem, dass Kindheitshintergründe nicht immer einfach zu ermitteln sind. Aus den drei gezeigten Fallbeispielen lässt sich ableiten, dass belastende Kindheitserfahrungen eine wichtige Rolle bei der Genese von Extremismus spielen, allerdings bleibt das Bild uneinheitlich, weil der Erziehungsstil im Fall Rakin und Hassen nicht besprochen wird (oder nicht ermittelt werden konnte). Ich habe insofern auch Verständnis dafür, dass die Forschenden vorsichtig formulieren.
Problematisch wird es nach meiner Ansicht allerdings dann, wenn das uneinheitliche Bild zur Wahrheit umgebaut wird oder anders gesagt: wenn das uneinheitliche Bild zum festen Ergebnis wird. Dies zeigt sich am Beitrag von Matthias Quent „Akteure des Rechtsterrorismus: Radikalisierungsverläufe im NSU-Komplex“ (S. 169-190) in dem Band.
Quent hat die Hintergründe und Sozialisation von 6 am NSU-Komplex (Beate Zschäpe, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Ralf Wohlleben, André Kapke, Holger Gerlach; wobei er die Nachnamen nicht voll ausgeschrieben hat) beteiligten Akteuren analysiert. Aus dieser Analyse heraus hat er „Typen rechtsextremer Radikalisierungskarrieren“ (S. 182f.) herausgestellt und daraus 3 Modelle gemacht, die grafisch aufbereitet wurden. In "Modell 1" verortet er Uwe B, Holger G und Beate Z.. Das „Modell 1“ beginnt mit „familiären Konflikterfahrungen“, führt über „schulische Probleme“ u.a. zu „Gewalt“ und über weitere Wege schließlich zur politischen Gewalt.
Ralf W. und André K. wurden in das „Modell 2“ kategorisiert, das mit „(angeblicher) rechtsextremen Cliquenzugehörigkeit“ beginnt, über „Phasen der Erwerbslosigkeit“ zur Gewalt und später politischer Gewalt führt. „Modell 3“ umfasst nur Uwe M und beginnt mit „Politischer Provokation“, führt über „rechtsextreme Politisierung und Cliquenzugehörigkeit“ zur „Gewalt“, dann „Gruppenmitgliedschaft“ und später politischer Gewalt. Das Modell schließt somit aus, dass bei Ralf W., André K. und Uwe M. familiäre Konflikte (bzw. Kindheitshintergründe) ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Eine solche Vorgehensweise halte ich für falsch!
Die realen Kindheitserfahrungen von Gewalttätern und Extremisten zu erfahren, gestaltet sich immer als schwierig (schon der "Durchschnittsbürger" spricht ungern offen über erlebtes Leid in der Kindheit oder verdrängt. Und Eltern, die zu Tätern gegenüber ihren Kindern wurden, werden sich hüten, öffentlich zu berichten, was sie getan haben). Zu dem Themenkomplex habe ich in meinem Buch ein ganzes Kapitel verfasst: „Kapitel 11. Das Schweigen der Täter: Von der Schwierigkeit, die ganze Wahrheit über das erlebte Kindheitsleid zu erfahren“. Meine Bedenken kann ich hier nicht alle wiederholen. Hier im Blog habe ich dazu bereits einen wichtigen Beitrag verfasst.
Die Kindheiten von Zschäpe und Böhnhardt habe ich hier im Blog und erweiternd auch in meinem Buch besprochen. Die Kategorie „Familiäre Konflikterfahrungen“ kann ich bei ihnen also nur bestätigen. Wobei die Kategorie eher harmlos klingt. Zschäpe und Böhnhardt haben viel mehr traumatische Kindheitserfahrungen gemacht.
Quent beschreibt die Kindheit von Holger Gerlach wie folgt: Nach der Scheidung der Eltern hatte er kaum Kontakt zu seinem Vater. Den neuen Stiefvater der Mutter akzeptierte er. Der Stiefvater starb 1986, Holger muss damals ca. 12 Jahre alt gewesen sein. Der Tod des Stiefvaters markiert den Zeitpunkt, ab dem Holger durch sein Verhalten auffällig wurde (Quent 2017, S. 181). Auch hier geht es sowohl um Belastungen in der Kindheit, als auch ein traumatisches Ereignis. (Und über den Erziehungsstil erfährt man ebenfalls nichts, insofern könnten hier noch weitere Belastungen liegen)
Ralf Wohlleben wird von Quent nicht im „Modell 1“ untergebracht, obwohl ich Konflikte im Elternhaus recherchiert habe: Seine Eltern waren streng, Ausriss von zu Hause, Aufenthalt im Heim, später wieder bei seinen Eltern (Ramelsberger, A. (2015, 16. Dez.): Wie Wohlleben sein Leben beschreibt. Süddeutsche Zeitung.)
Über die Kindheit von Uwe Mundlos habe auch ich nichts von Bedeutung gefunden. Allerdings habe ich in meinem Buch auf Grund der Verhaltensauffälligkeiten seines Vaters vor Gericht ein wenig spekuliert. Über André Kapke fand ich im Grunde gar keine Infos über seine Kindheit. Bei beiden Tätern finden sich aber auch keine Belege dafür, dass sie unbelastet und gewaltfrei aufgewachsen sind.
Wir dürfen bei diesem Thema niemals entsprechende Belastungen ausschließen! Immerhin reden wir hier über Extremisten, die durch ihr Verhalten bereits einiges über sich erzählen. Außerdem gibt es mittlerweile etliche Studien über Rechtsextremisten (für die die Akteure konkret befragt wurden), die mehrheitlich (oft auch schwere und/oder mehrfache) Belastungen in der Kindheit ausmachen konnten (siehe dafür u.a. in meinem Blog im Inhaltsverzeichnis). Es spricht also einiges dafür, vorsichtig zu sein, wenn es um die Betrachtung von Kindheitshintergründen von Extremisten geht und nicht voreilig abschließende Schlüsse zu ziehen. Das Modell von Matthias Quent ist dabei wenig hilfreich. Ich möchte erneut durch diesen Beitrag einen Wink in Richtung Extremismusforschung geben, den Themenkomplex „Kindheit“ deutlicher, vertiefender und spezialisierter anzugehen. Denn in der Kindheit liegen die Wurzeln des Übels.
Dienstag, 25. August 2020
Wie Peter Lustig mit "Löwenzahn" Kinder und vor allem Jungs geprägt hat
Derzeit schaue ich mit meinen Kindern hin und wieder die Sendung „Löwenzahn“ (mit Peter Lustig). Die Sendung ist auch heute noch sehr sehenswert und hat mich (wie so viele Kinder meiner Generation, ich wurde 1977 geboren) in den 1980er Jahren sehr geprägt und begeistert.
In meiner Arbeit habe ich mich immer wieder mit den Folgen von destruktiver Erziehung und Elternschaft befasst. Ich möchte heute einen Wink in eine weitere Richtung geben. Die Väter und älteren Männer, die meine Generation (also die „Sesamstraßen- und Löwenzahngeneration“, wie ich uns bezeichne) erlebt und zum Vorbild hatten, waren meist Kriegs- oder Nachkriegskinder. Sie waren es gewohnt, sich durchzukämpfen und Schwächen abzuwehren oder zu vergraben. Mit ihren eigenen Eltern hatten sie nie echten Austausch und Lockerheit erlebt. Und dies waren auch noch Männer, die noch nah an der traditionellen Männlichkeit sozialisiert wurden (auch wenn es schon damals Stück für Stück Entwicklung und Fortschritt bzgl. der Geschlechtsrollen gab). Geduld, Schwächen oder Fehler eingestehen, Reden auf Augenhöhe mit Kindern usw. waren nicht so ihr Ding. Das Lustige ist, dass der 1937 geborene Peter Lustig so gar nicht die Männlichkeitsbilder seiner Generation erfüllte! Vielfach ist berichtet worden, dass Peter Lustig privat genau so war, wie in seiner Sendung. Aber selbst wenn dies nicht so gewesen wäre: Für mich zählt in diesem Beitrag nur, was er in der Sendung „Löwenzahn“ darstellte und den Kindern mit auf den Weg gab.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Kinder meiner Generation Peter Lustig nicht nur wegen der Themen und der gut konzipierten Sendung (dessen Autor Peter Lustig auch häufig war) so geliebt haben. Wir staunten auch über die Männlichkeit (und auch Väterlichkeit), die er vorlebte! Er war immer ruhig und höflich, nie auf Kampf oder Feindschaft aus. Seinen Mitmenschen (vor allem sein Nachbar), die viele Fehler machten und sich destruktiv verhielten, begegnete er mit Toleranz und zeigte ihnen durch sein Verhalten, wie es auch gehen könnte. Er wehrte weder Ideen, noch Menschen ab. Er zeigte ständig offen seine Schwächen (z.B. schmeckte der selbst gemachte Kakao einfach furchtbar), aber auch seine Lernbereitschaft aus gemachten Fehlern während seiner Entdeckungsreisen. In der Sendung sprach er stets die Kinder vor dem Fernseher direkt an und das machte er auf eine sehr zugewandte, väterliche, ernstnehmende Weise und auf Augenhöhe.
Menschen wie Peter Lustig verändern etwas in der Welt. Sie zeigen durch ihr Vorbild, wie es auch gehen kann. Sie wirken durch sich selbst. Es ist nicht zu unterschätzen, was solche Männer für Wirkungen erzielen. Ich bin sicher, dass vor allem viele Jungs aus meiner Generation ein Stück weit etwas mitgenommen haben von Peter Lustig. Etwas, das sie bestenfalls selbst in ihr eigenes Mann- und auch Vatersein einbauen konnten.