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Donnerstag, 3. Mai 2012

Johann Benos: 20 europäische Diktatoren im Vergleich


Der apl. Professor für Psychiatrie Dr.med. Johann Benos hat 2011 ein auf den ersten Blick vielversprechendes Buch unter dem Titel: „20 europäische Diktatoren. Psychologische Hintergrunds- und Persönlichkeitsstudien“ veröffentlicht. (im AT Edition Verlag, Berlin erschienen) Die untersuchten Diktatoren sind: Antonescu, Atatürk, Dollfuß, Franco, Hitler, Horthy, Kun, Metaxas, Mussolini, Päts, Pavelić, Pilsudski, Primo de Rivera, Salazar de Oliveira, Smetona, Stalin, Szálasi, Tiso, Ulmanis und Zogu.

Der Autor hat in seinem Buch Diktatoren untersucht, die alle zur ungefähr gleichen Zeit – erste Hälfte des 20.Jahrunderts - ihr Unwesen in Europa trieben. „Auffallend war beim Lesen der Biographien der Diktatoren die Feststellung, dass sie große Ähnlichkeit aufwiesen, was mich dazu veranlasste, diese Untersuchung durchzuführen.“ (S. 10) Entsprechend war der Autor bemüht, die Gemeinsamkeiten der Akteure herauszustellen. Jeder Diktator wurde mit der gleichen Schablone untersucht:  Herkunft;  Kurzbiographie; Verhältnis zu Eltern, Verwandten, Frauen; Psychische Störungen; Psychische Vorbelastungen in der Familie; Ideologie, Brutalität  usw. In der zweiten Hälfte des Buches wurden die Ergebnisse miteinander verglichen. Kurzum: Auf den ersten Blick ist dieses Buch so angelegt, wie ich es mir nur wünschen könnte.
Das für mich wichtigste Vergleichsergebnis: „Alle Diktatoren des untersuchten Zeitraumes hatten, sofern es aussagekräftige Biographien hierzu gab, zu ihrem Vater ein schlechtes oder „gleichgültiges“ Verhältnis. (…) für die Diktatoren existierte der  Vater nicht oder sie lehnten ihn ab, weshalb er auch niemals ein Vorbild für sie sein konnte. (…) Die Diktatoren waren in der absurden Situation, ihren Vater zu leugnen. Es scheint, dass das Verhältnis zum Vater bzw. seine Ablehnung der wichtigste Parameter im Leben der Diktatoren war. “ (S.225+226) Ein für mich ein nicht wenig überraschendes Ergebnis, aber wie schön, dass dies einmal derart systematisch festgestellt wird. 

(Auch andere Vergleichsergebnisse sind interessant, z.B. dass alle Diktatoren aus dem geographischen und politischen Abseits des jeweiligen Landes, das sie später regierten, stammten und keiner in einer Großstadt geboren wurde oder dort als Kind/Jugendlicher gelebt hatte. Ich gehe in diesem Beitrag allerdings nur auf die psychohistorisch relevanten Ergebnisse ein bzw. auf das, was in dieser Studie fehlte. )

An dieser Stelle endet meine positive Kritik über das Buch. Benos ergänzt nämlich bzgl. der Väter, dass nicht die Brutalität oder Dominanz (dominante Väter sind laut seinen Recherchen in der Minderheit) der Väter der gemeinsame Nenne wäre, sondern die Ablehnung des Vaters. Bzgl. Francisco Franco, Hitler, Stalin und Mussolini habe ich hier im Blog ja bekanntlich Daten aus der Kindheit gesammelt. Benos  lag offensichtlich keine Quelle vor, die die körperliche Gewalt des Vaters gegen Francisco Franco belegte, er beschreibt den Vater rein als „streng, autoritär und emotionslos“. Die körperliche Gewalt, die Hitlers Vater ausübte, ist ja weitgehend bekannt und insofern auch von Benos erwähnt worden. Die väterliche Gewalt gegen Mussolini weist Benos auch nach. Bzgl. Stalins Vater schreibt Benos: „Er entlud seinen Frust in tätlichen Aggressionen gegen Frau und Kind.“ (S.165) Das finde ich doch sehr knapp, gerade auch vor dem Hintergrund, dass Benos laut Literaturverzeichnis Neumayrs “Diktatoren im Spiegel der Medizin“ gelesen hat, .in dem es heißt, dass Stalins Vater es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, dem kleinen Jossif seinen Eigensinn durch tägliche Prügel, jeweils vor dem Schlafengehen verabreicht, auszutreiben. Tägliche Misshandlungen sollten doch eine gesonderte Erwähnung wert sein, weil dies eine ganz andere Dimension ist, als allgemein von „tätlichen Aggressionen“ zu schreiben. 

Ergänzend möchte ich behaupten, dass viele der von Benos untersuchten Diktatoren nicht derart von einem auch über die nationalen Grenzen hinaus reichenden Interesse für Historiker, Psychologen und Sozialwissenschaftler waren und sind. Ganz im Gegenteil werden einige sogar noch immer von der eigenen Nation verehrt, wie z.B. Atatürk. Ich denke, dass die Datenlage bzgl. möglicher direkter innerfamiliärer Gewaltanwendung – neben der von ihm nachgewiesenen väterlichen Ablehnung -  entsprechend dürftig ist.
Großes Kopfschüttel löste bei mir aber viel mehr noch das Vergleichsergebnis bzgl. der Mütter aus. Benos schreibt zusammenfassend nach seiner Besprechung der Väter: „Das Verhältnis zur Mutter jedoch war bei allen immer sehr gut.“ (S. 226) Dabei muss man folgende Wörter nochmal wiederholen: „immer“ und „sehr gut“! Benos lässt in seinem Buch keinen Zweifel aufkommen: Die Mütter der Diktatoren liebten ihre Kinder innig! Seine Schilderungen über Stalins Mutter gleicht denen über die Mütter der anderen Diktatoren: Die Mutter Stalins „(…) war eine einfache ungebildete, aber sehr fromme und liebevolle Frau.“ Sie war „(…) sehr um ihren Sohn besorgt und liebte ihn sehr.“ (S. 165) Er ergänzt, dass sie für ihren Sohn einen Weg als Priester vorgesehen hatte und Stalin ihr diesen Wunsch zunächst auch erfüllte.
Man lese nun meine Rechercheergebnisse bzgl. Stalins Mutter hier. Auch sie misshandelte nachweisbar ihren Sohn (was ich in gleich drei Quellen fand!), schützte ihn nicht vor den Schlägen des Vaters und zwang ihn  in eine Ausbildung als Priester, während der er weitere schwere Demütigungen und Verletzungen erlitt. Stalin nahm später nicht einmal an ihrer Beerdigung  teil.
Dass Francisco Franco von seiner Mutter als Trostpflaster missbraucht wurde und dies auf Kosten seiner emotionalen Entwicklung ging, habe ich ebenso im Grundlagentext beschrieben. Bei Benos ließt sich das so: „Sie liebte ihren Sohn abgöttisch und bemutterte ihn am meisten von allen Kindern, weil sie glaubte, er leide ganz besonders unter der familiären Situation. Sie spornte ihn auch an, etwas Besseres zu werden als sein Vater.  Francisco Franco liebte seine Mutter und besuchte sie, so oft er konnte.“ (S. 35) Dabei stecken bereits in den Schilderungen von Benos deutlich Anzeichen für ein „Zuviel“ an Mutter, für eine „Muttersöhnchenbindung“, die letztlich nichts anderes ist, als emotionaler Missbrauch. Ähnliches schreibt Benos über Hitlers Mutter: „Sie liebte ihn abgöttisch und bemutterte ihn. Auch Adolf liebte sie übermäßig (…)“ (S. 42) Hitler, der in den Augen der Medusa nach eigenen Worten die Augen seiner Mutter  wiedererkannte und dessen gestörte Mutterbeziehung nachvollziehbar u.a. von Arno Gruen beschrieben wurde, erlebte ganz offensichtlich ebenfalls emotionalen Missbrauch durch die Mutter. Auch sie schützte ihren Sohn nicht vor der väterlichen Gewalt (und egal woran dies lag, hinterlässt dies bei einem Kind seine Wirkung auch in Bezug zur Mutter). 

Merkwürdig ist, dass Benos als Psychiater seine Ergebnisse bzgl. der angeblich liebevollen Mütter  in Anbetracht eines weiteren Vergleichsergebnisses nicht kritisch hinterfragte: „Ein normales Verhältnis zu Frauen und gewiss auch zu der eigenen Ehefrau hatte keiner der Diktatoren (…). Die meisten von ihnen sahen Frauen lediglich als Lustobjekt und schätzten sie nur gering. Zu einer gefühlsmäßigen Bindung waren sie auf Grund ihrer Persönlichkeit (Narzissmus) nicht fähig (…). Ehen und Partnerschaften entstanden nur, weil die Diktatoren eine Stütze brauchten. (…) Trotz aller Anstriche einer frauenfreundlichen Politik blieben die Regime, weil die Diktatoren dies nicht anders wollten, antifeministisch.“ (S. 228- 231)
Verhalten sich so Söhne, die von ihren Müttern wirklich geliebt und gut behandelt wurden? Benos wies ja auch nach, dass die Väter sowohl emotional als auch oft real abwesend waren und nicht als Vorbild zur Verfügung standen. Das bedeutet, dass die Diktatoren während der Kindheit hauptsächlich durch ihre Mütter erzogen und begleitet worden sind. Wären ihre Taten und auch ihre Einstellungen gegenüber Frauen möglich gewesen, wenn der anwesende Elternteil sie mit echter Liebe überschüttet hätte? Nach allem was ich gelesen habe und selbst als Mensch über das Menschsein fühle kann ich nur sagen: Nein, dies wäre nicht möglich gewesen! 

Dazu kommt, dass alle Diktatoren Ende des 19. Jahrhunderts geboren wurden, einer Zeit also, in der das Prügeln und Demütigen von Kindern zu Hause und auch in der Schule Sitte und Norm war. Die meisten Gewaltstudien kommen zu dem Ergebnis, dass Mütter gleich viel oder meist sogar noch öfter als Täterinnen bzgl. körperlicher Gewalt gegenüber ihren Kindern auftreten als die Väter. Aktuell habe ich ja z.B. die Studie von Hävernick vorgestellt, die ein hohes Ausmaß an Gewalt gegen Kinder in Deutschland für die Jahre 1910 bis Anfang der 60er Jahre festgestellt hat. Mütter waren in über 60 % der Fälle die Täterinnen.
Benos hat nun ganze 20 Diktatoren analysiert und meint, dass keine einzige Mutter eine Täterin an ihrem Kind war, sondern alle liebevoll mit ihren Söhnen umgingen!? Die Wahrscheinlichkeit, dass dies stimmt, tendiert bereits gegen Null, wenn man sich alleine nur mit sozialwissenschaftlichen Gewaltstudien und der historischen Kindererziehung befasst. Benos hängt ganz offensichtlichem einem tief in unserer Gesellschaft verwurzeltem idealisierendem Mutterbild nach, das so nicht real ist. (Über dieses Mutterbild und das Nicht-sehen-wollen weiblicher Täterschaft werde ich noch einen gesonderten Beitrag schreiben). 

Ansonsten bestätigen Benos Vergleichsergebnisse vieles von dem, was man sich so allgemein über Diktatoren denken kann: Sie waren kontaktarm und menschenscheu; Menschen gegenüber waren sie misstrauisch und ängstlich; sie waren sowohl in der Politik als auch sozial Außenseiter; sie waren gute Schauspieler und konnten gut reden; bei allen Diktatoren fand Benos paranoide Tendenzen und wahnhafte Ideen; alle Diktatoren waren Narzissten; alle zeigten depressive Tendenzen; alle verfügten über eine hohe rationale Intelligenz aber: „Die Diktatoren hatten einen Defekt im emotionalen Bereich.“ (S. 256) Mit ihren eigenen Gefühlen konnten sie nur schlecht umgehen; im Bereich der Empathie „waren sie gar emotional Schwachsinnige.“ (S. 258) Als Folge der fehlenden Empathie waren sie auch im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen „emotionale Krüppel“ (S. 259)
Und all dies  - ich wiederhole mich – trotz einer liebevollen Mutter? Ich denke, dass dieser blinde Fleck das Hauptmanko des Buches darstellt. Hätte Benos diesen Punkt richtig ausgeleuchtet und kommentiert, das Buch wäre wirklich eine hervorragende Grundanalyse über die Psyche der Diktatoren, als auch bzgl. der Gemeinsamkeiten in der Kindheit. 

Dabei hat Benos in der Tat einen gewichtigen gemeinsamem Nenner gefunden. Er beschreibt die „liebevollen Mütter“, gut, das habe ich hinreichend kritisiert. Aber er schreibt auch, dass alle Mütter ihre Söhne verhätschelt hätten, sie bemutterten, die Söhne waren ihre Lieblinge, „außerdem spornten sie die Mütter zu „Höherem“ an und bestärkten sie sogar in der Ablehnung des Vaters. Diese Tatsache fiel vor allem bei den berüchtigtsten der Diktatoren auf. Je mehr die Mutter sie verhätschelte und anspornte, desto narzisstischer und neurotischer, aber auch brutaler wurden sie in der Verfolgung ihrer Ziele.“ (S. 226) Da ich „Verhätscheln“ und eine „Muttersöhnchenbindung“ nicht als Liebe sehe, sondern als das genaue Gegenteil oder um es klar zu sagen, als emotionalen Missbrauch, verwundert es nicht, dass die Schädigungen dort am meisten auftraten, wo emotional auch am stärksten  missbraucht wurde. Volker Elis Pilgram schrieb in seinem Buch „Muttersöhne“ passend: „Der Mangel an Liebe versteckt sich am allermeisten hinter übertriebener Fürsorge.“ und „Muttersöhne haben eine Phantomseele. Sie sind mit Fleisch und Blut erwachsen da, aber ein seelischer Zusammenhang fehlt ihnen.“ Der Misch aus destruktiven, abwesenden und ablehnenden Vater, anwesender, überfürsorglicher und emotional missbrauchender Mutter, gepaart mit wahrscheinlich (wie oben besprochen) in sicher nicht wenigen Fällen auch körperlicher mütterlicher Gewalt (nachweisbar z.B. bei Stalin) und dem gleichzeitigem mütterlichem Idealisieren des Sohnes, der für Großes vorgesehen ist und all das erreichen soll, was der Mutter verwehrt bleibt, macht meiner Meinung nach den potentiellen Diktator aus. 

Benos kritisiert  im Schlussteil unter der Überschrift „Diktatorenprophylaxe“ dagegen sogar die Auffassung von dem Psychoanalytiker Hans Strotzka, der auf „vernünftige“ Erziehung setzt, „mithin auf die Vermeidung der Diktatorenerzeugung durch eine Erziehung, die Wärme und Vertrauen vermittelt und Fehlentwicklungen vorbeugt.“ (S. 266) Und er hängt an: “Eine Utopie, denn die meisten Kinder werden trotz dieser Aufforderung der Psychologen und Pädagogen weiterhin nicht auf „vernünftige“ Weise erzogen.“ Damit ist das Thema für ihn beendet und er macht es sich hier sehr einfach.

Kurzum, das Buch an sich bestätigt systematisch, wie wichtig Kindheitserfahrungen bzgl. destruktiver politischer Entwicklungen waren und sind, dabei blendet der Autor mütterliche Destruktivität komplett aus und sieht keine Möglichkeiten, die Kindererziehung gezielt zu verbessern. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, dass Menschen, die auf dem psychologischen Gebiet tätig sind, trotz aller vorliegenden Erkenntnisse an den Dingen vorbeischreiben können. Aber, man gewöhnt sich fast schon daran... Letztlich ist das Buch trotz allem eine nützliche Arbeitsgrundlage für mich und diesen Blog.

Montag, 20. Dezember 2010

Klara Hitler - Mutter eines Massenmörders. Ein Hörbeitrag

Hinweis: Mutter eines Massenmörders, ein Radiobeitrag von NDR-Info "Frauenforum" (19.12.2010).

Interessante Details über Hitlers Kindheit und Mutter sind in diesem Beitrag zu hören. Ich will den Beitrag nicht komplett kommentieren. Eine Stelle fiel mir allerdings besonders auf. „Ich weiß nicht, wo sie diese Wut gelassen hat“, sagt eine Forscherin im Beitrag, nachdem das Leid von Klara Hitler in ihrer Ehe geschildert wurde. Vorher sagt sie noch, dass Klara ihre Kinder, nach allem was man weiß, gut behandelt habe. Wo blieb die Wut?
Hitlers Mutter hat nach den Beiträgen von Alice Miller und Arno Gruen ihre Wut und ihren Hass in verdeckter Form an ihren Kindern ausgelassen (Stichwort: emotionaler Missbrauch). Niemand sonst stand als Blitzableiter zur Verfügung. Leider wird dies in den Besprechungen von Hitlers Kindheit und Familie immer wieder übersehen.

Freitag, 12. Februar 2016

Krieg als ein selbstmörderischer Akt

Ich habe in diesem Blog ansatzweise schon hier und da über die selbstzerstörrerische Seite von Kriegen geschrieben, aber diesem Thema bisher noch keinen eigenen Beitrag gewidmet. Das möchte ich hiermit ändern.

Für viele junge kurdische Kämpferinnen sei Arin Mirkan ein Vorbild, sagt Sprecher Ashwin Ramander in der erschütternden ARD-Dokumention „Im Nebel des Krieges“ vom 01.02.2016.
(Die junge Frau und Mutter von zwei Kindern hatte sich 2014 in die Luft gesprengt und mehrere IS-Kämpfer mit in den Tod gerissen. Siehe z.B. einen Bericht von SPIEGEL Online)
Eine junge Kämpferin sagt in der Doku ab ca. Minute 41:30: „Arin Mirkan ist eine Heldin. Auch ich bin bereit mein Leben für unser Land zu opfern. Wir warten alle darauf. Wir haben keine Angst.“. (Hinweis: Hervorhebung durch mich) Und der Sprecher fügt an:„Den Wunsch zu sterben, für die Heimat, für die Freiheit, wie oft habe ich ihn schon auf dieser Reise gehört.“
Der Kriegsreporter Ashwin Raman hat im Sommer 2015 verschiedene Fronten im Nahen Osten aufgesucht und blickt mit diesem Satz zurück auf ein Kapitel des Krieges, das in der Forschung – außerhalb der Psychohistorie – weitgehend ausgeblendet wird: Den selbstzerstörerischen Aspekt oder geradezu die Suizidalität des Krieges.

Kaum ein Forschender fragt sich, ob nicht die furchtbaren Folgen des Krieges die eigentlichen Ziele sind. Man geht davon aus, es gehe vor allem um Gewinn, um einen Sieg, um ein Sich-Durchsetzen, um rationale Entscheidungen. 

Ergänzend möchte ich erneut auf einen Artikel in der ZEIT hinweisen. (03.12.2015, „Aus Sicht der Täter“ 03.12.2015).  Zwei ehemalige IS-Kämpfer kamen in dem Artikel direkt zu Wort. Einer sagte wörtlich: „Der IS ist ein gottloser Geheimdienststaat unter dem Deckmantel der Religion. Die Ideologen haben uns unseren Krieg gestohlen. Sie sind radikal. Sie kommen, um zu sterben. Sie wollen nicht siegen, sie wollen zu Gott.“ Forschende sollten genau solchen und ähnlichen Aussagen einmal systematisch nachgehen.

Eine der für mich eindrucksvollsten Thesen von Lloyd deMause ist genau die, das Kriege eine Art  Opferritual oder ein Akt von Selbstmord darstellen (neben den mörderischen Aspekten, die natürlich auch gelten.). DeMause hat in einem Kurzbeitrag auf youtube die Dinge auf den Punkt gebracht. Der Beitrag steht seit Ende 2007 online und ist bisher gerade einmal 6.350 mal angeklickt worden. Dabei ist sein Inhalt brisant. Er nennt das Beispiel Hitler-Deutschland. Glaubt ernsthaft jemand, Hitler habe den größten und mächtigsten Länder der Welt den Krieg erklärt, um etwas zu bekommen?, fragt deMause. Seine Antwort: Nein, er war suizidal, ebenfalls war Deutschland zu der Zeit suizidal.
Das Offensichtliche scheint hier die Antwort zu sein. Das kleine Deutschland hätte niemals die Welt beherrschen können. Ebenfalls wird der IS in absehbarer Zeit in sich zusammenfallen. Übrig bleibt Leid und Zerstörung, die eigentlichen Ziele von Kriegen.

Samstag, 11. Juni 2011

Gruppenfantasien: Nach dem Feind im Essen jetzt "Bruder Todfeind".

Fast drei Wochen lang verfielen große Teile der Nation in panische Angst vor „dem Feind im Essen“ (siehe die beiden letzten Beiträge von mir).

Die psychohistorische Forschung weist immer wieder auf (wörtliche und echte) Bilder in den Medien hin, die Rückschlüsse auf aktuelle Gruppenfantasien zulassen.
Im letzten Beitrag hatte ich bereits meine Auffassung darüber dargelegt, dass Deutschland aktuell auf der Suche nach einem Feind ist. Lloyd deMause hat in seinen Arbeiten darauf hingewiesen, dass die Feindessuche (aber auch Kriege) vor allem auch in Zeiten wirtschaftlichen Wachstums beginnt. Derzeit befinden wir uns in so einer ökonomischen Wachstumsphase. Nach deMause drohen in Zeiten von Wachstum und Wohlstand furchteinflößende (psychisch abgespaltene) Erinnerungen aus der Kindheit zurück ins Bewusstsein zu drängen. Diese Erinnerungen müssen abgewehrt werden. Z.B. durch Selbstzerstörung (auch ökonomischer Art) oder durch äußere Feinde.

Der SPIEGEL hat nach seinem letzten Titelthema „Der Feind im Essen“ mit der jetzt neuen Ausgabe noch mal in eine sehr interessante Richtung nachgelegt. „Bruder Todfeind“ lautet der Titel, womit gleich in zwei Ausgaben hintereinander das Wort „Feind“ groß im Titel zu lesen ist. Zu sehen sind die „Brüder“ Hitler und Stalin, beide Körper überlappen sich im Bild (gehören also irgendwie zusammen), allerdings stehen sie quasi Rücken an Rücken (ineinander), die Köpfe schauen jeweils in die entgegengesetzte Richtung. Solche und ähnliche Bilder gibt es immer wieder auch von einzelnen Führungspersonen, siehe z.B. ein Bild von Präsident Bush: Diese Bilder wie auch das aktuelle SPIGEL Titelbild geben Hinweise darauf, dass emotionale Prozesse in Gange sind, die etwas mit dem psychischen Phänomen der Abspaltung zu tun haben. Dass solche Bilder ihren Weg in die großen Medien finden, verwundert insofern nicht, wenn man darum weiß, dass NICHT geschlagene und vernachlässigte Kinder auch in Deutschland nicht die Regeln, sondern die Ausnahme sind. Insofern mussten die meisten heutigen Erwachsenen in ihrer Kindheit mal mehr mal weniger schwere Gewalterfahrungen und entsprechende Gefühle abspalten. Diese abgespaltenen Teile der Einzelnen können sich in bestimmten gesellschaftlichen Phasen zu einer Gruppenfantasie zusammenfinden und ihren Ausdruck auf der gesellschaftlichen Bühne finden.
Der Titel "Bruder Todfeind" hat zudem etwas mit Hassliebe zu tun. Gefühle von Hassliebe sind typisch für misshandelte Kinder, die ihre Eltern natürlich lieben wollen und auf eine Art auch lieben müssen, um psychisch zu überleben und auf der anderen Seite ihre Eltern abgrundtief für das hassen, was sie ihnen an Gewalt und Entbehrungen antun, diesen Hass aber nicht zeigen dürfen.

Ich bin davon überzeugt, dass wir aktuell eine starke Phase vorfinden, was solche Gruppenfantasien angeht. Auch in anderen Kontexten als EHEC sind die deutschen Medien seit einiger Zeit merkbar mit Angst- und Kriegswörtern überhäuft. Da Deutschland auf Grund seiner Entwicklung allerding eher unwahrscheinlich einen äußeren Feind finden und bekämpfen wird, ist mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass sich der unterdrückte Hass und die Angst wieder nach innen richten wird. Denkbar wäre z.B. ein Promineter oder ein Politiker, den man öffentlich fertig machen und opfern kann. Auch bestimmte Gruppen wie Ausländer oder sozial Schwache könnten potentielle Opfer sein. Dazu kommen Möglichkeiten, die ökonomische Entwicklung zu stoppen und ökonomische "Opfer" zu bringen. Entsprechend werde ich die Entwicklungen der nächsten Wochen und Monate aufmerksam verfolgen.

Übrigens: Wenn man auch darum weiß, dass die Kindheiten der beiden "Brüder" Stalin und Hitler erhebliche Parallelen aufweisen, ist der aktuelle SPIEGEL Titel auf eine Art in der Tiefe noch mal aufschlussreicher.

Freitag, 25. September 2020

Kindheitsursprünge von Rechtsextremismus: DIE gesammelten Studien.

(aktualisiert am 19.06.2023, Hinweise zu neuen Aktualisierungen jeweils im Kommentarbereich)


Bisher habe ich 39 Studien und Einzelarbeiten (Befragungen oder Fallbeispiele aus der psychotherapeutischen Praxis) gefunden, innerhalb derer Kindheiten von rechten Gewalttätern bzw. Rechtsextremisten besprochen wurden. Diese Studien stelle ich unten vor. 

Viele dieser Studien habe ich hier im Blog bereits ausführlicher besprochen (siehe entsprechend die Links unten). Dass sich nicht immer in 100 % der untersuchten Fälle destruktive Kindheiten nachweisen lassen, ist logisch und dazu habe ich auch bereits hier und hier deutliche Anmerkungen gemacht. Allerdings lässt sich zusammenfassend eindeutig sagen: Generell zeigt sich, dass rechte Gewalttäter bzw. Rechtsextremisten i.d.R. eine sehr destruktive Kindheit hatten!

Das Bild, das diese 39 Studien aufzeigen, wird noch durch kriminologische Befragungen mit hohen Fallzahlen ergänzt (z.B. "Einflussfaktoren extremistischer Einstellungen unter Jugendlichen in der Schweiz" oder "Einflussfaktoren des politischen Extremismus im Jugendalter — Rechtsextremismus, Linksextremismus und islamischer Extremismus im Vergleich"). Sie zeigen signifikante Zusammenhänge zwischen Gewalterleben (Körperstrafen) in der Kindheit (und auch fehlender elterlicher Zuwendung) und rechtsextremistischen Einstellungen. Es gibt auch andere interessante Ansätze. In den USA (Quest for Significance and Violent Extremism: The Case of Domestic Radicalization. Political Psychology 38(5)) wurden 1496 Akteure (90% männlich), die ideologisch bedingte Straftaten (rechtes, linkes + islamistisches Spektrum) begangen hatten, an Hand öffentlich zugänglicher Daten/Berichte untersucht (keine direkten Befragungen). 62 % der untersuchten Akteure hatten Gewalt ausgeübt. 35 % aller Akteure wurden als Kind misshandelt, 48 % erlitten ein Trauma (nicht nur auf Kindheit bezogen), 29 % hatten stark extremistische Familienmitglieder. Dafür, dass keine direkten Befragungen stattfanden, sind die Ergebnisse bezogen auf Belastungen recht eindrucksvoll. Auch hier wird deutlich, dass traumatische Erfahrungen und belastende Kindheitserfahrungen bedeutsam bei der Genese von Extremismus sind. 
Es gibt auch etwas ältere Forschungsansätze (immer noch aktuell!), die in eine ähnliche Richtung zeigen. So fand eine Forschungsgruppe bei einer Befragung von 695 Jugendlichen heraus, dass negatives Erziehungsverhalten einen direkten Effekt auf Level und Anstieg von fremdenfeindlichen Einstellungen hat (Hefler, G., Boehnke, K.& Butz, P. (1999): Zur Bedeutung der Familie für die Genese von Fremdenfeindlichkeit bei Jugendlichen: Eine Längsschnittanalyse. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation (19). S. 72–87). 
Eine große Studie im Auftrag des Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen fand, dass rechtsextrem eingestellte Jugendliche im Vergleich zur allgemeinen Altersgruppe häufiger geschlagen, strenger erzogen und weniger von den Eltern unterstützt wurden. Die rechtsextrem eingestellten Jugendlichen bekamen auch weniger elterliche Aufmerksamkeit und fühlten sich in der Kindheit einsamer als ihre Altersgenossen. Die gleichen Ergebnisse zeigt auch die große Vorgängerstudie ebenfalls aus Nordrhein-Westfalen. 

Zu diesem Gesamtbild gehören ergänzend auch die vielen „Einzelfälle“, die ich hier im Blog oder in meinem Buch besprochen habe: Diverse NS-Täter (inkl. Adolf Hitler + weitere wichtige Anmerkungen über seine Kindheit hier und hier) sowie Rechtsterroristen wie Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt, Anders Breivik und Stephan Ernst (siehe diese und diverse weitere Fälle aus dem rechtsextremen Spektrum + diverse NS-Täter im Inhaltsverzeichnis). Was sowohl bei den detaillierten Einzelfällen als auch in so machen Studien mit vielen Befragten auffällt sind oftmals Mehrfachbelastungen (!), also z.B. eine autoritäre Erziehung und der Tod eines Elternteils (wie es z.B. bei Adolf Eichmann war). Andere erlebten eine autoritäre Erziehung und ergänzend Mobbingerfahrungen oder wurden Zeuge von häuslicher Gewalt oder hatten suchtkranke Familienmitglieder usw. Bei manchen Tätern kommen gar so viele Belastungen zusammen, dass man sich fragt, wie diese Menschen ihre Kindheit überhaupt überlebt haben (Paradebeispiel dafür ist Adolf Hitler).

Die empirische Datenlage ist geradezu überwältigend! Trotz dieser vielen Einzelarbeiten ist mir bis heute keine Arbeit bekannt, die all diese hier genannten Studien (und ergänzend auch Einzelfälle) zusammengebracht hat. Dieser Beitrag dürfte somit der bisher umfassendste im deutschsprachigen Raum sein, wenn es um die Kindheitsursprünge (und somit um die tieferen Ursachen an sich) von Rechtsextremismus geht.
Diese Feststellungen mache ich mit einem "lachenden" und "weinenden" Auge. „Lachend“ deshalb, weil es mich nach all der Recherchearbeit und Mühen schon ein wenig stolz macht, dass ich als unabhängiger, "nebenberuflicher" Gewaltforscher diese Dinge zusammenführen konnte. „Weinend“ deshalb, weil es mich immer wieder erstaunt und auch ärgert, dass die akademisch eingebundene Fachwelt sowie auch die Medien das Thema „Kindheit und Extremismus“ (und weitergedacht also auch das Thema „Kindheit und NS-Zeit“) einfach viel zu selten zentral in den Blick nehmen. In jede größere Debatte (und auch in entsprechende Fachbuchreihen) über Ursachen und Prävention von Rechtsextremismus gehört das Thema „destruktive Kindheitserfahrungen“ deutlich und zentral auf den Tisch. 

Ich wünsche mir, dass diese meine Arbeit einen Beitrag dazu leisten kann, dass Scheuklappen abgelegt werden und dass die Opfererfahrungen der Täter mehr in den Blick genommen werden. Und ich wünsche mir, dass in der Folge größere Bemühungen für weltweit mehr Kinderschutz unternommen werden: Kinderschutz ist mehr als nur die Verhinderung von individuellem Leid. Kinderschutz ist immer auch Gewalt- und Extremismusprävention (und in der Folge auch Kriegsprävention)!

Meine Grundthesen sind und bleiben: Wer eine wirklich gute Kindheit hatte, wer gewaltfrei aufwachsen durfte und wer mindestens ein Elternteil hatte, von dem er/sie wirklich geliebt wurde, der wird kein Rechtsextremist oder gar Massenmörder. Die gezeigten Studien untermauern meine Thesen einmal mehr. Diese Erkenntnisse bedeuten umgekehrt nicht, dass misshandelte, gedemütigte und traumatisierte Kinder automatisch zu Extremisten werden. Dies wäre empirisch auch gar nicht haltbar. Belastende Kindheitserfahrungen bilden nur das Fundament für Extremismus und Gewaltverhalten. Aber nicht vergessen: Die Kindheit ist politisch!


Hier nun die gesammelten Studien (verlinkte hier im Blog bereits besprochen): 

(Vorweg ein Hinweis für meine Auswahlkriterien und Herangehensweise: Für mich zählte, dass mit den Akteuren gesprochen wurde, was in allen Arbeiten der Fall war. In manchen Arbeiten wurden sehr komplex oder strukturiert die Kindheitshintergründe erfasst; in anderen wurden die Gespräche mit rechten Akteuren zu generellen Aussagen über die Kindheitshintergründe zusammengefasst; wieder andere haben nur Teilaspekte aus der Kindheit aufgeführt. Sofern nur Teilaspekte aufgeführt wurden, war für mich wichtig, dass die Ergebnisse in eine deutliche Richtung bzgl. der Kindheit zeigten und dadurch aussagekräftig waren.)

Aigner (2013): 3 (ehemalige) rechte Skinheads (männlich)

Bannenberg & Rössner (2000): 17 junge, rechtsextreme oder rechts-denkende Gewalttäter in Ostdeutschland

Baron (1997): 14 männliche, gewalttätige Skinheads (uneinheitliches Profil bzgl. politischer Einstellungen, sechs Befragte waren extreme Rassisten) aus Kanada

Bielicki (1993): 1 rechtsextremer junger Mann (aus der psychoanalytischen Praxis)

Bjørgo (2005): 16 jugendliche Mitglieder (mehrheitlich männlich) in Neonazi-Gruppen; 4 ehemalige jugendliche Neonazis (Norwegen)

Böttger (1998): 10 junge Rechtsextremisten (9 männlich, 1 weiblich)

Bohnsack (1995): 3 junge, männliche Hooligans, die vorher Teil der rechten Skinheadszene waren (insgesamt wurden 4 Hooligans befragt)

Ezekiel (1996): zentral: 9 Mitglieder einer Neonazigruppe in Detroit; weniger zentral: 3 Nazi-Führungspersönlichkeiten in den USA

Fachstelle für Rassismusbekämpfung (2007): Insgesamt 26 Schweizer rechtsextreme Jugendliche (6 junge Frauen, 20 junge Männer)

Fahrig (2020): sechs rechte, männliche Jugendliche

Frindte & Neumann (2002):  91 verurteilte rechte Gewalttäter. 

Funke (2001): 3 männliche deutsche Rechtsextremisten 

Hardtmann (2007): 5 männliche, jugendliche Rechtsextremisten

Heitmeyer & Müller (1995): 45 verurteilte, gewalttätige Jugendliche und junge Erwachsene, die von der Justiz als vermutlich oder tatsächlich fremdenfeindlich bzw. rechtsextremistisch eingestuft worden sind

Hopf et al. (1995): 6 als deutlich rechtsextrem eingestufte männliche Jugendliche (von insgesamt 25 Befragten)

Kahl-Popp (1994): 1 rechtsextremer Jugendlicher in psychoanalytischer Behandlung

Köttig (2004) (in meinem Buch besprochen): 32 weibliche Rechtsextremisten 

Krall (2007): 3 rechtsextreme Jugendliche (2 männlich, 1 weiblich), die in betreuten Wohneinrichtungen lebten. 

Leuzinger-Bohleber, M. (2016): 1 Fallbeispiel (männlich) einer rechten Radikalisierung aus der psychoanalytischen Praxis 

Logan et al. (2022): 10 ehemalige Rechtsextremisten und 10 ehemalige Linksextremisten aus den USA

Lützinger (2010): 39 männliche Extremisten (24 rechts, 9 links und 6 islamistisch)

Marneros et al. (2003): 61 männliche, rechtsextreme Gewalttäter, die angeklagt wurden

Mattsson & Johansson (2022): 27 (davon fünf weiblich) ehemalige oder aktive Neo-Nazis/Skinheads aus Schweden und den USA 

Michel & Schiebel (1989): 3 männliche, rechtsextreme Jugendliche

Nölke (1998): 2 rechte Jugendliche

Schmidt (1996): 1 rechtsextremer, gewaltbereiter Jugendlicher mit schwerer Persönlichkeitsstörung, der psychotherapeutisch behandelt wurde

Scrivens et al. (2019): 10 ehemalige Rechtsextremisten (8 männlich, 2 weiblich) aus Kanada 

Sigl (2013): 3 ehemalige, weibliche Rechtsextremisten

Sigl (2018): 7 ehemalige Rechtsextremisten (5 männlich, 2 weiblich)

Simi et al. (2016):  44 (38 männlich, 6 weiblich) ehemalige Mitglieder rechtsextremistischer Gruppen in den USA

Smith & Sullivan (2022): 1 ehemaliges Mitglied (männlich) einer gewalttätigen Neo-Nazi Gruppe (USA); ausführliche Fallstudie

Speckhard & Ellenberg (2021): 32 (2 weiblich) aktive oder ehemalige Extremisten/Rassisten (die meisten aus den USA, 3 aus Kanada, 3 Deutsche, 1 Brite und 1 Neuseeländer) 

Stern (2014): Ein schwedischer Neo-Nazi und Mörder (Fallstudie). 

Streeck-Fischer (1992): ca. 5 rechte Skinheads (psychoanalytische Arbeit)

Streeck-Fischer (1999): 1 rechter, männlicher Skinhead (aus der stationären, psychiatrischen Behandlung)

Sutterlüty (2003): 3 männliche, gewalttätige Rechtsextremisten

Wahl et al. (2003) (in meinem Buch besprochen): 115 verurteilte, rechte Gewalttäter

Windisch et al. (2020): 91 (70 männlich, 21 weiblich) ehemaligen U.S. Extremisten/Rassisten (aus den Gruppierungen Ku Klux Klan, Christian Identity, neo-Nazi, racist skinheads

Wirth (1989): 6 rechte Skinheads (psychoanalytische Arbeit; nur ein Fall exemplarisch dargestellt)


(Siehe ergänzend auch meinen Beitrag: "Verklärt, beschönigt, verdrängt: Kindheiten von Gewalttätern und Extremisten. Eine Mahnung an die Forschung")



Detaillierte Quellen:

Aigner, J. C. (2013): Der ferne Vater. Zur Psychoanalyse von Vatererfahrung, männlicher Entwicklung und negativem Ödipuskomplex. Psychosozial-Verlag, Gießen. (3. Aufl.)

Bannenberg, B. & Rössner, D. (2000): Hallenser Gewaltstudie - Die Innenwelt der Gewalttäter: Lebensgeschichten ostdeutscher jugendlicher Gewalttäter. DVJJ-Journal: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 11 (2000) 2, S. 121-134.

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Montag, 27. Oktober 2008

3.3 Stalin: Ein Diktator, der einst als Kind „zu Stahl geschlagen wurde“

Der Biograph und Historiker Alan Bullock (1993) gibt ein - wenn auch kurzes - Bild davon, was Stalin (echter Name: Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili) als Kind und Jugendlicher an Leid erfuhr. Auch Stalin hatte eine ähnliche Ausgangssituation wie Hitler: Er war das erste überlebende Kind nach zwei Fehlgeburten. Stalins Vater war laut Bullock „ein raubeiniger, gewalttätiger Mann, ein Trinker, der Frau und Kind schlug und kaum den Lebensunterhalt verdiente.“ (Bullock, 1993:, S. 15). Stalins Jugendfreund Iremaschwilli schrieb in seinen Memoiren: „Die ungerechten und schweren Prügel, die er als Knabe bezog, machten ihn so hart und herzlos, wie sein Vater es war. Da er überzeugt war, dass jeder, dem irgend jemand Gehorsam schuldete, seinem Vater gleichen müsse, entwickelte er bald eine tiefe Abneigung gegenüber allen, die ihm übergeordnet waren. Von klein auf wurde die Verwirklichung seiner Rachegelüste zu dem Lebensziel, dem er alles unterordnete.“ (zitiert nach ebd., S. 15)
Auch Neumayr (1995) beschreibt die väterliche Gewalt. Stalins Vater hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, dem kleinen Jossif seinen Eigensinn durch tägliche Prügel, jeweils vor dem Schlafengehen verabreicht, auszutreiben. Ebenso wurde Stalins Mutter häufig Opfer brutaler Prügel durch ihren Mann (vgl. Neumayr, 1995, S. 261) und der junge Josef sicherlich stummer und hilfloser Zeuge dieser Übergriffe.
1890 zerbrach schließlich die Ehe der Eltern. Stalin muss zu diesem Zeitpunkt 11 oder 12 Jahre alt gewesen sein. In diesem Jahr sah der junge Josef seinen Vater zum letzten Mal. Der Vater wurde später zum Landstreicher und verstarb 1909 an Leberzirrhose. (vgl. Kellmann, 2005, S. 9)
Bullock schreibt weiter, dass der junge Stalin durch die „liebevolle Zuneigung“ und „Förderung“ seiner Mutter einen Ausgleich zu den väterlichen Misshandlungen gefunden hätte. Dies würde - trotz der kaum vorstellbaren Verbrechen, die Stalin später begangen hat - der Miller-These vom fehlenden „Helfenden Zeugen“ widersprechen. Bullock selbst bietet Hinweise, die eine andere Sprache sprechen. Stalins Mutter hatte eigene, egoistisch Pläne mit ihrem Sohn. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass ihr Sohn Priester werden solle und setzte sich ihm gegenüber – auch entgegen den Vorstellungen des Vaters - eine ganze Zeit durch. Stalin absolvierte letztlich einige Jahre eine Ausbildung zum Priester. Wie einfühlsam und liebevoll ist eine Mutter, die ihren Sohn in einen Beruf zwingt, ohne auf seine Interessen, Bedürfnisse und Wünsche zu hören (und welche Gefühle musste Stalin gegen sie hegen, da er während seiner ungewollten Priesterausbildung erhebliche Verletzungen erlitt - siehe weiter unten)? Aus Bullocks weiteren Schilderungen lässt sich auch schließen, dass Stalin von seiner Mutter stark idealisiert wurde – ähnlich wie bei Hitler – und sie ihm vermittelte, dass er das Zeug für „Großes“ und „Bedeutendes“ hätte. Was für ein realistisches, authentisches Bild von ihrem Kind hat eine Mutter, die selbiges abgöttisch idealisiert? Hirsch (1994) spricht von emotionalem Missbrauch, wenn Eltern ihre Bedürfnisse in den Vordergrund stellen indem sie z.B. das Kind als Substitut des idealen Selbst sehen bzw. dem Kind auferlegen, all die unerfüllten Wünsche und Ideale der Eltern zu verwirklichen. (vgl. Hirsch, 1994: 52ff)

Diese Idealisierung und die Misshandlungen seitens Stalins Vater beschreibt Bullock als prägende Einflüsse, die sich entscheidend auf die Entwicklung von Stalins Persönlichkeit auswirkten. (vgl. Bullock, 1993, S. 17)
Den wesentlichsten Hinweis auf eine gestörte Beziehung zur Mutter bringt Bullock, als er berichtet, dass Stalin nach seiner Revolutionärslaufbahn seine Mutter nur noch wenige Male sah und 1936 nicht einmal zu ihrem Begräbnis erschien. Wie passt dieses Verhalten mit Bullocks Beschreibung einer „liebevollen Mutterbeziehung“ in Stalins Kindheit zusammen? Welche Gefühle musste Stalin gegenüber einer Mutter gehegt haben, die ohnmächtig die Prügel des Vaters duldete (laut Bullock wurde Stalin öfter in Anwesenheit der Mutter verprügelt)?

In einer aktuelleren Biographie über den „jungen Stalin“ weist Montefiore (2007) dagegen deutlich nach, dass Stalin nicht nur von seinem Vater, sondern auch von seiner Mutter häufig misshandelt wurde. (vgl. Montefiore, 2007, S. 66) Als Stalin seine Mutter später mit dieser Gewalt konfrontierte, soll sie nur gesagt haben, dass es ihm ja nicht geschadet hätte.
Auch deMause weist nach, dass Stalin von seiner Mutter geschlagen wurde (und Stalin wiederum seine eigenen Kinder schlug). (vgl. deMause, 2000b, S. 460) Kellmann schreibt einleitend in Stalins Biographie: „Nicht nur der Vater, auch die Mutter schlug ihn. Körperliche Misshandlungen, Jähzorn und Gewalt müssen zu den ersten Wahrnehmungen im Leben jenes Menschen gehört haben, der sich später Stalin nannte.“ (Kellmann, 2005, S. 9) Aber auch ohne diese Informationen hätte Bullock einiges ableiten können, wie oben dargestellt.

Als Biograph eines Diktators ist er (wie auch andere Biographen von Diktatoren) letztlich auch eine Art Gewaltforscher. Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, dass auch Gewaltforscher „blinde Flecken“ haben können und z.T. dazu neigen, traditionelle Mythen und Geschlechtsrollenvorstellungen (gewalttätiger Mann, friedfertige Frau) zu übernehmen. Ich vermute auch, dass während entsprechender Recherchen die Gefahr groß ist, auf die Vernebelungen und Scheinfassaden destruktiver Elternteile einerseits und die (überlebenswichtigen) Idealisierungen der Eltern durch das misshandelte Kind andererseits hereinzufallen. Destruktive Eltern halten bekanntlich vor sich und vor anderen das Bild aufrecht, sie seien die allerbesten und liebevollsten Eltern und alles, was sie tun, würde zum Wohle des Kindes geschehen (selbst wenn dies Gewalt gegen des Kind bedeutet). Entsprechend könnte dies den genauen Blick des Forschers trüben. Eine zusätzliche Frage ist auch, ob nicht manchmal evtl. eigene destruktive Kindheitserfahrungen der Gewaltforscher selbst einige „blinde Flecken“ ausmachen könnten. Zumindest finde ich es naheliegend, dass sich gerade auch Menschen mit eigenen Gewalterfahrungen an die Gewaltforschung machen. Zusätzlich möchte ich an diese „Forschungskritik“ anknüpfen, dass gerade die Kindesvernachlässigung und psychische Gewalt schwerer zu bestimmen und von Außen zu erkennen ist und von Forschern entsprechend (trotz schwerer Folgen für die Kinder) oftmals erst gar nicht in den engeren Blick kommt.

Um zurück zu Stalin zu kommen: Auch Stalins weiteres Leben als junger Mann in einem Priesterseminar war geprägt von Unterwerfungsritualen gegenüber Autoritäten, von Demütigungen durch die Mönche (z.B. ständiges Ausspionieren, Verfolgen, Anschwärzen und Durchsuchen seiner Privatsachen), von Ohnmacht und Gewalt. Fünf Jahre verbrachte er dort bis kurz vor seinem 20. Geburtstag und Bullock kommentiert diese Zeit u.a. mit dem Wort „Überlebenstraining“. (vgl. Bullock, 1993, S. 29) Stalin bedeutet nebenbei bemerkt übersetzt „Mann aus Stahl“. Welch tiefe Angst vor Hilflosigkeit, schmerzlichen Gefühlen und Ohmacht musste „Stalin“ empfunden haben, um sich so stahlhart und mächtig nach Außen zu präsentieren? Wie wenig Mitgefühl mit sich und somit auch mit anderen Menschen muss ein Mensch wie Stalin gehabt haben? Hier wird deutlich, wie Ohnmachterfahrungen in jungen Jahren das Leben eines Menschen entscheidend prägen können.

Am Rande erwähnen möchte ich noch, dass Josef auf Grund vieler Narben im Gesicht als Folge der Pockenkrankheit als „der Pockennarbige“ verspottet wurde. Und in der Pfarrschule von Gori – in die er erst mit 10 Jahren eintrat, vorher war er eher ein Straßenjunge – „sah sich der schäbig gekleidete Junge (…) den Hänseleien der wohlhabenden Weinhändler- und Bauernsöhne ausgesetzt.“ (Kellmann, 2005, S. 10) Als Kind befiel ihn zudem eine Kinderkrankheit nach der anderen und mehrfach verunglückte er auf der Straße. „Er wurde von Karren überfahren, brach sich die Beine und holte sich eine Blutvergiftung durch offene Wunden, die den linken Arm derartig lähmte, dass der spätere Oberbefehlshaber der Roten Armee auf Dauer wehrdienstuntauglich blieb.“ (ebd.) Ob die vielen Krankheiten und Unfälle bereits etwas mit (unbewusster) Selbstzerstörung als Folge der elterlichen Misshandlungen zu tun hatten, sei dahin gestellt. Weitere Niederlagen waren diese Erfahrungen und die Hänseleien durch andere Kinder alle mal.

Montefiore (2007) kennzeichnet Stalin übrigens mit Blick auf seine jungen Jahre als Kriminellen, der weder vor Bankraub, Schutzgelderpressung und Entführung noch Mord zurückschreckte. Van der Kolk. & Streeck-Fischer (2002) berichten aus einer Studie, dass 82 % der untersuchten Straffälligen als Kind misshandelt wurden (vgl. Kolk. / Streeck-Fischer, 2002, S. 1022ff) und Garbarino & Bradshaw (2002) stellen bzgl. Häufigkeitsstudien fest, dass 72 % bis 93% aller jugendlichen Straftäter körperliche Gewalt in der einen oder anderen Form erlebt haben. (vgl. Garbarino / Bradshaw, 2002 S. 911) Studien über jugendliche Mörder ergaben, dass 90 % nachweislich aus Familien mit gravierender emotionaler, physischer oder sexueller Missbrauchsvergangenheit stammen. (vgl. deMause, 2005, S.113)
Im „Handwörterbuch der Kriminalität“ heißt es: „Die Erfahrung schwerer Gewalttätigkeit im Elternhaus steht in enger Beziehung zu dem Auftreten von sozialabweichendem Verhalten und Kriminalität im Kinds-, Jugend- und Erwachsenenalter.“ (Schneider, 1998, S. 338)
Einen Zusammenhang zwischen selbst erlittener und später selbst ausgeübter Gewalt bzgl. Straftätern zu untersuchen und festzustellen, fällt der Forschung nicht all zu schwer. Solche Ergebnisse dürften auch in der Gesellschaft relativ wenig Aufsehen und Gegenkritik bewirken. Systematische Untersuchungen bzgl. Diktatoren und destruktiven politischen Entscheidungsträgern und Versuche, dergleichen Zusammenhänge auf diese zu übertragen, scheinen dagegen allem Anschein nach bisher in der (Gewalt-)Forschung eher wenig von Interesse zu sein. Mein persönlicher Eindruck ist auch, dass dort, wo vereinzelt auf solche Zusammenhänge hingewiesen wird, im Allgemeinen mit starker Kritik und Verleugnung reagiert wird. Dass ein einfacher Krimineller evtl. auf Grund seiner (Kindheits-)Geschichte so wurde, leuchtet vielen ein, aber einen Diktator (also einem politischen Kriminellen) mit der selben Schablone zu untersuchen, dass sei Schwachsinn und zu vereinfacht. Ist dem wirklich so?



Über Stalins Verbrechen und die Millionen Opfer seiner Diktatur ist viel geschrieben worden. Eine Information möchte ich noch anbringen: Stalin selbst hat seine Kinder geschlagen, so wie er einst geschlagen wurde (wie bereits oben erwähnt). DER SPIEGEL (vgl. Nr. 24, 11.06.2011, S. 65) schreibt, dass Stalins zweite Frau sich das Leben genommen hat, ein Sohn wurde zum Trinker, der andere wollte sich das Leben nehmen. Als das scheiterte, spottete Stalin "Haha, danebengeschossen!" Die Gefühlskälte und die Destruktivität eines politischen Führers wirft eben immer auch ihre Schatten auf das Private und die Familie. Menschen wie Stalin zerstören alles, was sie zerstören können. Da sie nie einen Hauch von Liebe und Zuwendung erfuhren, kennen sie nur die Rache und den Hass, sie kennen keine Gnade und kein Mitgefühl. Ihre Sprache und ihr Handeln ist vergiftet, so wie ihre Kindheit vergiftet war. Was wir in Menschen wie Stalin sehen, ist das Bild eines Menschen, der aber im Grunde wie eine Maschine ist und handelt und alles menschliche, zärtliche, liebevolle, lebendige und emotionale verloren hat.

Natürlich reicht die Psychopathologie der Regierenden nicht aus, um Kriege zu ermöglichen. In den nachfolgenden Kapiteln gehe ich ausführlich auf die Bedeutung von emotionalen Problemen bei Soldaten und im Volk ein. Ein psychisch kranker „Führer“ sagt letztlich viel über das emotionale Leben der Bevölkerung aus bzw. er verkörpert – mit den Worten von deMause - die kollektiven emotionalen Probleme seines Volkes.



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Mittwoch, 7. Februar 2024

Erstarken der AfD: 2024 ist nicht 1933! Kindheit bleibt politisch.

Armin Laschet hat kürzlich sehr ausführlich und deutlich vor dem Erstarken der AfD gewarnt:

Er sagte u.a.: „Man kann sagen: Naja, so schlimm wird das schon nicht werden. So haben die Leute 1933 auch gedacht“. Hitler habe nach seiner Wahl nur zwei Monate gebraucht, warnt er.

Auf den aktuellen Demos in ganz Deutschland gegen Rechtsextremismus und gegen die AfD hört man routinemäßig: „Nie wieder ist jetzt!

Ich finde dies alles gut und unterstützenswert! Die deutsche Gesellschaft ist aufgewacht und stellt sich gegen den Extremismus auf. 

Ich möchte dazu aber etwas anmerken:

Wenn man wie ich davon ausgeht, dass belastende Kindheitserfahrungen (inkl. autoritärer Erziehung in der Familie und der Schule) zentrale Ursachen dafür sind, dass sich Menschen radikalisieren und in Hass und "Schwarz-Weiß-Denken" abdriften können oder auch – die andere wichtige Seite der politischen Folgen von Kindheit – sich in Ohnmacht ergeben, erstarren, handlungsunfähig werden, ihrer eigenen Wahrnehmung nicht trauen und somit potentiell Machtmenschen das Feld überlassen, dann möchte ich folgende traumainformierte Stellungnahme zur Lage in Deutschland abgeben:

Es gibt aus psychohistorischer, traumainformierter und bzgl. Ausmaß von Gewalt gegen Kinder bzw. bzgl. Daten zum Wohlergehen von Kindern in Deutschland informierter Perspektive zentrale Unterschiede zwischen der psychoemotionalen Gesellschaftslage von 1933 und 2024!

Die deutsche Gesellschaft heute ist nicht nur „bunt“ im Sinne von unzähligen verschiedenen Lebensmodellen, Hautfarben, Migrationshintergründen, sexuellen Orientierungen usw., sondern sie ist vor allem auch psychisch/emotional bunt!

Die Bandbreite zwischen den erlebten Kindheitserfahrungen der heute Erwachsenen liegt zwischen Folter/Albtraum und sehr liebevoll, frei und absolut gewaltfrei Aufgewachsenen, mit allen erdenklichen Graustufen dazwischen. 

1933 gab es da viel mehr Extreme und zwar in Richtung „Folter/Albtraum-Kindheitshintergründen“. Die Graustufen waren weniger und die sehr liebevoll und gewaltfrei Aufgewachsenen (wie z.B. die Geschwister-Scholl) waren eine sehr kleine Minderheit. Entsprechend schwebten im gesellschaftlichen Raum auch massive, kollektive, unterdrückte Rachefantasien und (Selbst-)Hassgefühle herum, der von Hitler (der selbst als Kind unfassbar traumatisiert wurde) eingefangen werden konnten. 

Hinzu kommt das seit den 1980er Jahren in Deutschland sehr stark ausgeweitete Feld an psychologischen und psychotherapeutischen Hilfen für Menschen mit Traumaerfahrungen. Auch dieses Feld ist eine (unterschätzte!) Säule für gesellschaftlichen Frieden. 

In der Psychohistorie sprach Lloyd DeMause von unterschiedlichen "Psychoklassen", je nach Traumagrad der Kindheiten. Diese haben sich massiv verschoben und sind in Deutschland heute ganz andere als 1933. 

Teile (ich betone Teile!!) der noch stark als Kind belasteten und ungeliebten Menschen (die zudem zum Autoritarismus neigen) fühlen sich durch starke Dauerveränderungen und Fortschritte in der Gesellschaft (Minderheitenrechte, technische Veränderungen, höhere Anforderungen bzgl. Flexibilität usw.) getriggert. Der feste Rahmen, der sie innerlich und psychisch stabilisierte, droht in der neuen bunten Welt zu zerbrechen. Die Wunschlösung: Zurück in das Gestern, "wo Mann und Frau noch ihre festen Plätze hatten", wo mehr Homogenität herrschte und mit vorgefertigten, Sicherheit gebenden Lebenswegen. 

Das Aufbäumen der AfD ist in meinen Augen der letzte große Atemzug des Autoritarismus und von  getriggerten Kindheitsbelastungen in der deutschen Gesellschaft (dies wird noch einige Zeit anhalten, aber auf Grund der Veränderungen der „psychischen Landschaft“ mit der Zeit abnehmen). Der Fortschritt von Kindheit ist in Deutschland schon länger im vollen Lauf und nicht mehr rückgängig zu machen. 

Die Mahnungen in Richtung 1933 sind ehrenwert, aber meine Einschätzung ist, dass Deutschland diese Zeit nie wieder wiederholen wird. Die Kindheit ist extrem politisch und das bekommt Deutschland – diesmal im positiven Sinne – zu spüren. 


Montag, 19. März 2012

Berühmte Leute und ihre schrecklichen Eltern

Jörg Zittlau hat 2010 das Buch „Sie meinten's herzlich gut: Berühmte Leute und ihre schrecklichen Eltern.“ herausgebracht. Er beschreibt darin die Kindheiten diverser Persönlichkeiten wie z.B. Michael Jackson, Elizabeth Taylor, Martin Luther, Salvador Dali, aber auch von politischen Größen wie Hitler, Stalin, Friedrich dem Großen und John F. Kennedy. Persönlich sehr interessant fand ich die Schilderungen über die Kindheit von Andre Agassi, der einen ähnlichen Vater (Erfolg, Erfolg, Erfolg von der Wiege an, ansonsten zählte nichts) hatte, wie Steffi Graf, mit der er verheiratet ist. Spannend fand ich auch, dass mein persönlicher Eindruck bestätigt wurde. Elizabeth Taylor z.B. wirkte auf mich stets wie eine Maske, ein falsches Selbst, so man will, unecht, künstlich, unglücklich. Wenn man darum weiß, dass sie eigentlich nie Schauspielerin werden wollte und ihre dominante Mutter ihr alles von Klein auf aufzwang, sie geradezu drillte, Elizabeth gar keine Kindheit hatte, jeder Widerspruch mit Liebensentzug und eisigem Schweigen bestraft wurde (auch über Tage und Wochen) dann wird vieles klarer.

Das Buch ist eher journalistisch angelegt. Was mich persönlich am meisten beeindruckt hat ist die Lockerheit des Autors bei dem Thema. Er beschreibt die Kindheiten seiner Protagonisten als Grundlage für deren späteres Leben und Verhalten, ohne jede Scheuklappe. Stalin, Hitler oder auch Alexander der Große…ja na logisch, deren Kindheiten waren eine Katastrophe, was auch sonst.

Diese Lockerheit im Umgang (die persönliche Befindlichkeiten außen vor lässt) mit dem Thema wünsche ich mir viel mehr für die Zukunft. Solche Bücher zeigen den Weg (auch wenn ich den Titel anders gewählt hätte).

Samstag, 30. Juni 2012

Die Kindheit von JudenretterInnen


Eva Fogelman (1998) hat im Laufe von 10 Jahren zusammen mit einer Forschungsgruppe mehr als 300 Juden-RetterInnen in diversen Ländern befragt und die Ergebnisse in einem Buch vorgestellt: „Wir waren keine Helden“ Lebensretter im Angesicht des Holocaust. Motive, Geschichten, Hintergründe. Deutscher Taschenbuchverlag, München.  Die Erinnerungen der RetterInnen überprüfte sie in Gesprächen mit jüdischen Menschen, die sie gerettet hatten oder an Hand von Archivmaterial.

Die Retter und Retterinnen waren so unterschiedlich, wie Menschen nur sein können. Fogelmann schreibt, dass diese Männer und Frauen so willkürlich zusammengewürfelt erschienen, wie die Fahrgäste in der U-Bahn. (vgl. S. 247) Auch das Geschlecht spielte keine Rolle. „Beide Geschlechter waren für die ausweglose Lage der jüdischen Bevölkerung emotional empfänglich. Beide kamen den Opfern zu Hilfe, weil sie sich in ihrem Gerechtigkeitsgefühl verletzt sahen.“ (S. 242) Allerdings waren Frauen vor allem an der Rettung von Kindern beteiligt, weil sie als Frauen im Umgang mit Kindern weniger auffielen oder als „alleinerziehende Mutter“ ein jüdisches Kind aufnahmen (ein alleinerziehender Vater wäre damals aufgefallen). 

Allerdings hatten alle RetterInnen sehr ausgeprägte humanistische Wertvorstellungen. Die Kindheit übte dabei einen entscheidenden Einfluss auf diese Einstellungen aus. „Motor des Handelns waren die inneren Werte, die die RetterInnen schon frühzeitig in ihrer Kindheit ausgebildet haben. Entsprechende Kindheitserfahrungen und –erinnerungen ziehen sich wie ein Leitmotiv durch die Geschichten der meisten RetterInnen. Nach vielen Gesprächen mit RetterInnen wunderte es mich kaum mehr, wenn folgende prägenden Faktoren in ihrer Kindheit eine Rolle spielten: ein behütetes, liebevolles Elternhaus; ein altruistischer Elternteil oder ein liebes Kindermädchen, das als Vorbild für altruistisches Verhalten diente; Toleranz gegenüber Menschen, die anders sind; eine schwere Krankheit während der Kindheit oder der Verlust einer nahestehenden Person, wodurch die eigene Widerstandskraft auf die Probe gestellt und besondere Hilfe nötig wurde; eine verständnisvolle und fürsorgliche Erziehung zu Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Disziplin, die nicht mit körperlichen Strafen und Liebesentzug operierte.
Selbstverständlich haben nicht alle RetterInnen solche Erfahrungen gemacht, aber die meisten. Auch sind die genannten Faktoren allein kein hinreichender Grund, um ZuschauerInnen zu RetterInnen zu verwandeln. Ebenso wichtig war die Stimmigkeit der Umstände, des Zeitpunktes und der Gelegenheit zur Rettung.
Gleichwohl steht für mich nach meinen Gesprächen mit RetterInnen zweifelsfrei fest, dass ihre Fähigkeit, sich dem Rassismus zu widersetzen und mit den Verfolgten zu sympathisieren, auch durch ihe Kindheitserfahrungen und die Werte, die ihnen in dieser Zeit eingeschärft wurden, bedingt ist
.“ (S. 247 + 248)

Fogelman ergänzt, dass viele RetterInnen sich als Kind nicht nur geliebt, sondern auch beschützt fühlten; dass die Eltern argumentierten, anstatt zu drohen; dass die Eltern sich mit ihren Kindern darüber auseinandersetzten, was unter akzeptablen Verhalten zu verstehen ist und klare Regeln festlegten; dass die Eltern sie in ihren Interessen gefördert hatten und für Begabungen Lob aussprachen. Viele RetterInnen wurden als Kinder nicht nur dazu ermutigt, anderen zu helfen, es wurde von ihnen erwartet.  Bei 89 Prozent der RetterInnen fungierte zudem mindestens ein Elternteil oder eine andere erwachsene Person als altruistisches Rollenvorbild, dass den Lehren auch Taten verlieh. Empathie mit den Juden und deren ausweglosen Situation war ein entscheidender Bestandteil rettenden Verhaltens. Die meisten RetterInnen waren lebensbejahende Menschen, trotz auch häufig eigenen schmerzlichen Erfahrungen, wie z.B.  Trennung von einem Elternteil, Tod eines Familienmitgliedes, eigene schwere Krankheit während der Kindheit. Dabei fällt auf, dass den meisten offensichtlich während dieser schmerzhaften Zeit mindestens eine nahestehende Person mit Trost , Ermutigung und Hilfe zur Seite stand. (vgl. S. 248-263) “RetterInnen waren Menschen, die als Kind eine Bezugsperson hatten – ein Elternteil, ein Großelternteil, ein Kindermädchen, einen Bruder oder eine Schwester – die jedesmal rettend eingriff, wenn die Ereignisse sie zu überwältigen drohten. Diese Erfahrung vergaßen sie nie. Die Verfolgung der jüdischen Menschen durch Hitler gab ihnen Gelegenheit, ihrerseits Hilfe zu leisten.“ (S. 264)

Die Autorin weist auch auf kleinere Studien hin, die zu ähnlichen Ergebnissen kamen. Der Psychoanalytiker David Levy verglich 21 Nazigegner mit passiven Zuschauern und fand dabei heraus, dass die Widerstandskämpfer aus einem weniger rigidem, vergleichsweise liebevolleren Elternhaus stammten und in ihrer Akzeptanz anderen Menschen gegenüber gefördert worden waren. Eine liebevolle Mutter und väterliche Disziplin ohne Strenge hatten großen Einfluss gehabt. Die Psychologin Frances Grossmann deckte in einer Untersuchung über neun Juden-RetterInnen dasselbe Muster in der Kindheit auf. (vgl. S. 249+250)

Als Deutscher und zudem Enkel der Kriegsgeneration ist die Frage nach den Ursachen der NS-Herrschaft etwas, das mich stets beschäftigt hat. Die Studie von Eva Fogelman macht das Bild für mich rund. Das vorliegende Wissen über die Kindheit von Adolf Hitler und die Kindheit der Deutschen um 1900 (siehe z.B. hier und hier), ergänzt um das Wissen der Kindheit der JudenretterInnen oder auch der Geschwister Scholl  lässt nur einen Schluss zu: Die NS-Zeit wäre so nicht möglich gewesen, wenn eine breite Mehrheit als Kind liebevolle und kaum oder keine Gewalterfahrungen gemacht hätte. Und da heute bereits eine Mehrheit der jungen Deutschen ohne Gewalt aufwächst und auch immer liebevoller erzogen zu werden scheint, lässt dies auch den Schluss zu, dass eine solche kollektive Grausamkeit, wie sie im Ersten und auch Zweiten Weltkrieg zu Tage trat,  in diesem Land nicht wieder möglich sein wird. Für mich ist das große „Rätsel“ um die Ursachen der beiden Weltkriege gelöst.
Gewaltfreie Erziehung fördert den aufrechten Gang“ ist ein Satz, den der Kriminologe Christian Pfeiffer oft verwendet, wenn er die Studien über die JudenretterInnen zitiert. Ein schöner und wahrer Satz, der heute immer mehr verstanden wird. 

(Fogelman war übrigens einst Mitarbeiterin von Stanley Milgram, der das berühmte Milgram-Experiment durchgeführt hat. Letzterer wollte dadurch beweisen, wie ganz normale Menschen unter bestimmten Rahmenbedingumngen zu Grausamkeiten fähig sind. Milgram hat meines Wissens nach allerdings versäumt, die ("ganz normalen") Kindheiten seiner Versuchsteilnehmer mit einzubeziehen. Seine Schülerin hat mit ihrer Untersuchung das Milgram-Experiment quasi umgedreht und ist zu klaren Erkenntnissen gekommen.) 


siehe ergänzend auch: Oliner & Oliner: Die Kindheit von JudenretterInnen

Freitag, 8. Februar 2019

Die Kindheit des NS-Generaloberst Alfred Jodl

In meinem Buch habe ich die Kindheiten etlicher NS-Verbrecher (Adolf Hitler, Rudolf Heß, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Martin Bormann, Albert Speer, Julius Streicher, Karl Dönitz, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Josef Mengele, Adolf Eichmann, Alfred Filbert, Amon Göth und Reinhard Heydrich) ausführlich analysiert und Gemeinsamkeiten herausgestellt. Wesentliche Merkmale der von mir untersuchten Kindheiten sind, dass bei allen Akteuren keine Belege für eine gewaltfreie und liebevolle Kindheit gefunden werden konnte, sondern ganz im Gegenteil deutliche Belege oder Indizien vorliegen, die auf eine äußerst destruktive und belastete Kindheit hinweisen (mit oft mehrfachen Belastungsfaktoren).

Die Biografie von Alfred Jodl habe ich erst jetzt durcharbeiten können. Insofern ergänze ich diese Analyse jetzt hier im Blog.

Alfred Jodl war einer der höchsten Militärs im NS-Staat und gehörte später zu den während der Nürnberger Prozesse Angeklagten. Der 1890 geborene Alfred Jodl stammt aus einer Familie mit langer militärischer Tradition. Sein Großvater, Vater, Onkel, Bruder und Schwiegervater waren allesamt bayerische Offiziere (Jodl 1976, S. 252). Entsprechend war auch der Weg von Alfred Junior vorbestimmt: „Vater wie Mutter – ehrgeizig – schienen entschlossen, ihn von vornherein zur Armee zu geben. (…) Vielleicht brauchten sie den – militärbegeisterten – Sohn nicht einmal zu drängen. Trotzdem hieß für ihn das Ganze: frühzeitige Zäsur. Gerade einmal dreizehnjährig, betrat er seinen Schicksalsweg, wurde er Zögling des bayerischen Kadettenkorps. Die Anstalt (…) forderte vollkommene Unterwerfung. Glockenschläge trieben zum Dienst, der Vor- und Nachmittage beherrschte; Kommandos regelten – bis auf knappste Pausen – jeden Schritt des Tages. Der Kadett war Soldat, und als Soldat hatte er zu traben und strammzustehen“ (Scheurig 1999, S. 10).

Alfred Jodl meinte später, dass er gerne Kadett gewesen sei: „Mit der strengen Disziplin fand ich mich rasch ab, das waren wir ja von daheim gewohnt“ (Jodl 1976, S. 90). Wie diese strenge Disziplin daheim in seiner Familie genau ausgesehen hatte, lässt sich nur erahnen. Jodl selbst bleibt diesbezüglich oberflächlich. Auf seine Mutter angesprochen sagte er: „Sie hasste alle faulen Menschen, denen sie furchtlos und offen ihre Fehler vorhielt. So waren mein jüngerer Bruder Ferdinand und ich einer scharfen Zucht unterworfen, der wir unendlich viel verdanken“ (Jodl 1976, S. 89). Strenge Disziplin, scharfe Zucht, eine Mutter, die „leicht reizbar“ (Scheurig 1999, S. 9) war und eine vom Militär durchzogene Familienlinie, all dies lässt Demütigungen, Unterwerfungsrituale und wohl auch Prügel – zumal Jodl Ende des 19 Jahrhunderts aufwuchs – mehr als wahrscheinlich erscheinen. Alfred Jodl selbst machte in dem oben zitierten Satz deutlich, dass er sich vollkommen mit dieser Strenge identifiziert hatte, indem er betonte, wie unendlich viel er dieser zu verdanken habe. Noch im Kindesalter wechselte er dann von einem strengen Zuhause in eine strenge Kadettenanstalt. All dies deutet auf eine sehr belastete Kindheit hin.

Zudem gibt es deutliche Hinweise auf das Miterleben von Gewalt während seiner Schullaufbahn und von selbst erlitten sexuellem Missbrauch durch einen Geistlichen: „Anerzogene Zucht ersparte dem Schüler Stockschläge und Strafen, doch Beichte, Kommunion und ein sadistisch prügelnder Religionslehrer irritierten ihn. Als er, auf dessen Zimmer bestellt, erleben musste, dass sich der Geistliche ihm zu nähern suchte, war er angewidert. Sofort spürte er, was später zunahm: seine Ablehnung der Kirche“ (Scheurig 1999, S. 10). Jodl im O-Ton dazu: „Bei mir hatte dann auch eine Rolle gespielt, dass mir als kleiner Bub ein junger Geistlicher zu nahegetreten war, und später bin ich dann aus der Kirche ausgetreten“ (Jodl 1976, S. 89).

Erwähnenswert scheint mir noch, dass die Familie den Tod von drei Mädchen im Kindesalter zu verkraften hatte (Scheurig 1999, S. 9). Nur Alfred und sein jüngerer Bruder wuchsen zusammen auf. Ob Alfred Jodl seine Schwestern kennengelernt und ihren Tod miterlebt hatte, ist der Quelle nicht zu entnehmen. Falls er ihren Tod miterlebt hatte, stellt dies an sich bereits ein schweres Kindheitstrauma dar. Wie sich der Tod von drei Kindern auf die Psyche der Eltern ausgewirkt hat, scheint nicht überliefert zu sein. Auch hier lassen sich starke Belastungen erahnen.

Ich möchte abschließend sagen, dass die Recherche und die Erkenntnisse über die Kindheiten der o.g. NS-Täter für mich ein schwer ausdrückbares Gefühl ausgelöst haben. Es ist wohl ein Mix aus Erstauen (über den recht leichten Zugang über klassische Biografien zu Infos über Kindheitserfahrungen, die mit viel Fleiß und einem Blick für Details und das Wichtige auch jeder Andere hätte zusammenfassen können) gepaart mit einem Zusatzerstaunen darüber, dass mir bisher keine einzige Arbeit bekannt ist, die diese Kindheiten bzgl. ihrer Parallelen analysiert und zusammengefasst hat (selbst jemand wie Alice Miller ging zwar davon aus, dass alle Kindheiten der NS-Täter destruktiv waren, aber sie hat nur einzelne Täter - vor allem Adolf Hitler - analysiert. Sicherlich lagen damals aber auch weniger Biografien vor). Wie kann das sein?  Gleichzeitig weiß ich, wie schwer die Widerstände in der Gesellschaft sind, sich den Kindheitshintergründen der NS-Zeit zu stellen. Mein Erstaunen ist also gepaart mit einem Wissen um dieses Schweigen. Gerade klassische Historiker schauen oft an den Kindheitshintergründen vorbei oder erwähnen sie beiläufig, drittrangig oder reden sie gering  (dazu habe ich ein eigenes Kapitel in meinem Buch geschrieben: "Das große Schweigen"). Gerade klassische Historiker verfügen aber über die Deutungshoheit der NS-Zeit. Wenn diese Akteure schweigen, traut sich auch kein Journalist an dieses Thema ran, denn Journalisten brauchen anerkannte Experten, die sie zitieren können.

Meine Analyse und Zusammenfassung über die Kindheiten von NS-Tätern ist im Grunde eine Sensation. Nicht, weil ich so toll bin! Sondern weil die Fakten einfach auf dem Tisch liegen und einen überdeutlich ins Auge stechen und bisher noch nicht zusammengefasst wurden. Das Ziel ist letztlich, dass diese Fakten zum Alltagswissen werden. Für mich gibt es keine "Entdeckungsreisen" mehr. Das Wissen um die Kindheitshintergründe der NS-Zeit ist für mich zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die Beschäftigung mit der Kindheit von Alfred Jodl "haute mich" insofern nicht mehr um, wie dies früher der Fall gewesen wäre. Dass seine Kindheit derart destruktiv war, ist einfach nur logisch und reiht sich ein in die Kindheiten seiner Mittäter.


Verwendete Quellen:

Jodl, Luise (1976): Jenseits des Endes. Leben und Sterben des Generalsoberst Alfred Jodl. Molden Verlag, Wien – München – Zürich.

Scheurig, Bodo (1999): Alfred Jodl. Gehorsam und Verhängnis. Biographie. Bublies Verlag, Schnellbach.

Freitag, 9. Dezember 2011

Kindheit von Sophie Scholl

Sophie Scholl wuchs die ersten Lebensjahre in Forchtenberg (Württemberg) auf. Ihr Vater, Robert Scholl, war dort Bürgermeister und hatte den Ehrgeiz, den Ort weiterzuentwickeln und zu verändern. Er hatte dabei sehr liberale und fortschrittliche Vorstellungen, was den Bewohnern (vor allem den Bauern und Handwerkern) nicht immer Recht war und ihm teils Feinde machte, später im Jahr 1930 sollte u.a. dies zu seiner Abwahl führen. Leisner (2000) berichtet, dass der Vater die Haushaltsführung und Kindererziehung ganz und gar seiner tüchtigen Frau überließ. (S. 18) Er steckte seine ganze Kraft in sein Amt. Die Familie wohnte allerdings gleich neben den Amtsräumen des Vaters. Insofern war er wohl auf eine Art auch greifbar, auch wenn berichtet wird, dass er manches mal unwirsch war, wenn seine Kinder zu laut in der Wohnung oder im Treppenhaus herumtobten und er Ruhe für seine Arbeit brauchte. (ebd., S. 25) Während dieser Zeit als Bürgermeister war der Vater selten aufgeschlossen und fröhlich. Die Sorgen um den Ort und die Arbeit nahmen ihn voll in Anspruch.

Vinke (1997) gibt die Gespräche mit der Schwester Inge Aicher-Scholl wieder. Über den Vater heißt es: „Er war eine beeindruckende Erscheinung (…), eine natürliche Autorität, die von den Kindern geachtet wurde. Auch wenn es gelegentlich wie in jeder Familie Tränen gab, war er alles andere als ein Tyrann. Die Kinder durften ihre eigenen Wege gehen. Zusammen mit seiner Frau (..) verstand er es, ihnen in einer von Arbeitslosigkeit, Inflation und politischer Gewalt gekennzeichneten Zeit eine Insel der Geborgenheit zu schaffen.“ (Vinke, 1997, S. 16) Im ersten Weltkrieg gehörte der Vater zu den wenigen Pazifisten, die die allgemeine Kriegsbegeisterung im kaiserlichen Deutschland nicht mitmachten. Da er den Kriegsdienst mit der Waffe ablehnte, musste er für das Rote Kreuz verwundete Soldaten betreuen. In dieser Zeit lernte er auch seine spätere Frau Magdalene kennen, die Krankenschwester war und sich mit Leib und Seele um Kranke und Schwache kümmerte. Sophies Mutter übertrug diese Leidenschaft auch in die Zeit als Frau des Bürgermeisters und kümmerte sich wiederum um Kranke und sozial Schwache in ihrem Ort. Inge über die Mutter: „Was uns Kinder angeht, so interessierte sie sich für alles, was uns berührte und was wir erlebten. Sie lebte total mit uns.“ (ebd., S. 18)
Im Januar 1926 erlebte die Familie einen Schicksalsschlag. Thilde, die im März 1925 geboren worden war und vor allem von ihren Schwestern sehr geliebt wurde, verstarb auf Grund einer Erkrankung. (vgl. Leisner, 2000, S. 20) Wie die Familie mit dieser Tragödie umging, erfährt man in den Quellen nicht.

Die Familie zog nach der Abwahl des Vaters für zwei Jahre nach Ludwigsburg, danach weiter nach Ulm, der Vater betätigte sich fortan als Steuer- und Wirtschafsberater, reich wurde er aber nicht, sondern hatte ein einfaches Auskommen.
Inge über den Freiraum der Kinder: „Freundinnen oder Nachbarskinder zum Geburtstag einzuladen oder einfach mitzubringen , war kein Problem. Nie sagte meine Mutter: „Aber heute möchte ich hier niemanden sehen, ich habe gerade geputzt.“ Die anderen Mädchen kamen einfach mit. Meistens gab es auch für sie etwas zu essen, und manchmal durften sie sogar über Nacht bleiben.“ (Vinke, 1997, S. 21) Bücher spielten in der Familie Scholl eine große Rolle und zwar seit frühster Kindheit an. Im Elternhaus lernten die Kinder auch zu widersprechen, wenn sie anderer Meinung waren.
Alle Kinder der Scholls werden zudem als sensibel und phantasievoll beschrieben. (vgl. Leisner, 2000, S. 21) Doch vor allem Sophie zeigte sehr früh Mitgefühl und Gerechtigkeitsliebe, was an einigen Beispielen in den Quellen veranschaulicht wird.
Auch politische Diskussionen zwischen dem Vater und vor allem seinem älteren Sohn Hans gehörten zum Familienalltag. (ebd. S. 41f) Der Vater vertrat weiterhin seine liberalen Ansichten und den Parlamentarismus und warnte davor, dass es Krieg geben würde, wenn Adolf Hitler an die Macht käme. Hans verteidigte dagegen immer öfter die Nationalsozialisten, für die er entgegen seiner späteren Entwicklung vorerst sehr schwärmte, gegen seinen Vater. Alle Scholl Kinder, besonders aber die beiden älteren Inge und Hans, waren von der Nazi-Bewegung zunächst begeistert. Sie wollten in die Hitlerjugend, was der Vater strikt ablehnte. Beide Scholl- Eltern hatten entgegen den üblichen Erziehungsmethoden der Zeit Schläge gegen ihre Kinder abgelehnt. Doch gegenüber Inge hatte sich der Vater diesmal so sehr erregt, dass er sie ohrfeigte. Er verbot ihr, in die Hitlerjugend einzutreten. (ebd., S. 52f) Die Mutter sorgte schließlich für Ausgleich und überredete ihren Mann, den beiden ihren Willen und sie ihren Weg gehen zu lassen. Der Vater gab nach. Zum 01.05.1933 traten Inge und Hans in die Hitlerjugend ein, Hans engagierte sich stark und stieg später innerhalb der Organisation stetig auf. Im Januar 1934 trat auch die knapp dreizehnjährige Sophie in die „Jungmädelschaft“ ein und fühlte sich dort ebenfalls sehr wohl. Die Geschwister Scholl waren zunächst „ganz normale Deutsche“ und verehrten die Nazis.

Der große Parteitag in Nürnberg 1936, an dem Hans teilnahm, war wohl der Beginn eines Wandels. Hans kam völlig verändert, müde, deprimiert und verschlossen zurück. (vgl. Vinke, 1997, S. 46) „Er sagte nichts, aber jeder spürte, dass irgendetwas passiert sein musste zwischen ihm und der Hitlerjugend. Nach und nach erfuhren wir auch was. Der unsinnige Drill, die vormilitärischen Aufmärsche, das dumme Geschwätz, die ordinären Witze – das alles hatte ihn vollkommen fertig gemacht. Von morgens bis abends antreten, immer wieder reden, und dann diese aufgesetzte, künstliche Begeisterung. (…) Was in Nürnberg passiert war, irritierte Sophie wie uns alle. Nürnberg – das war noch nicht der Bruch, wohl aber der erste Riss, der uns von dieser Welt der Hitlerjugend und des BDM trennte.“ (ebd.) Nach Nürnberg legte sich auch der Streit zwischen Hans und seinem Vater. Für Hans gewann eine andere Jugendorganisation immer mehr an Bedeutung: die „Deutsche Jugendschaft vom 1.11“. Anfang 1933 wurde diese Organisation verboten. Gerade nach diesem Verbot entwickelte sich in Ulm um Hans Scholl eine „d.j.1.11“ Gruppe. Im Herbst 1937 wurden auf Grund dieser Aktivitäten die Geschwister Inge, Sophie, Hans und Werner von der Gestapo verhaftet und für kurze Zeit inhaftiert. Spätestens seit der Verhaftung gehörte der Streit zwischen Sohn und Vater endgültig der Vergangenheit an. Die weiteren Entwicklungen zu beschreiben, die zum Widerstand führten, würden hier den Rahmen sprengen.

Für mich steht fest, dass die vorangegangene nicht autoritäre, freiheitliche Erziehung und der liberale Geist der Eltern und dabei besonders der des Vaters das Fundament für den Bruch mit den Nazis legten. Es ist kein Zufall, dass gerade die Geschwister Scholl den uns bekannten, eindrucksvollen Widerstand gegen das NS-Regime mit organisiert hatten. Sie durften im Gegensatz zu den meisten anderen deutschen Kindern von klein auf frei denken, ihre Meinung sagen, erlebten Geborgenheit und keine Schläge (außer ausnahmsweise innerhalb des o.g. Konfliktes). Die Geschichte der Geschwister Scholl ist auch ein Lehrstück dafür, dass Fürsorge und Gewaltlosigkeit in der Erziehung Empathie und eigenständiges Denken grundsätzlich fördert.
Der Geschwister Scholl Preis wurde übrigens 2001 an Arno Gruen für sein Buch „Der Fremde in uns“ verliehen, in dem er vor allem die destruktive Erziehung von Kindern für die Entstehung von Gewalt und Fremdenhass ausmacht. In seiner Dankesrede sagte Gruen u.a.: „Für mich waren Sophie und Hans Scholl und ihr Freundeskreis immer außergewöhnliche Beispiele für Menschen, die aus ihrem Herzen heraus das Menschsein zum Kern ihres Seins machten. Ihr grundsätzliches Vertrauen zum Menschsein entsprang nicht ideologischen Ursachen, sondern kam aus tieferen Quellen ihres Mitgefühls sowie ihres Gefühls für Gerechtigkeit und Würde.“


Verwendete Quellen:

Leisner, B. 2000: „Ich würde es genauso wieder mach.„ Sophie Scholl. List Taschenbuch Verlag, München.

Vinke, H. 1997: Das kurze Leben der Sophie Scholl. Ravensburger Taschenbuchverlag,

Freitag, 12. Oktober 2018

Mein Buch ist fertig!


Mein ursprünglicher Plan war, dies mit dem 400. Blogbeitrag (was ich irgendwie nett gefunden hätte) hier anzukündigen und dann gleich auch auf eine Bestellmöglichkeit als selbstveröffentlichtes E-Book hinzuweisen. Nun hat sich allerdings ein Verlag gefunden, der das Buch veröffentlichen wird, was mich sehr freut. Die Veröffentlichung über einen Verlag bedeutet für mich, dass das Buch zitierfähiger wird, aber auch breitere und professionelle Werbemöglichkeiten über klassische Verlagswege hinzukommen. Außerdem muss ich mich nicht mit dem Layout herumschlagen.

Der Nachteil ist für den Moment, dass die Veröffentlichung wohl noch etwas dauern wird (vermutlich wird es im Februar 2019 veröffentlicht werden). Daher möchte ich jetzt doch in diesem 400. Beitrag bereits das Buch vorankündigen.

Titel und Untertitel sowie das Inhaltsverzeichnis möchte ich allerdings noch nicht verraten, auch, weil evtl. noch kleine Änderungen durch den Verlag kommen könnten. Allerdings kann ich ausführen, was ich im Wesentlichen geschrieben habe und was vor allem Neu im Vergleich zu den Texten im Blog und zu meinem Text „Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an“ ist.

Zunächst: Das Buch wird sehr umfangreich werden. Im DIN A4 Format komme ich auf über 400 Seiten (inkl. Literaturverzeichnis und Fußnoten). Im Buchformat dürften es entsprechend noch mehr Seiten werden.  Der Grundstil ist wissenschaftlich orientiert, aber das Ganze lesefreundlich und so einfach wie möglich (ich mag zwar wissenschaftliche Fachbücher, aber mein Sprachstil ist nun einmal anders).

Sehr viel Raum habe ich historischen Erziehungseinstellungen, der Historie des Kinderleids an sich und auch der Gewalt in vorzivilisatorischen Gesellschaften gegeben, damit wir verstehen, wo wir eigentlich herkommen und auf welchen Grund wir heute stehen. Diese Themenfelder hatte ich im Blog bisher nur angerissen und nicht vertieft. Dazu kommt auch ein kleiner Ausflug in die Gehirnforschung, worüber ich bisher noch gar nichts geschrieben habe.

Es folgt eine sehr systematische Analyse von belastenden Kindheitserfahrungen und von Kindesmisshandlung in der Welt. Diese Analyse habe ich auf spezielle Gruppen wie (Gewalt-)Straftätern, Soldaten, Extremisten, Terroristen, politischen Führern und von Hitlers Helfern (NS-Elite + bekannte NS-Täter) gesondert ausgeweitet. Die Quellen und verwendeten Studien für die Analysen sind deutlich breiter und vertiefender, als das, was ich bisher im Blog geschrieben habe. Auch die Anzahl an Einzelbiografieanalysen übertrifft deutlich das, was bisher im Blog oder in extern von mir verfassten Texten steht.

U.a. nachfolgende Personen werden bzgl. ihrer destruktiven Kindheit systematisch analysiert: 
John F. Kennedy, Lyndon B. Johnson, Ronald Reagan, George H. W. Bush, George W. Bush, Bill Clinton, Hillary Clinton, Tony Blair, Ludwig XIII., Napoleon Bonaparte, Friedrich II., Otto von Bismarck, Wilhelm II., Adolf Hitler, Benito Mussolini, Francisco Franco, Nicolae Ceauşescu, Slobodan Milosevic, Tito, Mao Zedong, Lenin, Stalin, Ivan IV., Wladimir Putin, Augusto Pinochet, Manuel Noriega, Fidel Castro, Jean-Bédel Bokassa, Saddam Hussein, Hassan II., Jassir Arafat, Recep Tayyip Erdoğan, Charles Manson, Rudolf Heß, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Martin Bormann, Albert Speer, Julius Streicher, Karl Dönitz, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Josef Mengele, Adolf Eichmann, Alfred Filbert, Amon Göth, Reinhard Heydrich, Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Inge Viett, Horst Mahler, Stefan Wisniewski, Peter-Jürgen Boock, Lutz Taufer, Astrid Proll, Anders Breivik, Beate Zschäpe, Osama Bin Laden. Dazu kommen diverse Personen (Terroristen, Extremisten und Gewalttäter), die öffentlich nicht so bekannt sind. Auch werden hier und da destruktive Kindheiten im Textverlauf gestreift (z.B. von Martin Luther, Jim Jones oder von Anthony Kiedis)

Mir ist bisher kein Buch bekannt, in dem derart umfassend und systematisch destruktive Kindheiten von destruktiv (einst oder auch noch aktuell) agierenden Menschen analysiert wurden.

Die Studienlage (allgemeine Studien, Befragungen von Akteuren) bzgl. der Kindheiten von Extremisten habe ich außerdem deutlich breiter dargestellt. Ich selbst wundere mich darüber, dass es öffentlich kaum Einlassung auf diese Studien gibt. Die BKA-Studie „Die Sicht der Anderen“ wurde zwar öffentlich hier und da besprochen, aber es gibt da noch deutlich mehr Studien, die zusammengefasst öffentlich gar nicht angekommen sind. Öffentlich müsste demnach eigentlich vor allem im Angesicht von Rechtsextremismus immer auch über die Kindheit gesprochen werden. Aber es herrscht breites Schweigen.

Sehr viel Raum (ein eigenes Kapitel)  habe ich also der Frage gegeben, warum die gesammelten Dinge und Erkenntnisse im Buch zu Kindheitseinflüssen öffentlich meist ausgeschwiegen werden. Dabei habe ich auch deutlich Beispiele aus Wissenschaftskreisen benannt, wo ganz klar an den Dingen vorbeigesehen wird.

Dazu kommen weitere Kapitel, die ich nicht wirklich zusammenfassend vorstellen kann. Auf jeden Fall leuchte ich die Dinge in verschiedene Richtungen aus, erkläre, warum es nicht immer leicht ist, die Kindheitshintergründe von Einzelpersonen komplett zu ergründen, befasse mich mit gängiger Kritik an meinen und psychohistorischen Thesen und ergründe auch, wie destruktive Kindheiten und deren individuellen Folgen sich kollektiv ausdrücken und auch enorm destruktiv wirken können.

Was man in dem Buch kaum finden wird, sind dagegen ausführlich Einlassungen auf psychohistorische Modelle und die Theorie von deMause. Es würde kaum Sinn machen, diese auszubreiten und zu wiederholen. Viel mehr sehe ich mein Buch als eine Ergänzung und Stütze der Psychohistorie. Mein Buch ist vor allem durch die deutlich sozialwissenschaftliche Ausrichtung anders. Ich frage mich wirklich, warum in der Sozialwissenschaft aber auch der klassischen Geschichtswissenschaft bisher kein ähnliches Werk vorliegt? Denn die Studienlage ist enorm. Es gibt derart viele Einzelarbeiten, die die Dinge ergründet haben, dass es im Gesamtblick darauf kaum Sinn macht, nicht von enormen Einflüssen von Kindheitserfahrungen auf die Welt wie wir sie erleben und auch wie wir sie im historischen Rückblich sehen auszugehen. Und dies meine ich vor allem mit Blick auf politisches Agieren, mit Blick auf Krieg, Gewalt, Selbstzerstörung, Terror, Extremismus, politischer Verrücktheit und sozialen Schieflagen.

Viel mehr kann und will ich jetzt hier gar nicht vorwegnehmen. An dem Buch habe ich zwar ca. ein Jahr lang gearbeitet, aber im Grunde ist es das Resultat aus einer Arbeit und Recherchen, die ca. im Jahr 2002 begonnen haben.

Nun, wir werden sehen, wie es angenommen und ob es gar auch diskutiert werden wird.

Ich persönlich habe ab sofort wieder mehr Zeit. Mir schweben bereits zwei Blogbeiträge vor. Allerdings markiert mein Buch auch einen gewissen Abschluss für mich. Ich lasse die nächsten Monate einfach erst einmal auf mich zukommen und wir sehen dann, was wird.