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Freitag, 27. November 2015

Wie Fachmann an Kränkungen in der Kindheit vorbeisehen kann

Der Gerichtspsychiater Reinhard Haller hat Welt-Online (26.11.2015, "Die zerstörerische Macht der Kränkung") ein Interview gegeben. Anlass war sein neues Buch „Die Macht der Kränkung“. Haller hat bereits viel über „das Böse“, Serientäter und Verbrechen veröffentlicht.

Ich schreibe nicht oft etwas über JournalistInnen, WissenschaftlerInnen und andere Fachmenschen, die die Kindheitseinflüsse bei der Analyse von Gewalt außen vor lassen, denn dann würde ich kaum noch dazu kommen, anderes zu schreiben. Bzgl. Haller möchte ich jetzt aber einiges anmerken.

In dem Interview geht er auf Massenmörder wie Anders Breivik ein, aber auch auf Adolf Hitler und einzelne Attentäter.  Kränkungen sieht er als wesentliches Motiv für deren Taten. Allerdings geht er nicht auf Kränkungen, Demütigungen und Gewalterfahrungen in der Familie ein. In dem Interview sagt Reinhard Haller einen für mich unglaublichen Satz: „Adolf Hitler war schwer gekränkt, weil er als Straßenmaler verspottet wurde und im Arbeiterwohnheim leben musste. Aus dieser Jämmerlichkeit sprießt dann das Überkompensatorische wie das Tausendjährige Reich, der Übermensch et cetera.“ Danach geht er noch ergänzend auf die Kränkung durch den „Versailler Vertrag“ ein. Es ist unglaublich, dass ein Psychiater ernsthaft annimmt, solche Erlebnisse würden ausreichen, um zum Massenmörder zu werden! Zudem: Jeder, der einmal bei googel „Kindheit von Adolf Hitler“ eingibt, sollte innerhalb von 10 Minuten etwas über die täglichen Misshandlungen und ständigen Demütigungen seitens des Vaters in Hitlers Kindheit erfahren. Auch über Anders Breivik gibt es eindeutige Nachweise für eine unglaublich traumatische Kindheit. Dazu kam aber kein Wort vom Fachmann. 

Für mich ist auf eine Art ein wenig verständlich, dass mit psychiatrischen Themen unerfahrene Fachmenschen wie PolitologInnen oder HistorikerInnen das Thema Kindheit außen vor lassen. Besonders erstaunt mich immer wieder, dass auch psychiatrische Fachleute oder PsycholgInnen an dem Thema vorbeischauen, Haller ist da nur einer von vielen.

Natürlich haben Kränkungen von Jugendlichen und Erwachsenen eine kumulative Wirkung oder auch tatauslösenden Charakter. Hallers Arbeit scheint also mehr zu beschreiben, dass als Kind durch Elternfiguren Gedemütigte später besonders reizbar sind (ohne dass er sich dessen bewusst zu sein scheint). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Ergebnis aus der Hirnforschung. „Wer aufgrund früherer, meist in den Kinderjahren erlittener Verletzungen keine tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen fühlen kann, hat als Erwachsener bei schwierigen Alltagssituationen schneller als andere das Gefühl, abgelehnt oder verachtet zu werden. Er (oder sie) wird häufiger als andere Menschen eine »gefühlte Zurückweisung« erleben. Entsprechend schneller ist bei solchen Personen die Schmerzgrenze erreicht, und entsprechend steigt das Risiko einer aggressiven Reaktion.“ (siehe meine Buchbesprechung von Joachim Bauer, „Schmerzgrenze“)

Donnerstag, 17. März 2022

Doku „Diktatoren - Wurzeln des Terrors“ und einige Anmerkungen dazu

 „Hitler, Mussolini, Stalin, Mao, Pol Pot, Saddam Hussein, Kim Jong Un: Alle dieser Diktatoren waren einst Kinder und Teenager, bevor sie zu Tyrannen wurden. Die Dokumentation blickt in die Kindheit und die Jugendzeit der schrecklichsten Diktatoren im 20. und 21. Jahrhundert. Die Porträts dieser Jugendlichen begeben sich auf die Spur nach den Wurzeln des Wesens dieser Männer, die später absolute Macht anstrebten.

So wurde die französische TV-Doku „Diktatoren - Wurzeln des Terrors“ (2021 vom Regisseur François Chayé; original Titel „A la source de la tyrannie“) angekündigt, was mich natürlich extrem neugierig machte. Aktuell kann die Doku noch (mit Werbeblöcken) hier gestreamt werden. 

Die Doku ist in verschiedene Kapitel unterteilt. Ein Kapitel heißt: „Gewalttätige Kindheit“!

Ich wundere mich ehrlich gesagt schon länger, dass es bisher meines Wissens nach keine Doku gab, die die destruktiven Kindheiten von Diktatoren in den Blick nimmt. Jetzt also das! Das ist ein wirklich großer und wichtiger Schritt. 

Zwischendrin kamen mir allerdings erste Zweifel, ob die Doko in eine für mich zufriedenstellende Richtung geht. Z.B. als über die Mutter von Adolf Hitler gesagt wird, dass sie für ihn „emotionale Sicherheit“ bot, etwas, das ich deutlich anders sehe. 

Es tauchten aber auch erste vielversprechende Kommentare auf. Beispielsweise als dieser Satz fällt: „Für Hitler verschmolzen sein Vater und das Kaiserreich zu einem Hasssymbol“. Diese Stelle wurde nicht gesondert kommentiert, sie zeigt aber deutlich die Verschmelzung von Kindheit (Gewalt durch den Vater und Hass auf den Vater) und Gesellschaft bzw. Übertragung von Hass aus der Kindheit auf Vaterfiguren/“Vaterstaat“/“das Alte“. 

Unter dem o.g. Kapiteltitel geht es dann wirklich in die Tiefe der Kindheitsabgründe: Maos Vater sei alles andere als liebevoll gewesen und habe nicht gezögert, seinen Sohn zu schlagen. Mao habe seinen Vater gehasst.
Saddam Hussein sei in extremer Armut aufgewachsen. Es habe „wenig Liebe“ in seiner Kindheit gegeben und er galt „als Bastard“. Und: „Der Stiefvater war gewalttätig und schlug ihn fast täglich.“ Über den Alkoholismus des Vaters von Stalin und dessen Gewaltverhalten wird ebenso berichtet, wie über all die Demütigungen und Entbehrungen, die Stalin in einem Priesterseminar erlitten hat.
Über die häufige väterliche Gewalt, die auch Mussolini erlitten hat, wurde leider nichts berichtet, obwohl dieser Diktator Thema war. 

Zum Schluss hin kommt dann diese Aussage:

Bei einigen Diktatoren liegen die Wurzeln ihres Handelns in einer besonders traumatischen Kindheit. Die prägenderen Faktoren für ihre kriminelle Entwicklung liegen jedoch meist im historischen, sozialen und politischen Umfeld, in Kombination mit einer blutigen Ideologie schaffen die Despoten dann den Aufstieg an die Macht.“

Nach dieser Stelle war den vorherigen Ausführungen zur Kindheit schon einmal deutlich der Wind aus den Segeln genommen. Glaubt es mir oder nicht, ich ahnte schon, welcher Nachsatz noch kommen würde und er kam auch, von dem Historiker Johann Chapoutot:

 „Es besteht kein Zweifel daran, dass Hitler eine unglückliche Kindheit hatte. Die Beziehung zu seinem Vater war katastrophal und bereitete ihm große psychische und physische Schmerzen. (…) Doch im 19. Jahrhundert gab es viele Kinder, die Opfer von Misshandlungen wurden und sie wurden nicht alle zu Massenmördern. Den Gewaltherrschern ist auf ihrem Lebensweg noch etwas anderes passiert. Hitler verstand es, auf die Erwartungen der damaligen Gesellschaft zu reagieren. Diese wollte eine klare Identität und Hitler vermittelte durch den Nationalsozialismus und die deutsch-völkische Ideologie das Gefühl, dass man etwas darstellt.“ 

Da ist er wieder, dieser klassische Satz:Aber nicht alle traumatisierten Kinder werden zu…“.
Die Ursachenkette zwischen destruktiver Kindheit und politischer Gewalt wird durch diesen Satz sofort zerrrissen. Bereits in dem zuvor zitierten Part wurde der Blick von der Kindheit weg in Richtung anderer „prägenderen“ Faktoren („historischen, sozialen und politischen Umfeld, in Kombination mit einer blutigen Ideologie“) gelenkt. 

Es ist selbstverständlich, dass es keinen einfachen Link zwischen destruktiver Kindheit hier und Diktatoren dort gibt. Selbstverständlich bedarf es weiterer Einflussfaktoren, wovon der größte natürlich das Streben nach und das Erreichen von Macht ist. Diese Leute müssen zudem redegewandt und intelligent sein. Sie müssen männlich sein. Sie müssen zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein usw. usf.  

Was mich so ungemein stört, wenn Kindheitseinflüsse gering geredet werden, ist, dass nie die umgedrehte Frage gestellt wird: Wären Hitler, Mussolini, Stalin, Mao und Saddam Hussein auch zu solchen Diktatoren und Massenmördern geworden, wenn sie eine liebevolle und weitgehend unbelastete Kindheit gehabt hätten? Diese Frage taucht einfach nicht auf!

Der zweite Punkt ist, dass der Satz „doch im 19. Jahrhundert gab es viele Kinder, die Opfer von Misshandlungen wurden und sie wurden nicht alle zu Massenmördern“ mit Blick auf das Werden eines Diktators im Grunde bereits die Lösung des Rätsels mit enthält. Nur ein einziger Mensch kann logischer Weise in einer Diktatur zum Diktator werden. Wenn doch aber eine destruktive Kindheit in einem deutlichen Zusammenhang zu menschlicher Destruktivität und Gewaltverhalten und auch „Ohnmachtsverhalten“ steht (was wir heute einfach auf Grund wissenschaftlicher Befunde wissen), dann erklärt sich doch gerade aus der Feststellung „doch im 19. Jahrhundert gab es viele Kinder, die Opfer von Misshandlungen wurden“ die Entwicklungen hin zu einer Diktatur! 

Johann Chapoutot hat es oben nach seiner kritischen Anmerkung bzgl. Kindheitseinflüssen im Grunde bereits gesagt: „Hitler verstand es, auf die Erwartungen der damaligen Gesellschaft zu reagieren. Diese wollte eine klare Identität“. Ein als Kind traumatisierter Führer stand in Resonanz mit der als Kind traumatisierten Bevölkerung, die sich eine Identität wünschte (Identitätsprobleme sind eine klassische Folge von Kindesmisshandlung!). Warum wurde hier nicht der Einfluss von Kindheit erkannt?

Vergessen werden darf außerdem auch nicht, dass die vielen Kinder des 19. Jahrhunderts, die Opfer von Misshandlungen wurden, zwar nicht alle zu Massenmördern und Diktatoren wurden, aber viele (vor allem männliche) Kinder wurden zu "Diktatoren im Kleinen", in der Familie. Das war ihr Einfluss- und Machtbereich! Historische Berichte über tyrannische Väter finden sich haufenweise. Sie „mordeten“ die Seelen ihrer untergeordneten Familienmitglieder. Und ja, beim genaueren Hinsehen finden wir im historischen Rückblick auch haufenweise Mütter (+ Großmütter, Dienerinnen, Ammen), die sich gegenüber Kindern wie Diktatoren und Menschenschinder verhielten, obwohl sie nach außen hin (der patriarchalen Sitte/Struktur nach) nicht die absolute Macht in der Familie inne hatten. 

Der andere Weg, Hass auszudrücken, ist der Weg nach innen: Selbsthass, Krankheit, Suizid, Depressionen, sich in Ohnmachtsbeziehungen ergeben usw. usf. Auch das wird gerne unterschlagen, wenn es heißt, dass nicht alle als Kind misshandelten Menschen zu "ihr wisst schon was" werden. 

Doch im 19. Jahrhundert gab es viele Kinder, die Opfer von Misshandlungen wurden und sie wurden nicht alle zu Massenmördern“. Dieser Satz ist schlicht unterkomplex, obwohl das erklärte Ziel des Satzes ja gerade war, die Komplexität von Menschen und Gesellschaften zu beachten. 

Im Grunde liegt hier stets auch das gleiche Problem zu Grunde: Historiker sind nun einmal keine Psychologen und Experten für Traumafolgen. Ihnen fehlt entsprechend das Wissen um die komplexen Folgen von Kindesmisshandlung, die sich in unzähligen Formen ausdrücken können.

Die Doku war ansonsten gut und auch wichtig! Es wird sicher der Tag kommen, an dem in einem ähnlichen Format selbstbewusst die These formuliert wird, dass destruktive Kindheiten das Fundament für Diktaturen bilden können. 

Die Doku "Diktatoren - Wurzeln des Terrors" lief am 15.03. in der Zeit zwischen 02:20 - 03:00 Uhr auf N-TV

Ist schon irgendwie symbolisch, dass das Thema gesendet wird, wenn alle schlafen...


siehe ergänzend auch meinen Blogbeitrag: "Eine lieblose Kindheit haben viele erlebt und werden trotzdem nicht zu Mördern"



Sonntag, 31. Dezember 2023

Historiker Simon Sebag Montefiore über die Mütter von Hitler, Stalin und Trump. Eine kritische Anmerkung.

Der Historiker Simon Sebag Montefiore hat kürzlich dem SPIEGEL (52/2023) im Rahmen des Titelthemas „Für immer Sohn. Wie Mütter das Leben von Männern prägen“ ein ausführliches Interview gegeben (Historiker über Mütter mächtiger Männer. „Die Macht von Frauen lag in der Kontrolle ihres Sohnes“)

In dem Interview geht er u.a. auf die Mütter von Stalin, Hitler und Donald Trump ein. Wobei die Mutterbeziehung Hitlers ihn mit am meisten beeindruckt hätte, wie er auf Nachfrage sagt. 

Alle drei Mutterbeziehung kommentiert er nicht bzgl. ihrer destruktiven Wirkungen. Im Gegenteil, die Mütter von Hitler und Stalin werden sogar recht wohlwollend und zugewandt dargestellt. Auf SPIEGEL Frage "Von der Mutter des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump heißt es, dass sie ihren Sohn für dumm gehalten habe" hin kommentiert er nur, dass Trumps Mutter eine „energische, direkte Frau“ gewesen sei. Auf die folgende Nachfrage, warum Trump Frauen gegenüber immer wieder wenig Respekt gegenüber zeige, vermutet Montefiore als Ursache altes Klischeedenken von „Heiliger und Hure“. 

In allen drei Fällen wurde somit die grausame Realität der Mutter-Sohn-Beziehungen in meinen Augen ausgeblendet und insofern wurde eine Chance verpasst, die Wirkung von destruktiven Elternfiguren auf politische Führer (und deren Verhalten) in einem großen Leitmedium zu besprechen. 

Leider kommentiert der Historiker sogar noch an einer Stelle:
Hitlers Mutter „war sehr nachsichtig. Man hat den Charakter von Diktatoren ja lange Zeit damit erklärt, dass ihre Eltern sie grausam behandelt hätten. Aber das stimmt nicht. Natürlich gab es viele Väter, die tranken und ihre Kinder schlugen, aber das war normal – der Freudianismus hat dem zu viel Bedeutung beigemessen. Hitlers Mutter hat ihren Sohn vergöttert.“

Dieser Satz blendet alle Erkenntnisse aus, die es mittlerweile über die Kindheiten von Diktatoren (und auch Gewalttätern an sich) gibt. Die Gemeinsamkeit von Diktatoren ist gerade ihre massiv traumatische Kindheit (siehe auch mein Buch „Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen“). Diesen Satz dann auch noch mit „Hitler“ einzurahmen, entbehrt jeder Logik, da gerade Hitler eine unfassbar traumatische Kindheit erlebt hat.

Dass Hitler von seinem Vater häufig und schwer misshandelt und gedemütigt wurde, ist längst bekannt (und wird auch dem Historiker Montefiore bekannt sein). Der Historiker Roman Sandgruber hat 2021 beispielsweise sehr deutlich geradezu einen Schlussstrich über die Erkenntnislage bzgl. Hitlers von Gewalt geprägter Kindheit gezogen, da dies einfach überdeutlich belegt ist: „Hitler: Ein einst misshandeltes Kind. Deutliche Worte in einem neuen Buch".

Hitlers Mutter stand hilflos und ohnmächtig daneben, ohne ihrem Sohn helfen/schützen zu können oder zu wollen. Was dies mit einer Mutter-Sohn-Beziehung macht, ist u.a. unter Kindertherapeuten bekannt. Das Gleiche gilt für einer mütterliche "Vergötterung" ihres Sohnes, was wenig mit Liebe zu tun hat und viel Destruktivität im Leben des Sohnes zur Folge haben kann.
Neben der Gewalt war Hitlers Kindheit von weiteren schweren Belastungen geprägt, darunter z.B. Tod von mehreren Kernfamilienmitgliedern

Die massiv destruktiven Eltern-Kind-Beziehungen bei den Trumps sind ebenfalls belegt (wenn auch öffentlich weniger bekannt/besprochen), auch der Einfluss der destruktiven und vor allem abwesenden Mutter (bei Interesse zwei lange Blogbeiträge dazu hier und hier

Was mich am meisten fassungslos zurückließ sind die Kommentare des Historikers bzgl. Stalins Mutter, die er als "eine interessante Figur", die ihren Sohn gefördert und angetrieben habe, beschreibt. Stalin habe seiner Mutter viel zu verdanken. 

Simon Sebag Montefiore selbst hat in seinem Buch „Der junge Stalin“ auf die massive Gewalt des Vaters UND der Mutter von Stalin hingewiesen. Ja, die Mutter von Stalin hat ihren Sohn körperlich misshandelt (nach meinen Recherchen zusätzlich auch emotional, aber das würde hier zu viel Raum einnehmen). Im SPIEGEL-Interview, das eine Titelstory über den Einfluss von Müttern auf ihre Söhne angelehnt ist, wird dieser extrem wichtige Faktor der mütterlichen Misshandlung einfach nicht erwähnt. 

Anbei zwei Zitate aus dem Montefiore Buch „Der junge Stalin“ im Kapitel „Der verrückte Besso“:

Streitsüchtig und aggressiv, war er so schwer unter Kontrolle zu halten, dass sogar seine Mutter, die ihn anbetete, zu Züchtigungen griff, um ihren widerspenstigen Schatz zum Gehorsam zu zwingen.“

Sie verdrosch ihn häufig«, erzählt Stalins Tochter Swetlana. Als Stalin seine Mutter in den Zwanzigerjahren zum letzten Mal besuchte, fragte er sie, warum sie ihn so oft geschlagen habe. »Es hat dir nicht geschadet«, erwiderte sie. Aber das ist umstritten. Psychiater glauben, dass Gewalt Kindern stets schadet, und gewiss bringt sie weder Liebe noch Mitgefühl hervor.“

Was ich auch sehe – und da hat Montefiore einen Punkt – ist, dass Diktatoren in ihrer Kindheit auffällig häufig eine Mutter hatten, die sie antrieb und übermäßig erhöhte (neben den gleichzeitigen Demütigungen und Erniedrigungen innerhalb der Familie). Die besonderen Größenfantasien der Diktatoren haben hier wahrscheinlich mit ihren Ursprung. Insofern ist diese Art von mütterlichem Einfluss ein bedeutsamer Faktor. 

Aber ohne die viele Gewalt und die vielen Ohnmachtserfahrungen in der Kindheit dieser Akteure, wären sie nicht zu den gefühlskalten politischen Führern geworden, die sie wurden. Und genau darüber müssen wir sprechen und aufklären. 

"Der Freudianismus hat dem zu viel Bedeutung beigemessen", sagte der Historiker ja (siehe oben). Das ist genau das Paradoxe im öffentlichen Bewusstsein. Dass destruktive Kindheiten Folgen haben, wird zwar öffentlich besprochen und ist irgendwie auch bewusst. Wenn es aber um Politik und politische Führer geht, wird dies sehr oft ausgeblendet und gering geredet. Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich von Seiten eines Historikers solche Zeilen hier lese: "Natürlich gab es viele Väter, die tranken und ihre Kinder schlugen, aber das war normal". 

 Der Historiker Volker Ullrich hat z.B. in der Biografie "Adolf Hitler. Biographie Band 1: Die Jahre des Aufstiegs 1889 – 1939" sehr deutlich die Gewalt von Hitlers Vater beschrieben. Dann fügt er an:
Doch sollten sich Biographen hüten, zu weitreichende Schlüsse aus frühen Kindheitserlebnissen zu ziehen. Körperliche Züchtigung war damals als Erziehungsmittel durchaus noch an der Tagesordnung. (…) Nach allem, was wir wissen, scheint Hitler eine ziemlich normale Kindheit verbracht zu haben, jedenfalls gibt es keine gesicherten Hinweise auf eine abnorme Persönlichkeitsbildung, aus der sich die späteren Verbrechen ableiten ließen" (Kapitel: „1 Der junge Hitler“).

Was grausame Realität der Mehrheit der Kinder war, hat dann also keine negativen Folgen und übt keinen Einfluss auf Verhalten aus, wenn aus diesen Kindern später mal einflussreiche politische Akteure werden? 

Eigentlich weiß es Montefiore ja auch besser, denn er schrieb ja selbst: "Psychiater glauben, dass Gewalt Kindern stets schadet, und gewiss bringt sie weder Liebe noch Mitgefühl hervor" (siehe oben).

Dieses Hin und Her, diese Widersprüchlichkeiten der Aussagen zeigen mir, dass der Historiker sich selbst noch nicht bewusst gemacht hat, dass Kindheit politisch ist! Damit ist er nicht alleine, sondern bildet die gedanklichen und emotionalen Mehrheitsverhältnisse der Gesellschaft ab. 

Dies Stück für Stück zu verändern, wird auch mein Ziel im neuen Jahr 2024 bleiben. 

In diesem Sinne: Einen guten Rutsch ins neue Jahr wünsche ich!


Dienstag, 4. Oktober 2016

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Donnerstag, 22. Oktober 2015

Studie: Die Psychologie des Nationalsozialismus

Ich möchte die sehr eindrucksvolle Studie "Warum folgten sie Hitler? Die Psychologie des Nationalsozialismus" von Stephan Marks (3. Aufl. 2014, erschienen im Patmos Verlag, Ostfildern) besprechen, die sehr viele Gemeinsamkeiten mit psychohistorischen Ansätzen hat.

Für das Forschungsprojekt (das Forschungsteam bestand aus 10 Personen der ersten Nachkriegsgeneration  und unterschiedlicher meist aber psychologisch-pädagogischer Berufsfelder, ergänzend wurden auch durch 11 junge Studierende Interviews mit NS-Anhängern geführt, um zu vergleichen, wie sich der Generationsabstand auf die Interviews auswirkt) wurden 19 Frauen und 24 Männer (Geburtsjahrgänge zwischen 1906 und 1926), die NS-Anhänger waren, ausführlich im Rahmen von Interviews im Zeitraum zwischen 19998 und 2001 befragt. Ergänzend wurden zu Vergleichszwecken 11 Gruppengespräche, an denen jeweils 25 Personen aus verschiedenen Generationen teilnahmen, durchgeführt. Das Projekt wurde durch ständige Supervision begleitet.
Es wurde also viel Aufwand betrieben, um den tieferen Ursachen der NS-Zeit auf den Grund zu gehen.

Sehr beeindruckt haben mich die Schilderungen über die Ergebnisse der Supervision. Ich möchte diese hier gleich zu Beginn der Besprechung etwas ausführlicher wiedergeben:
Eine eindrückliche Erfahrung bestand darin, dass viele der Interview-Transkripte zunächst wenig informativ zu sein schienen – verglichen mit den emotionalen Botschaften zwischen den Zeilen und den Gefühlen, die wir während und nach den Interviews erlebten. Diese Reaktionen, die wir in dieser Wucht nicht erwartet hatten, werden in der Psychoanalyse als Gegenübertragungen bezeichnet. Oft fühlten wir, die Interviewer, uns im Laufe eines Gespräches wie totgeredet, überrollt oder mundtot gemacht. Verwirrt, müde, passiv, dumm, unklar, wie hypnotisiert oder ´besoffen geredet`. Oder wir spürten nach einem Interview ein merkwürdiges, starkes Verlangen nach Zucker. Oft konnten wir mit `dem Thema` nicht aufhören. Oder wir empfanden Scham, etwa darüber, von dem jeweiligen Interviewten manipuliert, `über den Tisch gezogen`, `eingewickelt`, benutzt, überrannt, plattgemacht oder emotional missbraucht worden zu sein (und die Scham darüber, dies zugelassen zu haben). Auch Scham darüber, es nicht geschafft zu haben, dem Interviewten gegenüber authentisch, `männlich`, `stark`, `standhaft`, geblieben zu sein; oder zu leichtgläubig, naiv, unaufmerksam, `feige`, unterlegen, `minderwertig`, `zu intellektuell`, ungenügend `gewappnet`´ oder `zu schwach` gewesen zu sein. Wir fühlten uns häufig, wie wenn etwas Fremdes, Bösartiges in uns hineingestopft worden wäre, etwas, das mit unserem Anliegen als Interviewer nichts zu tun hatte. In der Nacht nach den Interviews tauchten nicht selten Alpträume auf, z.B. dass jemand in die eigene Wohnung eindringt und sie mit Blut besudelt. Ich träumte einmal nach einem Interview, dass ich Massengräber zu öffnen und die halbverwesten Leichen umzubetten hatte.“ (Marks 2014, S. 182)
Dieser Auszug zeigt schon einmal deutlich, in welche Richtung das Buch geht: Es geht um die emotionale Welt und entsprechend um emotionale Erklärungsansätze bzgl. der NS-Zeit. In dem Buch werden sechs Kernthesen durchgearbeitet und durch die qualitativen Interviews empirisch nachgewiesen. Die Befunde (Marks 2014, S. 20+21,52+53, 167+168):

1. Das nationalsozialistische  Bewusstsein war regressiv und magisch, das heißt als ein Zustand, der entwicklungspsychologisch einer frühen Phase entspricht. Entsprechend ergaben sich Vorstellungen von einem gottähnlichem Führer, vom heiligen Reich, Zauberkräften usw.

2. Der nationalsozialistische Bewusstseinszustand lässt sich als hypnotische Trance verstehen. Demzufolge war der Fokus der Aufmerksamkeit eingeengt und gefesselt von einer Person (Adolf Hitler) bzw. einer Sache (Dritte Reich), unter Ausblendung großer Teile der Wirklichkeit. Dieser Zustand ist auch mit Regression (siehe Punkt 1.) verbunden.

3. Der Nationalsozialismus bezog seine psychosoziale Dynamik u.a. aus Schamgefühlen, deren Abwehr er anbot und legitimierte.

4. Der Nationalsozialismus speiste sich auch aus den narzisstischen Defiziten seiner Anhänger, die er auszufüllen versprach.

5. Der Nationalsozialismus erwuchs aus der Abwehr der Traumata des Ersten Weltkrieges; die Abwehrmechanismen Derealisierung, Gefühlskälte, Heroismus und Idealisierung wurden zum politischen Programm gemacht.

6. Der Nationalsozialismus nutzte die Suchtdynamik der deutschen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg. Die Beziehung zwischen dem Nationalsozialismus und seinen Anhängern hatte den Charakter von Suchmittelabhängigkeit, wobei Adolf Hitler und das `Dritte Reich` das stoffgebundene Suchtmittel waren. Diese Abhängigkeit bedeutete ein unabweichbares Verlangen nach einem bestimmten Gefühls-, Erlebens und Bewusstseinszustandes, den das NS-Programm beschaffte. Gemäß der Suchtdynamik wurde die sogenannte „Stunde Null“ wie ein Entzug erlebt.

Den gemeinsamen Nenner dieser sechs Befunde beschreibt Stephan Marks wie folgt:
Der Nationalsozialismus zielte nicht darauf, die Menschen kognitiv zu überzeugen, sondern sie emotional einzubinden: Er lebte von der narzisstischen Bedürftigkeit und Abhängigkeit seiner Anhänger, von ihren Schamgefühlen, Kriegstraumata und frühkindlichen Erlösungsphantasien.“ (Marks 2014, S. 168) An anderer Stelle des Buches formuliert er ebenso zusammenfassend:
Meine These ist, dass das intellektuelle Niveau des NSDAP-Programms und der nationalsozialistischen Schriften, Reden, Filme usw. völlig unerheblich ist – wenn es darum geht, ihren Erfolg bei ihren Anhängern zu erklären. Denn die Nazi-Propaganda zielte von vornherein gar nicht darauf ab, die Menschen kognitiv zu überzeugen, sondern darauf, sie in ganz anderen psychischen Schichten anzusprechen. Sie suchte nicht primär das (entwicklungspsychologisch betrachtet) reife, erwachsene, verantwortungsbewusste und rationale Ich-Bewusstsein des modernen, mentalen Menschen anzusprechen, sondern frühe Erfahrungen und Schichten in der Psyche der Menschen.“ (Marks 2014, S. 42+43)
Ich muss an dieser Stelle gleich erwähnen, dass mich die Arbeit von Stephan Marks stark an das Buch „Schmerzgrenze“ von Joachim Bauer und meine entsprechende Kritik erinnert. Marks hat wie Bauer sehr konkret leidvolle Kindheitserfahrungen als Ursache für Gewalt und Extremismus erkannt und benannt (darauf gehe ich gleich ein). Er hat dieses Themenfeld aber nicht ins Rampenlicht geholt, hat es nicht entsprechend gewichtet. Das Thema Kindheit geht im Verlauf des Buches entsprechend unter. Dies verwundert.
Das Buch von Stephan Marks ist ganz dicht an der Psychohistorie dran (so dicht wie kaum ein anderes Buch außerhalb der Psychohistorie), obwohl er sich offensichtlich nicht mit psychohistorischen Arbeiten befasst hat. Das ist für mich insofern verständlich, weil die Psychohistorie einen sehr wahrten Kern erforscht und beschrieben hat, der menschliche Destruktivität von Grund auf erklärt. Das andere Forschende auf den selben Kern stoßen, ist nur  logisch. 
Ich werde nachfolgend versuchen, die Überschneidungen von Marks und der Psychohistorie nach Lloyd deMause (2005: "Das emotionale Leben der Nationen") darzustellen, ebenso werde ich zentrale Textstellen bzgl. der Kindheit in dem Buch von Stephan Marks zitieren.

DeMause stellt fest, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen traumatischer Kindheit und der Fähigkeit, in soziale Trance zu verfallen gibt. (deMause 2005, S. 85-86) Wenn Menschen an der „Traumwelt der Gruppentrance“ teilnehmen, befinden sie sich in einem Zustand der Dissoziation bzw. wechseln in ihr „soziales Alter Ego“, so deMause (2005, S. 86) Alter Egos (abgespaltene Persönlichkeitsteile) entstehen vor allem auf Grund traumatischer Kindheitserlebnisse. DeMause beschreibt in seinem Buch, wie politische Führer durch ihre Reden und Gesten Gruppen in „soziale Trance“ versetzten können. Marks spricht von „ hypnotischer Trance“, von „Regression“ (in frühkindliche Stufen) und Eintauchen in „magische Welten“, was bei seinen Gesprächspartnern auch Jahrzehnte nach der NS-Zeit noch spürbar war, wenn sie über diese Zeit sprachen.

Die deutlichsten Überschneidungen mit der Psychohistorie finden sich bei Marks in seinen Ausführungen über Schamgefühle. (Hinweis: Der Gefängnispsychiater James Gilligan - siehe hier - hat Schamgefühle von Mördern in den Mittelpunkt seiner Analyse gestellt. Diese wurden durch massive Gewalterfahrungen in der Kindheit der Mörder ausgelöst.) Er schreibt. „Traumatische oder pathologische Scham (…) taucht besonders in solchen Familienbeziehungen auf, deren Mitglieder verstrickt sind in gegenseitige Entwertungen, Verheimlichungen oder ein Überwältigen des anderen, das heißt, wenn die persönliche Grenze oder Integrität des Einzelnen nicht respektiert wird.“ (Marks 2014, S. 76)
Die Grundlage für traumatische Scham wird nach Marks gelegt wenn Eltern zudringlich sind und die Grenzen des Kindes nicht achten, wenn Eltern unberechenbar, depressiv oder suchtkrank sind, wenn Blickkontakt kultur- oder persönlichkeitsbedingt zwischen Mutter und Säugling verhindert wird (er erwähnt dabei den Erziehungsratgeber der damaligen Zeit  „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, in dem empfohlen wurde, dass Mutter und Säugling weitgehend zu trennen sind), wenn Eltern selbst traumatisiert sind und dieses Trauma an ihre Kinder weitergeben oder wenn eine Kultur an sich sehr schamerfüllt ist und Kinder dies in sich aufnehmen. Er schreibt bzgl. dieses Themas zusammenfassend:
Pathologische Scham entsteht also dann, wenn die Eltern die Suche des Kindes nach Liebe und Anerkennung, nach dem antwortenden Glanz im Auge der Mutter (…) nicht befriedigen. Das kleine Kind empfindet dies als existenzielle Bedrohung, es fühlt sich liebensunwert, wirkungslos, nichtig. (…) Traumatische Scham bedeutet z.B., dass das eigene Verhalten erlebt wird als: ´Ich bin ein Fehler`, statt: ´Ich habe einen Fehler gemacht.` (…) Scham bedeutet Angst vor totaler Verlassenheit (...) vor psychischer Vernichtung“ (Marks 2014, S. 77+78)
Traumatische Schamgefühle wären, so Marks, schmerzhaft und kaum zu ertragen, sie müssen entsprechend abgewehrt werden. „Weil Scham eine so peinigende, kaum auszuhaltende Emotion ist, `schrie´ sie geradezu nach Abwehr, die durch den Nationalsozialismus geboten und legitimiert wurde: (…) durch Idealisierung Hitlers und der Deutschen (…), durch größenphantastische Ansprüche auf Weltherrschaft; durch Versprechungen, die Ehre Deutschlands wiederherzustellen; durch ein heroisierendes und zynisches Weltbild der Härte und damit die Abwehr weicher (´schwächlicher`) Gefühle und humanistischer Werte; durch Verachtung und Vernichtung von jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, aber auch von Non-Konformisten (…).“ (S. 84)
Diesem letzt zitierten Abschnitt geht ein Hinweis bzgl. der Niederlage im Ersten Weltkrieg und entsprechender Schamgefühle voraus. Marks verliert hier den Faden zur Kindheit, den er auch auf den nachfolgenden Seiten über die Scham nicht wieder aufnimmt. Allerdings findet er ihn im darauffolgenden  Kapitel 4 „Narzissmus und narzisstische Kollusion“ insofern etwas wieder, weil er noch einmal explizit auf Kindheitserfahrungen eingeht.

Der Autor zitiert die Arbeit des Psychoanalytikers Neville Symington, der pathologischen Narzissmus als Abwehrstrategie sieht, „mit der sich Menschen vor unerträglichen psychischen Schmerzen schützen, die auf traumatische Erfahrungen im Zusammenhang mit verweigerter Anerkennung zurückgehen (z.B. auf das Trauma, als Kind missachtet worden zu sein). Wenn diese Traumata nicht durchgearbeitet werden konnten, schlagen sie laut Symington häufig um in Hass gegen die Grundtatsache der menschlichen Existenz: dass nämlich das Selbst des Menschen immer in Beziehung zu anderen Menschen steht.“ (Marks 2014, S. 105)
Auf der nachfolgenden zwei Seiten geht Marks auf den „narzisstischen Missbrauch“ von Kindern durch Elternfiguren ein. Seine Schlussfolgerung ist, dass der Nationalsozialismus „wie eine kollektive narzisstische Kollusion funktionierte. Aus der Perspektive der Anhänger des  Nationalsozialismus: Durch ihre Beteiligung am `Dritten Reich` wurde das Loch in ihrem Selbstwertgefühl wie mit einer Plombe gestopft. Aus der Perspektive des  Nationalsozialismus: Durch sein Propagandaprogramm vermochte er, die narzisstische Bedürftigkeit seiner Anhänger für seine Zwecke zu instrumentalisieren. (….) Die Wirkung von Bewunderung auf narzisstisch bedürftige Menschen stelle ich mir vor wie einen Tropfen Wasser, der von einem trockenen Löschblatt sofort `gierig` aufgesaugt wird. Die emotionalen Beziehungen innerhalb der NS-Gesellschaft waren demnach ein vielfältiges Geflecht von Bewundern und Bewundert-Werden.“ (Marks 2014, S. 108) Marks zitiert in diesem Kapitel einen Befragten, der bzgl. seiner Zeit bei der SS berichtet: „Ich war stolz, etwas zu sein. (….) Die Minderwertigkeitskomplexe, die ich immer gehabt habe, die waren dann plötzlich verschwunden. Plötzlich war ich wer.“ (Marks 2014, S. 107+108)
Was Marks an dieser Stelle wie auch in vielen anderen Zitaten bzgl. seiner Interviewpartner verpasst hat (oder evtl. keine konkreten Antworten bekam) ist die gezielte Frage nach der Kindheit. Wie war die Kindheit dieses ehemaligen SS-Mannes, wie die der anderen ehemaligen Nazis, die für diese Studie befragt wurden? Der Studie hätte es gut getan, wenn z.B. am Ende der Interviews ein schriftlicher Fragebogen mit konkreten Fragen wie sie bzgl. Gewaltstudien beim Thema Kindesmisshandlung standardisiert üblich sind von den Befragten ausgefüllt worden wäre. So bleibt es bei leichten Andeutungen wie z.B. bzgl. des Befragten Herrn Plessner (Marks 2014, S. 110), der als Kind oft alleine gelassen wurde und nur eine schriftliche Arbeitsanweisung auf dem Tisch zu Hause vorfand. Seine Ausführungen machen deutlich, wie er sich nach einem anerkennenden Blick sehnte, den er bei den Nazis fand. An anderer Stelle im Buch wird ein Interviewauszug mit Frau Groeder beschrieben, die harte selbst erlebte Erziehungsmethoden und ihre Abschiebung in ein Internat komplett unkritisch und idealisierend gegenüberstand. Es habe ihr nicht geschadet.  Marks kommentiert das Prinzip, dem die Befragten folgt so: „Verachte deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Marks 2014, S. 127) Entsprechend ginge diese Verachtung einher mit Bewunderung  von strenger Erziehung und Idealen des Nationalsozialismus (bei gleichzeitiger Verachtung der „heutigen Jugend“). Dies sind – zumindest nach meiner Durchsicht – die beiden einzigen Textstellen im Buch, wo ansatzweise deutliche Hinweise auf die Kindheit der Befragten zu finden sind.

Die beiden letzten Kapitel möchte ich nicht zu ausführlich besprechen. Marks geht im Kapitel 5 ausführlich auf die transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen im Ersten Weltkrieg ein. Er weist darauf hin, das 11 Millionen Veteranen nach Hause zurückkehrten und psychische Wunden mitbrachten. (Marks 2014, S. 133) „Die transgenrationale Weitergabe geschieht nicht nur durch das, was die traumatisierten Väter bzw. Eltern ihren Kindern sagen, sondern vor allem durch das, was sie sind. Wie sie ihre Töchter und Söhne anschauen, behandeln oder bewerten, wie sie sich auf sie beziehen. Die Veteranen selbst, mit all ihren psychischen Deformierungen, sind die Botschaft: Ihre Derealisierung, Gefühls- und Empathielosigkeit, Idealisierung und Heroisierung wird an die Kinder weitergereicht.“ (Marks 2014, S. 137+138)
Im letzten Kapitel (Nr. 6) vergleicht er das NS-System mit Sucht/Abhängigkeit. Er geht auf das rauschhafte Erleben ein, von dem die Befragten berichten, auf ihre Abhängigkeit und dem Loch in das Viele mit Ende des Krieges („Stunde Null“) vielen.
Im Schlussteil des Buches streift Stephan Marks nur noch in einem Absatz das Thema Kindheit, in dem er auf eine Studie hinweist, die nachwies, das Rechtsextremisten systematische Kränkungen und Misshandlungen im Elternhaus erlebten. Auf den letzten Seiten gibt es eher allgemein präventive Hinweise, einige Schlussgedanken und ein Plädoyer für wertschätzende, freundliche Formen des Umgangs miteinander.

Zusammenfassende Kritik

Außerhalb der Psychohistorie ist das hier besprochene Buch eines der erkenntnisreichsten, das ich bzgl. der Ursachen und der Dynamik der NS-Zeit gelesen habe. Es ist sehr nah dran an meinem Ursachen-Verständnis von gesellschaftlicher Destruktivität wie sie sich z.B. in der NS-Zeit zeigte. Die große und wahre Botschaft des Buches lautet, dass es keinen Sinn macht, den Nationalsozialismus irgendwie rational oder geschichtswissenschaftlich nachvollziehen oder erklären zu wollen. Es geht um die emotionale Welt. Es geht darum, wie die Emotionen der Menschen angesprochen wurden, wie sie gefühlsmäßig an und in das System eingebunden wurden und sich dadurch letztlich einfach gut oder "gesehen" fühlten. Das besonders Wertvolle an der Studie ist, dass mit ehemaligen Nazis direkt ausführlich gesprochen wurde und der emotionale Gehalt der Gespräche analysiert wurde. Eine ähnliche Arbeit ist mir bisher nicht bekannt, obwohl eine solche Herangehensweise doch eigentlich nahe liegt.

Meine Hauptkritik an dem Buch habe ich oben bereits angedeutet. Obwohl der Autor den wichtigen Einfluss von destruktiven Kindheitserfahrungen gesehen und beschrieben hat, hat er diesem Einfluss kein entsprechendes Gewicht im Buch verliehen. Er geht im Grunde nicht auf die allgemein übliche extrem destruktive Erziehungspraxis um 1900 ein (die z.B. deMause beschrieben hat), was seine Thesen vom pathologischem Schamgefühl und narzisstischer Bedürftigkeit der Menschen in der damaligen Zeit untermauert hätte. Man findet entsprechend auch im Schlussteil keine Forderung für verbesserten Kinderschutz und Elternschulungen. Im Schlussteil bleibt der Autor auch ein bisschen pessimistisch. Im Klapptext des Buches wird es vom Verlag noch deutlicher formuliert: Das Beunruhigende an den Erkenntnissen im Buch sei, „all dies kann auch heute noch instrumentalisiert werden.“ Ich sehe dies nur bezogen auf einzelne Personen und kleiner Milieus/Subkulturen so. Die Kindheit und Fürsorge in Deutschland hat sich enorm entwickelt und elterliche Gewalt gegen Kinder ist stark rückläufig. Entsprechend müssen pathologische Schamgefühle und narzisstische Bedürftigkeit deutlich zurückgegangen sein. Die Menschen  werden demnach auch im Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte immer selbstbewusster, immer weniger anfällig für „falsche Götter“ (wie der Psychoanalytiker Arno Gruen eines seiner Bücher betitelt hat) oder schlicht weg einfach immer empathischer.
Auf der anderen Seite sehen wir weiterhin, dass in den Regionen auf der Welt, die keine Demokratie hinbekommen, wo Krisen, Krieg und/oder Terror herrscht, die weltweit verglichen gewaltvollsten Kindheiten zu finden sind. Die Lehren, die wir Deutschen aus unserer Nazi-Geschichte ziehen sollten, sind: Wir müssen den Kindern in der Welt helfen, wir müssen Kinderschutzbemühungen weltweit vorantreiben, wir müssen verhindern, dass Menschen mit einem „emotionalen Loch“ heranwachsen. Aber vor dem müssen wir erst einmal die eigentlichen Ursachen von destruktiven gesellschaftlichen Entwicklungen gesamtgesellschaftlich besprechen und natürlich auch anerkennen. Das Buch von Stephan Marks ist 2014 in der 3. Auflage erschienen. Das an sich spricht für ein größeres Interesse an emotionalen Ursachen der NS-Zeit. Online habe ich allerdings nicht viele Buchbesprechungen gefunden, vor allem auch nicht in den großen Medien. Dies zeigt wiederum, dass es leider noch etwas Zeit brauchen wird, bis die Botschaft des Buches und erst Recht die Botschaften der Psychohistorie breitflächig ankommen.