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Samstag, 9. Februar 2013

Kindheit von Rudolf Heß

Rudolf Heß in einem Brief an seine Eltern vom 24.04.1925, in dem er sich und seine starke Anbindung an Hitler erklärte. „(…) Ich habe mich ja seinerzeit so gefreut,  als nach dem November 23 (Anmerkung: Gemeint ist der 23.11.1923, als die NSDAP reichsweit verboten wurde), da fast alle wankten, Ihr unerschüttert zum Tribunen (Anmerkung: Gemeint ist Adolf Hitler) standet … Und lieber Gott, im Grunde seid Ihr ja eigentlich selbst daran schuld, dass ich so geworden bin und also so handeln muss …“    (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 444)




Die Kindheit von Rudolf Hess ergänzt das Bild, dass ich bisher über einzelne NS-Täter gezeichnet habe.  Dazu im Text unten mehr. Allerdings ergänzt auch die Arbeit der Historiker Manfred Weißbecker (Jahrgang 1935) und Kurt Pätzold (Jahrgang 1930) das Bild, das ich immer wieder bei meinen Recherchen über die Kindheit diverser Diktatoren und ähnlicher Akteure fand. Die destruktive Kindheit wird zwar von den Historikern wahrgenommen und erwähnt, aber erstens nicht weitgehend ausgeführt und zweitens dementsprechend so kommentiert, dass ihr kaum Bedeutung beigemessen wird. Zunächst beginnen die Autoren ihre Schilderungen über die Familienatmosphäre so: Die Kinder „wuchsen in wohlhabenden Verhältnissen und sorglos auf; später wird Heß einmal den Eltern danken: »Wir haben eine freudenreiche und glänzende Jugend gehabt, wie man sie sich schöner und abwechslungsreicher nicht vorstellen kann.«“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 15) Diese Beschreibung einer „sorglosen“ Kindheit mag stimmen, wenn es um die finanziellen Verhältnisse und den Status der Familie ging, denn diese waren dank lukrativer Geschäfte in Ägypten (wo die Familie die ersten Lebensjahre von Rudolf ihren Hauptwohnsitz hatte) sehr gut. Die emotionale Situation war allerdings alles andere als sorglos, was auch die beiden Autoren kurz beschreiben.“Das Geschäft diktiert den Ablauf der Tage und wohl auch den Umgangston im Hause. Äußerste Pünktlichkeit, penible Ordnung und uneingeschränkte Disziplin galten als höchste Werte des patriarchalisch herrschenden Vaters, eines typischen Angehörigen stramm national gesinnter Schichten des deutschen Bürgertums.“ (ebd.: S. 17)
Aber gleich danach merken Sie an: „In der historischen Literatur ist immer wieder auf die Strenge des Vaters verwiesen worden. Spätere Entwicklungen und Verhaltensweisen des »Führer-Stellvertreters» sollen damit verstehbar werden. Psychoanalytische Deutungen dieser Art treffen gewiss zu, sie reichen jedoch keineswegs aus, alle Ursachen und die wesentlichsten Rahmenbedingungen der Sozialisation von Rudolf Heß zu erhellen. Mitunter verdecken sie andere, wichtigere Umstände und Faktoren.“ (ebd.: S. 17) Dann kritisieren sie auch noch die Quellenlage. Vieles sei aus den Erinnerungen von Rudolf Heß selbst überliefert, als er bereits an der Spitze der NSDAP stand oder aus seiner Zeit im Gefängnis. (wo ich mich frage, warum denn diese Erinnerungen keine Gültigkeit haben sollten?). Zudem kritisieren sie „manches, was von Autor zu Autor übernommen worden ist (…)“ (ebd.: S. 17), ohne zu erwähnen, welche Autoren sie meinen und was „manches“ bedeutet. Zumindest haben auch Pätzold und Weißbecker die Strenge des Vaters wahrgenommen, in dem sie oben die Werte des „patriarchalisch herrschenden Vaters“ beschreiben und etwas weiter im Text - nebenbei -von dem  „oft als tyrannisch geschilderten Vater“ (ebd.: S. 21) berichten.  Diesen Widerwillen gegenüber Kindheitseinflüssen auf politisches Verhalten und deren entsprechend geringer Gewichtung habe ich derart oft in Büchern von Historikern wahrgenommen, dass dies fast schon eine gesonderte, systematische Analyse Wert wäre.

Deutlichere Worte fand allerdings der Historiker  Rainer F. Schmidt (Jahrgang 1955). „Alle Psychiater, die sich in späteren Jahren mit dem Charakter und der Persönlichkeitsstruktur von Rudolf Heß, mit seiner Fixierung auf Hitler und die Kommandowelt des Totalitären beschäftigen, stimmen darin überein, dass der Schlüssel für diese Disposition in der Phase der primären Sozialisation, in der Jugend mit einem strengen und übermächtigen Vater zu suchen ist.“ (Schmidt, 1997: S. 37) Schmidt berichtet über die Familie Heß: „Zum prägenden Faktor seiner frühen Jahre wurde eben jener strenge, polternde und keinen Widerspruch duldende Vater, der nach Rudolfs eigenen Worten »bleichen Schrecken bei seiner Brut« verbreitete.“ (ebd.: S. 38) Der ganze Tagesablauf der Familie war auf die Ansprüche des Vaters abgestimmt. „(…) von den vollzählig versammelten Familienmitgliedern erdreistete sich niemand, ein Wort zu sprechen, solange der Vater nicht geruhte, das Gespräch zu eröffnen. Er war es, der das Lachen der spielenden Kinder zum Verstummen brachte, wenn er das Haus betrat (…)“ (ebd.: S. 38,39) Der Vater zwang seinen Sohn auch - trotz anderer Befähigungen und Interessen- in den Kaufmannsberuf. Schmidt zitiert Heß wörtlich im Rückblick auf eine Szene: „Als eines Tages der liebe Vater feierlich die ernste Frage an mich stellte, was ich werden wollte – in dem Ton, bei  dem allein uns schon das Blut zu gerinnen drohte …, da kam es mir gar nicht in den Sinn, etwas anderes zu stottern als «Kaufmann».“ (ebd.: S. 39)

Schmidt ergänzt danach, dass immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass viele führende Nationalsozialsten aus strengen Elternhäusern stammten und Hitler wiederum von den „Erziehungsschäden einer Epoche profitierte, die ihre pädagogischen Leitbilder von den Kasernenhöfen holte und ihre Söhne in den Härtekategorien von Kadetten aufzog“ (ebd..: S. 39; hier zitiert er Joachim Fest). Eine erstaunliche (weil relativ seltene) Aussage, deren Wahrheitsgehalt ich mich anschließe, sie trifft aber nicht meine Wahrnehmung bzgl. der Geschichtswissenschaft, dies diese Zusammenhänge oft unter den Tisch kehrt. (Zudem ist das Wort „streng“ wohl etwas verharmlosend, wenn man um die Realität der Kindheit im Deutschen Reich um 1900 weiß.) Rudolf Heß, so Schmidt weiter, „der unsäglich unter der tyrannischen Natur seines Vaters (…) litt, die immer wieder seinen Willen brach und die Basis schuf für die Anfälligkeit gegenüber und die Suche nach einem «Ersatzvater», entsprach exakt diesem Typus.“ (ebd.: S. 39)

Es bleibt unserer Vorstellungskraft überlassen, was sich alles an Gewalt, Gewaltformen und Gewaltandrohung im Hause Heß abgespielt hat. Wenn schon der Tonfall des Vaters das Blut des Sohnes gerinnen ließ, wie dieser es bildlich ausdrückte und der Vater „blanken Schrecken“ bei den Kindern verbreitete, was geschah dann eigentlich, wenn der Vater offen Strafen ausführte oder sich Launen hingab? Die Historiker lassen diese Frage offen. Ich halte es nach den o.g. Schilderungen für sehr sehr wahrscheinlich, dass Rudolfs Vater auch direkt körperliche Gewalt anwandte, sein Charakter und die Sitte der Zeit legen dies sehr nahe.

Es ist bezeichnend, dass man über die Mütter solcher historischen Persönlichkeiten meist weitaus weniger erfährt, als über die Väter. Dabei sind es ja vor allem die Mütter, die historisch die wesentlichen Erziehungsaufgaben übernahmen. Man kann sich auf Grund von zwei Zeugnissen und etwas Vorstellungskraft ausmalen, dass Rudolfs Mutter keine besonders mitfühlende  Person/Mutter war. Von der Mutter erfuhr Rudolf während seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg direkten Zuspruch. Sie schrieb. „Wäre ich ein Mann in der Blüte der Jahre, ich würde auch mit Begeisterung für mein Vaterland kämpfen. Ich will versuchen, wenn auch nicht als Soldat, so doch für das Wohl der Zurückgebliebenen meine Kraft mit zu verwenden.“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S.22) Mit dieser Einstellung entsprach sie sicherlich den meisten Müttern der Zeit. Doch waren das herzliche, mitfühlende Mütter, die derart kriegsbegeistert waren? Noch deutlicher wird es an anderer Stelle. Bei beiden Heß Eltern kam Unmut auf, weil ihr Sohn im Ersten Weltkrieg anfänglich Reservist war und nicht sofort auf eines der umkämpften Schlachtfelder kam. „Klara Heß zeigte sich sechs Wochen nach Kriegsbeginn furchtbar enttäuscht, dass ihr Sohn immer noch «zurückgehalten» werde, seine «junge Kraft für die Freiheit des teuren Vaterlandes einzusetzen»“ (ebd.: S. 23) Und sie beteuerte: „Wir geben Dich dem Vaterland, kommst Du uns lebend zurück, so sehen wir dieses Glück als ein Geschenk Gottes an.“ (ebd.: S. 23) Was ist das für eine Mutter (und wie sah ihr Umgang früher ihren Kindern gegenüber aus), die derart bereitwillig ihren Sohn in den wahrscheinlichen Tod laufen lässt; die ihren Sohn geradezu zu opfern bereit ist?

Arno Gruen hat unter dem Zwischen-Titel „Der reduzierte Mensch“ (Gruen, 2002: S. 164) u.a. Rudolf Heß als Paradebeispiel für einen Menschen ausgewählt, der innerlich leer ist, „eines Ich ohne eigenes Selbst (…); eines Menschen, der keine eigene Identität entwickeln konnte und deshalb jemanden sucht, dem er sich bedingungslos unterwerfen kann. (…) Ein solcher Mensch ist völlig gefangen und völlig beherrscht von dem Diktat des Gehorsams, der ihm auferlegt wurde.“ (ebd.: S. 177,178) Diese innere „Fremdsein“ brachte Heß auch selbst deutlich zum Ausdruck. „Wenige Tage vor dem ersten Putsch der deutschen Faschisten bekante er, wie es um seine Gemütsverfassung stand. Er kenne sich nicht mehr aus in sich, so klagte er im Oktober 1923. Er meinte, sich als eine «eigentümliche Mischung» sehen zu müssen, woraus Spannungen entstünden, die ihm das Leben zeitweise so schwer machten. (…) «ich kenn` mich nicht aus mit mir. Sind`s moderne Kulturnerven in ihren Extremen, ist´s etwas Ungehobenes, das vorerst vergeblich nach einem Ausweg sucht, ich weiß es nicht»“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S.13,14)

Mir ist bzgl. Heß ergänzen aufgefallen, dass dieser grundsätzlich sehr selbstmordgefährdet war. Alleine schon sein begeisterter freiwilliger Kriegseintritt im Ersten Weltkrieg ist ein Zeichen dafür. Freudig zog er in die Todeszone, wie so viele Deutsche dieser Zeit. In einem Gedicht, in dem Heß seine Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg beschreibt, findet sich folgende erhellende und im Grunde alles sagende Stelle.
„(…) He, Franzmann, das ist böser Morgengruß!
Ihr dort müsst sterben, dass wir leben können,
wir selbst und unser ganzes armes Volk (…).“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 437)
Oder auch ein anderer Ausschnitt aus dieser Zeit: „Die Landschaft weiß von Schnee, Sternhimmel funkelt. … Brennende Ortschaften! Packend schön, Krieg!“ (Schmidt, 1997: S. 40)
Diese „Leben suchen“ im Tod (sowohl des Eigenen als auch des Anderen) ist etwas, das Arno Gruen in seinen Bücher oft beschrieben hat. Es ist die Suche des innerlich nicht Lebendigen, identitätslosen Menschen nach Leben und Fühlen, in einer pervertierten Form. Dies ist auch etwas, dass Mörder/Serienmörder beschrieben haben. (siehe hier und hier)
Nach dem Waffenstillstand und der Niederlage des Deutschen Reiches fühlte sich Heß im „schwersten Augenblicke“ seines Lebens. „An den Frieden darf man nicht denken.“ schrieb er nach Hause.„ (Schmidt, 1997: S. 42,43) Rachefantasien hielten ihn aufrecht, so scheint es. Denn zunächst dachte er nach dem Friedensschluss an Selbstmord. „Und das Leiden der Mehrheit der Guten der Heimat soll umsonst gewesen sein? … Nein, wär´s umsonst gewesen, bereute ich heute noch, dass ich am Tag, da die ungeheuerlichen Waffenstillstandsbedingungen und ihre Annahme bekannt wurden, ich mir nicht eine Kugel durchs Hirn jagte. Ich tat es damals nicht in der einzigen Hoffnung: Du kannst noch irgendwie dein Teilchen beitragen zur Wendung des Schicksals.“ (ebd.: S. 43)

Am 15. Oktober 1941 begeht Heß in britischer Haft einen Selbstmordversuch. Er leidet in der Folgezeit an Nervenkrankheiten. Am 17. August 1987 begeht Heß am Ende seiner Tage im Gefängnis in Spandau Selbstmord (Deutsches Historisches Museum, 2009) Auf Wikipedia sind weitere drei Selbstmordversuche beschrieben, die Quellen dafür kann ich allerdings hier nicht weiter nachverfolgen.
 Heß, der keine eigene Identität besaß und der in der Folge von (Selbst-)Hass  durchzogen war, suchte den Tod, den eigenen, wie auch den von Millionen anderer Menschen.

Zum Abschluss noch eine persönliche Anmerkung. Wenn ich mir Fotos von Heß anschaue, dann springt mich die „innere Leblosigkeit“ dieses Mannes geradezu an. Tief verborgene, schattige Augenpartie, ungemein gerade und nichts-sagende Gesichtszüge, ein flacher Mund, leere Augen und Kälte. Der Gefängnis-Psychiater James Gilligan hat die von ihm untersuchten Mörder als „Untote“ bezeichnet, innerlich tot, körperlich am Leben. Rudolf Heß passt genau in diese Kategorie Mensch.



Quellen:

Deutsches Historisches Museum (2009): Biographie: Rudolf Heß. 1894-1987.
.
Gruen, Arno (2002): Der Fremde in uns. München. Deutscher Taschenbuch Verlag.

Pätzold, Kurt und Weißbecker, Manfred (2007): Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite. Leibzig. Militzke Verlag.

Schmidt, Rainer F. (1997): Rudolf Heß. "Botengang eines Toren"?, Der Flug nach Großbritannien vom 10.  Mai 1941. Düsseldorf. ECON Verlag.

Dienstag, 4. Oktober 2016

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Montag, 27. Oktober 2008

2. Historische und aktuelle Dimensionen der Gewalt gegen Kinder

Hinweis: Mein gesamter "Grundlagentext" ist mittlerweile veraltet, insofern würde ich heute den Zahlenteil auch etwas anders darstellen. Bitte sonstige Blogbeiträge verfolgen, da ich mich immer wieder mit Zahlen und Studien befasse, alte Texte aber nicht ständig aktualisieren kann!

Die Lebendigkeit und der Eigenwille des Kindes, die Quelle von Aufmüpfigkeit und Autonomie, muss eingedämmt werden, so dachte man großteils im geschichtlichen Verlauf. Es galt die Maxime, die von Schmidt 1887 in der "Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens" exemplarisch formuliert wurde: "Der Wille des Kindes muss gebrochen werden, d.h. es muss lernen, nicht sich selbst, sondern einem anderen zu folgen" (zit. n. Keupp, 1999, S. 6). Diese Maxime durchzieht die Geschichte fast aller menschlicher Gesellschaften. Die Bibel ist ein weiterer exemplarischer Beleg dafür: Wer seine Kinder liebt und vor Torheiten bewahren will, der schlägt und züchtigt sie, ist der „erzieherische“ Leitgedanke vor allem im Alten Testament. (vgl. z.B. Dtn 21,18-21; Spr 3,11; Spr 3,12; Spr 13,24; Spr 29,17; Sir 22,6; Sir 30,12) Zudem galten Kinder lange Zeit als Besitz ihrer Eltern bzw. des Vaters, mit denen nach Belieben umgegangen werden konnte; Kinder waren recht- und schutzlos. "Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen.", schrieb der Psychohistoriker Lloyd deMause (1992) zur Evolution der Kindheit. (deMause, 1992, S. 12) Und: „Je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto mehr sinkt das Niveau der Kindererziehung.“ (ebd., 2005, S. 269)

Nachfolgende Zahlen aus der Gegenwart zeigen, wie nachhaltig die „Geschichte der Kindheit“ weiterhin wirkt: In sozialwissenschaftlichen Studien ist belegt, dass die Hälfte bis zwei Drittel aller Eltern ihre Kinder körperlich bestrafen, wobei man davon ausgeht, dass 10 bis 15 % dies häufig und schwerwiegend tun.[1] (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2002, S. 220)
Eine bundesdeutsche Repräsentativstudie kommt auf der Opferseite zu ähnlichen Ergebnissen. 74,9 % der Befragten gaben an, in ihrer Kindheit körperliche Gewalterfahrungen seitens ihrer Eltern erlebt zu haben. 38,4 % wurden häufiger als selten körperlich gezüchtigt. Elterliche Misshandlungen erlebten 10,6 %, 4,7 % häufiger als selten. (vgl. Wetzels, 1997. S. 146)
Ein Vergleich zwischen drei repräsentativen Jugendstudien (jeweils 1992, 2002 und 2005) zeigt, dass ca. 30 % (jeweils nach Jahreszahlen 31,8 %, 29,6 % und 32 %) der Jugendlichen gewaltfrei erzogen wurden. Die große Mitte sind die „konventionell“ erzogenen, die häufig leichte körperliche Bestrafungen und andere Sanktionen erfahren haben und in deren Erziehung „weitgehend“ auf schwere körperliche Gewalt verzichtet wurde. (Zahlen jeweils in der Reihenfolge der Jahreszahlen: 36,4 %, 51,2 % und 46, 7 %). Eine gewaltbelastete Erziehung (Diese Gruppe weist bei allen Sanktionsarten – inkl. psychischer Gewalt - eine überdurchschnittlich hohe Häufigkeit auf, insbesondere auch schwere Körperstrafen.) erlebten jeweils nach Jahreszahlen 31,8 %, 19,3 % und 21,3 %. (vgl. Bundesministerium der Justiz, 2007, S. 18)
(Hinweis: Es gibt neuere rep. Studien zum Sexuellen Missbrauch, die andere Zahlen nahelegen!)
Bei einer weit gefassten Definition kann außerdem auf Grundlage von vor allem europäischen und nordamerikanischen Studien davon ausgegangen werden, dass jedes 3./4. Mädchen und jeder 7./8. Junge mindestens einmal sexuell missbraucht wird (ca. 25% der Übergriffe erfolgen durch Familienangehörige, weitere 50-60% durch Menschen aus dem sozialen Nahbereich). (vgl. Bange, 2002; Gloor / Pfister, 1995; Finkelhor, 1997; Bundesarbeitsgemeinschaft Prävention & Prophylaxe e.V.) DeMause (2005) hat darauf hingewiesen, dass höhere Raten nachgewiesen werden, wenn mit den Befragten ein Vertrauensverhältnis im Rahmen von Interviews, die zwischen einer und acht Stunden gehen, aufgebaut werden kann. Demnach gaben bei entsprechenden amerikanischen Studien zwischen 38% (Studie von Russel) und 45 % (Studie von Wyatt) der befragten Frauen an, in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein. (vgl. deMause, 2005, S. 256)
Auch die Kindesvernachlässigung ist laut Einschätzungen von Experten eine weit verbreitete Form von Kindesmisshandlung. Esser (2002) geht davon aus, dass in Deutschland 5 bis 10 % aller Kinder mit klinisch relevanten Folgen durch ihre Eltern abgelehnt oder vernachlässigt werden. Esser beschreibt zudem eine deutsche Risikokinderstudie, in der 384 erstgeborene Kinder von der Geburt bis zum Alter von 11 Jahren begleitet wurden. Bei 15,4 % aller Kinder wurden Ablehnung und/oder Vernachlässigung festgestellt. (vgl. Esser, 2002, S, 103ff) Andere Quellen stellen das Ausmaß der Vernachlässigung wie folgt dar: Als Untergrenze wird geschätzt, das mindestens 50.000 Kinder in Deutschland unter erheblicher Vernachlässigung leiden, nach oben hin schwanken die Zahlen zwischen 250.000 und 500.000 Kindern. (vgl. Deutscher Kinderschutzbund / Institut für soziale Arbeit e.V., 2000)
Die Forschung bzgl. psychischer Misshandlung ist dagegen erst in den Anfängen. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass die psychische Misshandlung die häufigste Form der Kindesmisshandlung ist und zudem oftmals mit anderen Misshandlungsformen einhergeht. (vgl. Brassard / Hardy, 2002, S. 589ff) Auch diese Misshandlungsform hat erhebliche Folgen für die Kinder.
Ein weiteres relativ unbeleuchtetes Feld ist das Miterleben von Gewalt und die möglichen Folgen für die Kinder. Strasser (2001) vermittelt eindrücklich, wie Gewalt gegen Frauen auch als Trauma für die mit den Erwachsenen zusammenlebenden Kinder wirken kann bzw. wie häusliche Gewalt gegen Frauen eine Form von psychischer Gewalt gegen Kinder darstellt.
Eine erste deutsche repräsentative Studie zeigt, dass von 10.000 befragten Frauen jede Vierte im Alter von 16 bis 85 Jahren bereits ein- oder mehrmals körperliche oder zusätzlich sexuelle Übergriffe eines Beziehungspartners erlitten hat. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004a)
Sofern Kinder in den betreffenden Familien leben, werden hier die möglichen Dimensionen der von Kindern miterlebten Gewalt deutlich. Die Arbeit am zusätzlichen Tabuthema „Frauengewalt gegen Männer“ zeigt darüber hinaus, dass auch Frauen an häuslicher Gewalt beteiligt sein können und dies ebenfalls Folgen für die Kinder haben wird. (vgl. ausführlich Kantonale Fachkommission für Gleichstellungsfragen, 2006)
Auch Geschwister, die Gewalt miterleben, müssen in diesen Themenkomplex Beachtung finden. Elterliche Gewaltanwendung gegenüber Kindern ruft nicht nur Schäden bei dem unmittelbar angegriffenen Opfer hervor. Es wird angenommen, dass die nichtangegriffenen Geschwister psychisch in ebensolchem Maße geschädigt werden wie das eigentliche Opfer und so zu mittelbaren Opfern werden. Das Erlebnis von Tätlichkeiten der Eltern gegenüber dem Bruder oder der Schwester verursacht bei ihnen Furcht und vermittelt ein Gefühl der Verwundbarkeit und der mangelnden Geborgenheit. Zusätzlich werden Zusammenhänge zwischen eigenem späteren Gewaltverhalten und dem Miterleben von Gewalt angenommen. (vgl. Schneider, 1998, S. 337)
Ins Blickfeld der Wissenschaft gerät zunehmend auch der Fötus und dessen (psychische) Entwicklung im Mutterlaib. DeMause (2005) weist nach, dass bereits Föten Stress und Gewalt erleben und erinnern, was Auswirkungen auf das spätere Leben haben kann (Er nennt dies „Fötales Drama“). Föten erleben z.B. psychische oder körperliche Gewalt durch den Partner gegen die Mutter, direkte Ablehnung des Fötus, Belastungen durch Alkohol-, Drogen- oder Nikotinkonsum der Mutter, Belastungen durch Stress- und Angstzustände der Mutter usw. (vgl. deMause, 2005, S.56ff)
Ich habe lange nach einer passenden Formulierung für ein weiteres Themenfeld gesucht und diese schließlich (mehr zufällig) in einem Text gefunden, der sich mit den Auswirkungen der NS-Erziehungsideale beschäftigt: „Die Frage scheint mir berechtigt, ob die Enteignung des Kindes schon weit früher, vor der Geburt, sogar vor der Zeugung beginnt und ob dies für das Kind schon in frühem Stadium von Bedeutung sein könnte. Alle Eltern bilden ja aus Erwartungen, Hoffnungen, Fantasien erste Identitätsvorstellungen um das erwartete Kind herum. Sie weben damit gleichsam eine psychische Hülle, in die das Kind dann hineingeboren wird. Diese Hülle ist von der Einstellung der Eltern zum Kind stark geprägt. Bildlich gesprochen braucht das Neugeborene diese Hülle, um eine gesunde Haut bilden zu können.“ (Langendorf, 2006, S. 278ff) Die Erwartungen von Eltern innerhalb des NS-Systems wirkten sich schon früh negativ auf die Kinder aus, so der weitere Ansatz von Langendorf. Dies kann man sicherlich auch weiterstricken. Ich denke z.B. an Eltern, deren Grund fürs Kinderkriegen der ist, dass sie von „ihrem Unglücklichsein“ befreit werden wollen; ich denke an Frauen, die eine Trennung auf sich zukommen sehen und die „schnell noch mal“ ein Kind bekommen, um den Partner doch noch irgendwie zu binden; ich denke an Leihmütter, die das Kind für andere Eltern bekommen; ich denke an die Eltern, die ein zweites und drittes Kind bekommen, weil „es beim ersten irgendwie alles schief gelaufen ist“ usw. usf. Es geht also im Kern um den eigentlichen Grund fürs Kinder kriegen. In diesem Grund findet sich so manches mal schon die erste Demütigung, Missachtung und Funktionalisierung des Kindes.

Zu vermuten ist auch, dass Ausmaß und Härte der Kindesmisshandlung in noch weitgehend traditionelleren, patriarchalen Gesellschaften entsprechend höher und ausgeprägter sein könnte. Entsprechende Gesellschaftsstrukturen stellen laut Gelles (2002) einen Risikofaktor für Gewalt in der Familie dar. (vgl. Gelles, 2002, S. 1060)
In Ägypten sagten beispielsweise bei einer Umfrage 37 % der Kinder, dass sie von ihren Eltern geschlagen oder gefesselt würden. 26 % berichteten über Knochenbrüche, Bewusstlosigkeit oder eine bleibende Behinderung aufgrund der Misshandlungen. (vgl. Youssef, Attia & Kamel, 1998 zit. nach WHO, 2002, S. 62) In Äthiopien berichteten 21 % der befragten städtischen Schüler und 64 % der ländlichen Schüler von Blutergüsse oder Prellungen auf Grund körperlicher Bestrafungen durch ihre Eltern. (Ketsela & Kedebe, 1997 zit. nach WHO, 2002, S. 62) Im Iran wurden Schüler im Alter von 11 bis 18 Jahren befragt. 38,5 % berichteten über körperliche Gewalt in ihrer Familie, die leichte bis schwere Verletzungen zur Folge hatte. Im Yemen berichteten fast 90% der Kinder, dass körperliche Bestrafungen und Demütigungen die wesentliche Disziplinierungsform in ihren Familien darstellt. Das selbe Bild ergab eine Untersuchung in Südkorea, dort halten 90 % der Eltern körperliche Bestrafungen ihrer Kinder für notwendig. (vgl. UNICEF, 2006b, S. 52ff)
Eine Studie kommt zu dem Schluss, dass 36,1 % aller kolumbianischen Kinder irgendwann Opfer von Misshandlungen werden. Jedes zehnte Kind, das in ein kolumbianisches Krankenhaus eingeliefert wird, muss wegen häuslicher Gewalt behandelt werden; die Dunkelziffer wird hier vermutlich viel höher liegen, da viele Ärzte sich nicht der Mühe unterziehen, Misshandlungen anzuzeigen. (vgl. BRENNPUNKT LATEINAMERIKA, 2005, S. 39)
Garbarino & Bradshaw (2002) berichten, dass in China Kinder als „Eigentum“ ihrer Eltern angesehen werden, wodurch auch die Wahrscheinlichkeit sinken würde, dass Nachbarn etc. bei einem Verdacht auf Misshandlungen z.B. in Form einer Anzeige eingreifen würden. (vgl. Garbarino & Bradshaw, 2002, S. 901) Bereits die Definition als "Eigentum" stellt meiner Ansicht nach eine erhebliche Demütigung und Missachtung des Kindes dar. Etwas mehr Licht ins chinesische Dunkelfeld bringen folgende Zahlen: 461 von 1000 (ca. 46 %) befragten chinesischen Eltern (in Hong Kong) berichteten, dass sie schwere körperliche Gewalt gegen ihre Kinder angewendet haben. (vgl. WHO, 2002, S. 63) Eine Studie, in der SchülerInnen direkt befragt wurden ergab, dass 22,6 % der chinesischen und 51,3 % der süd-koreanischen Kinder schwere körperliche Gewalt durch ihre Eltern erlebt haben. (ebd.)

DeMause zeichnet ein eindrückliches Bild von der elterlichen Gewalt gegen Kinder in islamisch, fundamentalistischen Familien und Gesellschaften (z.B. Palästina, Pakistan, Afghanistan oder auch Saudi-Arabien) und kommt zu dem Schluss, dass die dort existierenden „Erziehungspraktiken“ jenen sehr ähnlich sind, wie sie einst Kindern im mittelalterlichen Westen routinemäßig zugefügt worden sind. In Form von: Sexuellem Missbrauch, strikter Gehorsamseinforderung, Schlagen, Treten, Schütteln, Schneiden, Vergiften, Unter-Wasser-Halten, Würgen, Beschießen, Stechen, Beißen, Verbrennen, Ermorden usw. (vgl. deMause, 2005, S. 39ff)
Für eine Diplomarbeit – vgl. Bette (2006) - wurden 287 afghanische Schulkinder aus Kabul, Afghanistan befragt. 41,6% der Kinder berichteten, von ihrem Vater geschlagen zu werden und 59,9% berichteten, von ihrer Mutter geschlagen zu werden. Fast ein Drittel aller Kinder berichteten von mehr als fünf Typen häuslicher Gewalterfahrungen. Die Typen häuslicher Gewalterfahrung, die am häufigsten berichtet wurden waren Schläge auf den Körper, die Arme oder die Beine und angeschrien oder beleidigt zu werden.
Besonders Afrika ist leider immer noch weitgehend eine „blackbox“, was die Forschung über die Kindererziehungspraxis und Kindesmisshandlung angeht. Bzgl. Kenia habe ich eine interessante HRW-Studie gefunden, die über das hohe Ausmaß von Gewalt gegen Kinder in Schulen berichtet: „For most Kenyan children, violence is a regular part of the school experience. Teachers use caning, slapping, and whipping to maintain classroom discipline and to punish children for poor academic performance. The infliction of corporal punishment is routine, arbitrary, and often brutal. Bruises and cuts are regular by-products of school punishments, and more severe injuries (broken bones, knocked-out teeth, internal bleeding) are not infrequent. At times, beatings by teachers leave children permanently disfigured, disabled or dead.„ (Human Rights Watch, 1999) Es ist naheliegend, dass eine solche Akzeptanz ja geradezu „Normalität“ von Gewalt an kenianischen Schulen gleichzeitig etwas über die Akzeptanz von elterlicher Gewalt aussagt. In der Studie heißt es dazu weiter. „Various forms of corporal punishment (and other punishments like manual labor) have a long pedigree in Kenya. Many Kenyans told Human Rights Watch that physical chastisement has long been accepted in Kenyan homes.” (ebd.)

In den 90er Jahren wurde in verschiedenen Untersuchungen festgestellt, dass das Ausmaß der häuslichen Gewalt gegen Frauen in Entwicklungsgesellschaften (Ausmaß: ca. 30 bis 80 %) im Vergleich zu westlichen Ländern (Ausmaß: ca. 20 – 28 %) oftmals erheblich höher ist. Pakistan (Ausmaß: 80 %) und Tansania (Ausmaß: 60%) stehen dabei an der Spitze der Liste. (vgl. Seager (1998) zit. nach amnesty journal, 03/2008, S. 16) Entsprechend erleben in diesen Ländern auch Kinder häufiger Gewalt mit.
Untersuchungen aus den USA zeigen darüber hinaus, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Gewalt gegen Mütter und Gewalt gegen Kinder besteht. Die Überschneidung von häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung beträgt je nach Studiendesign 30 % bis 60 %. Zusätzlich wurde in medizinischen Versorgungseinrichtungen festgestellt, dass 45 % bis 59 % der Mütter von misshandelten Kindern gleichfalls von Gewalt betroffen sind. (vgl. Hellbernd / Brzank,. 2006, S. 93) Wenn man diese Zahlen auch für Entwicklungsgesellschaften zu Grunde legt, ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein sehr hohes Ausmaß an Kindesmisshandlung. Für Pakistan mit 80 % betroffenen Frauen wäre dann z.B. anzunehmen, dass auch die Kindesmisshandlung in diesem Land extrem verbreitet ist.
Zusätzlich lässt sich bei diesem Thema auch auf deutsche Untersuchungen bzgl. MigrantInnen zurückgreifen. In einem Sonderteil zeigt eine bereits weiter o.g. Untersuchung, dass in Deutschland lebende türkische Migrantinnen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung deutlich häufiger - nämlich 38 % der Befragten - Gewalt durch Beziehungspartner erfahren haben. Sie hatten außerdem auch mehr Situationen von Gewalt und – gemessen an den Verletzungsfolgen – schwerere und bedrohlichere Formen von Gewalt erlebt als der Bevölkerungsdurchschnitt. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004a) Dass türkisch stämmige Kinder/Jugendliche im Vergleich zu Deutschen häufiger Gewalt zwischen ihren Eltern miterleben, bestätigen auch Pfeiffer & Wetzels (2000), die ca. 16.000 Jugendliche befragt haben. Fast jeder dritte türkische Jugendliche berichtete in den letzten 12.Monaten vor der Befragung Gewalt zwischen den Eltern miterlebt zu haben, gegenüber nur jedem elften Deutschen. Auch elterliche Misshandlungen erlebten türkische Jugendliche signifikant häufiger als Deutsche. (vgl. Pfeiffer & Wetzels, 2000) Dass ethnische Unterschiede im Gewalterleben innerhalb von Familien bestehen, zeigt auch die Untersuchung von Baier & Pfeiffer (2007) bei der ca. 14.300 Jugendliche befragt wurden. Häufiges Erleben von Ohrfeigen, hartes Anpacken, Werfen mit Gegenstand bzw. Erleben von Misshandlung (Verprügeln, mit der Faust schlagen) erlebten türkische (29,8 %), russische (25,4 %), jugoslawische (27,9 %), polnische (27,6 %) und italienische (30,7 %) Jugendliche häufiger als Deutsche (17 %) (Die Deutschen erlebten dagegen häufiger „leichte Züchtigungen“ als die anderen Gruppen). (vgl. Baier & Pfeiffer, 2007)
Dass Deutschland bzw. Europa – trotz erschreckend hoher Gewaltraten gegen Kinder – im internationalen Vergleich kein Maßstab ist, zeigt auch, dass weltweit nur 16 Länder das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert haben (darunter auch Deutschland) - Stand 2006. Bis heute haben 106 Staaten die Prügelstrafe in Schulen nicht ausdrücklich verboten (dazu zählen auch die USA). Weitere Zahlen aus der UNICEF-Studie (2006) sprechen für sich: Schätzungsweise 150 Millionen Mädchen und 73 Millionen Jungen unter 18 Jahren werden zum Geschlechtsverkehr gezwungen oder geschlagen. Zwischen 133 und 275 Millionen Kinder und Jugendliche sind jedes Jahr in ihren Familien Zeugen von gewalttätigen Auseinandersetzungen. Schätzungsweise 5,7 Millionen Kinder leben allein in Südasien in Schuldknechtschaft usw. usf. (vgl. UNICEF, 2006a)
Oftmals bedingt schon der kulturelle Kontext bzw. „die Tradition“ Gewalt. Ich denke da z.B. an Zwangsheiraten und an die Genitalienverstümmelung. Weltweit sind im Jahr 2008 nach Schätzungen von ExpertInnen 51 Millionen Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren zur Heirat gezwungen worden. In den darauf folgenden 10 Jahren werden pro Tag ca. 25.000 hinzukommen, die meisten davon in Afrika und Asien. Die jüngsten Bräute leben in dem indischen Bundesstaat Rajastahn, dort sind 15 % aller Ehefrauen bei ihrer Hochzeit keine 10 Jahre alt. Im Haushalt der Ehemänner werden Kinderbräute oft ausgebeutet und Opfer von Gewalt. Unzählige werden in der Hochzeitsnacht vergewaltigt. (vgl. EMMA, 07./08. 2008) Wie sollen Mädchen und auch Jungen, die (gewaltvoll) zur Heirat gezwungen werden, liebevolle Eltern werden, wenn schon ihre “Liebe” keine echte ist und von Trauer, Wut und Ohnmacht begleitet ist? Und wie ergeht es Frauen, denen als Kind die Genitalien verstümmelt wurden? Ca. 2 Millionen Mädchen (täglich ca. 6000) werden jedes Jahr weltweit Opfer der Genitalenverstümmelung. (vgl. UNICEF, 1997)
Ebenso werden in vielen Ländern Jungen beschnitten. "Die relativ gesehen geringfügigere aber immer noch schwerwiegende Verstümmelung von Jungen wird nach wie vor größtenteils ignoriert, wie auch die Tatsache, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit unabhängig vom Geschlecht gilt. Darüberhinaus wird auch die Beschneidung von Knaben in Ländern der Dritten Welt etwa in Afrika, Vorderasien und Indonesien oder bei den Aborigines in Australien nicht unter Narkose und mit sterilisierten chirurgischen Instrumenten sondern mit sehr primitivem Werkzeug vorgenommen, was nicht selten zu bleibenden Schäden oder gar zum Tod führen kann." (www.uni-protokolle.de, "Beschneidung von Jungen und Männern")

(siehe ergänzend zu den Zahlen "Gewalt gegen Kinder in Entwicklungsländern"!)

Die weiteste Verbreitung der Gewalt gegen Kinder und die extremsten Ausformungen finden sich letztendlich bei den Stämmen und Urvölkern. DeMause hat – sowohl historisch als auch relativ aktuell - nachgewiesen, dass in diesen Kulturen sehr hohe Raten von Kindermord (bei den australischen Aborigines wurden früher z.B. bis zu 50 % der Säuglinge getötet; für Neuguinea gilt, dass die Mütter mindestens ein Drittel ihrer Neugeborenen umbringen), Inzest, Körperverstümmelung, Kindervergewaltigung, Folterung und emotionale Verstoßung zu finden sind. Routinemäßig sind dort dissoziative Persönlichkeitsstrukturen die Folge, was die kulturelle Weiterentwicklung hemmt. (vgl. deMause, 2005, S. 184ff)

Die Ergebnisse weiter o.g. Untersuchungen müssen zusätzlich unter einem Gesichtspunkt betrachtet werden, den eine UNICEF- Studie aus dem Jahr 2003 wie folgt darstellt: „So erschreckend die Ergebnisse solcher Befragungen sind, geben sie doch nur die halbe Wahrheit wieder. Denn man muss davon ausgehen, dass viele ehemalige Gewaltopfer nicht über ihre Erfahrungen in der frühen Kindheit sprechen können oder wollen.“ (UNICEF, 2003)
Von den in einer englischen Studie befragten jungen Erwachsenen, die von den Forschern als „schwer misshandelt“ eingestuft wurden, gaben beispielsweise weniger als die Hälfte dies zu. Von denen, die „gelegentlich misshandelt“ wurden, beschrieben sich weniger als 10 % als „misshandelt“, auch wenn alle von Handlungen sprachen, die sie als „niemals gerechtfertigt“ ansahen. Eine Befragung von 10.000 Erwachsenen in den USA (1994) ergab, das 40 % von denen, die als Kinder nach körperlichen Misshandlungen ein oder zwei Mal medizinische behandelt wurden, sich selbst nicht als „misshandelt“ einstuften.(vgl. ebd.) Das Bild, das Befragungen liefern, ist also nicht übertrieben, sondern scheint noch untertrieben.
US-amerikanische Studien zeigen auch, dass kleine Kinder am stärksten von körperlicher Gewalt bedroht sind. Körperliche Strafen gegen Kinder erreichen demnach einen Höhepunkt im Alter von drei Jahren. (vgl. Melzer/Lenz/Bilz, 2010, S. 962) Gerade bewusste Erinnerungen an konkrete Erlebnisse aus den ersten drei Jahren verblassen später allerdings oftmals. Eine irische Mutter, die ihre Kinder misshandelt hatte, formulierte es so: „Du musst sie schlagen, solange sie noch zu klein sind, um sich daran zu erinnern und dir Vorwürfe machen können.“ (deMause, 2005, S. 241)
Zusätzlich beleuchtet dieser Aspekt des Umdeutens, Verdrängens und der fehlenden bewussten Erinnerung der erlittenen Gewalt etwas, das ich im Kapitel „Das einst misshandelte Volk identifiziert sich mit dem Aggressor“ ausführlich darstellen werde.

Mir ist bewusst, dass manche Thesen, die im weiteren Textverlauf folgen werden, bei vielen LeserInnen starke Widerstände und Kritik hervorrufen könnten. An dieser Stelle des Textes möchte ich allerdings einen – wie ich empfinde - nicht übertriebenen Satz festhalten, der auf Grund obiger Datenlage kaum kritisierbar ist. Zu allen Zeiten, gestern, heute und morgen, herrscht auch in Friedenszeiten Krieg: Der Krieg der Erwachsenen gegen die Kinder. Das enorme Ausmaß ja geradezu die Normalität der Gewalt gegen Kinder und deren Vielfältigkeit muss man sich klar vor Augen führen bzw. muss man sich als ersten Schritt überhaupt bewusst machen, um daraus die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen ermessen zu können. (Alleine das Wahrnehmen der enormen Gewalt gegen Kinder braucht bei vielen Menschen meiner persönlichen Erfahrung nach oftmals Jahre bzw. ist mit erheblichen Abwehrhaltungen verbunden. Dies ist insofern verständlich und normal, da die Beschäftigung mit diesem Thema unweigerlich an eigenen verletzenden Erfahrungen rührt) ) Die o.g. UNICEF-Studie beschreibt mögliche Folgen der Gewalt gegen Kinder u.a. wie folgt: „Gewalt zieht Gewalt nach sich: So geraten die betroffenen Kinder als Erwachsene oft in eine Opferrolle oder üben selbst Gewalt gegen andere aus.“ (UNICEF, 2006a, siehe dazu u.a. auch Van der Kolk. / Streeck-Fischer, 2002) Diesem destruktivem Potential möchte ich im Kontext von Krieg und seinen Ursachen weitere Beachtung schenken.


[1] Diese Angaben treffen übrigens auch auf unsere Nachbarn in Österreich zu. (vgl. Buchner et.al., 2002, S. 139ff)


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