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Dienstag, 13. September 2011

Adolf Hitler: Teufel, Dämon oder schwer misshandeltes Kind?

Ich bin aktuell auf den Text "Adolf Hitler: Teufel, Dämon oder schwer misshandeltes Kind?" von Michael Grandt gestoßen (Hinweis: Über den KOPP-Verlag gibt es sehr kritische Berichte, die ich nicht weiter prüfen kann, aber nach meinem ersten Eindruck nicht unbegründet sind. Insofern distanziere ich mich von weiteren Inhalten des Verlages. Der genannte Text ist allerdings sehr klar, sachlich und quellenbasiert. Da ich selbst viel über Hitler recherchiert habe, kann ich die Inhalte in ihrer Richtigkeit bestätigen). Selten habe ich einen so deutlichen Text über Hitlers Kindheit und mögliche Verbindungen zu seinem späteren Handeln gelesen. Insofern empfehle ich allen Interssierten, diesen Text zu lesen.

Ich hatte schon oft vor, mir die Kindheitsgeschichten von Hitlers engsten Gefolgsleuten anzuschauen. Leider hatte ich bisher nicht die Zeit dafür. Um so interessanter fand ich folgendes: "Überraschenderweise scheint Hitler auch mit Propagandaminister Joseph Goebbels über seine Eltern gesprochen zu haben, denn dieser notierte am 11. August 1932 in seinem Tagebuch: »Abends erzähle ich von zu Hause. Von Vater und Mutter. Beide haben mit Hitlers Eltern eine frappante Ähnlichkeit. Hitler ist ganz betroffen davon (…) Hitler hat fast genau dieselbe Jugend durchgemacht wie ich. Der Vater Haustyrann, die Mutter eine Quelle der Güte und Liebe.«" (zitiert nach Ralf Georg Reuth: Joseph Goebbels Tagebücher. Band 2: 1930-1934, München 1999, S. 681)

Nur zu logisch ist es, dass diese Gefolgsleute ähnliches erlebten und sich zusammentaten. Auch bei Goebbels findet sich zudem eine starke Idealisierung der Mutter. Ich vermute, dass diese ähnlich wie Hitlers Mutter eher emotional missbraucht hat und zudem die Kinder nicht vor der Gewalt des Vaters schützte. Denn Hitler selbst sagte, dass ihn die Augen seiner Mutter an die Medusa erinnernt hätten, Augen, die einen zu Stein erstarren lassen. Trotzdem wurde sie von ihm idealisiert.

Dienstag, 23. August 2022

Die Kindheit von Eva Braun

Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass Paarbeziehungen häufig auf Grund ähnlicher oder sich verzahnender Kindheitserfahrungen zustande kommen. Mann/Frau „erkennt sich“. Sehr deutlich nachweisbar ist dies beispielsweise bei von häuslicher Gewalt geprägten Beziehungen: Täter (meist männlich) und Opfer (meist weiblich) verbindet oftmals eine leidvolle Kindheitsbiografie, die unterschiedlich ausagiert wird. 

Eva Braun ist eine historische Figur, von der ich erwartet habe, dass auch ihre Kindheit belastet und nicht von Liebe geprägt war. Nur so ist meiner Auffassung nach ihre starke Bindung an Adolf Hitler zu erklären. Jetzt fand ich endlich einmal die Zeit, dazu zu recherchieren. 

Eva Braun wurde am 06.02.1912 als zweite Tochter der Familie geboren. Später kam noch ein drittes Mädchen hinzu.
Ihr Vater Friedrich (ein Lehrer) hatte sich 1914 freiwillig für den Krieg gemeldet. Erst im Jahr 1919 kam er zu seiner Familie zurück. In diesen Jahren lebte Franziska Braun weitgehend alleine mit ihren drei Kindern. Nach der Rückkehr ihre Mannes durchlebte das Paar eine Ehekrise, die am 03.04.1921 mit der Scheidung endete. Allerdings kamen beide auch wieder zusammen. Ende des Jahres 1922 heirateten sie erneut. Die Biografin Heike Görtemaker spekuliert, dass der erneute Zusammenschluss finanzielle Gründe hatte, denn die Wirtschaftssituation war nach dem Krieg enorm schwierig (Görtemaker 2010, S. 39f.).
Dafür spricht wohl auch, dass die Ehe problematisch blieb: „Die Ehe der Brauns scheint (…) immer noch nicht glücklich gewesen zu sein. So bezeichnete Herta Ostermeier, die beste Freundin Eva Brauns, deren damalige Familienverhältnisse in einer späteren Erklärung als `nicht sehr erfreulich`. Eva Braun habe deshalb, teilte Ostermeier mit, `fast ihre ganze Jugend in meinem Elternhaus` verlebt und auch die Ferien `mit mir auf dem Gut meiner Verwandten` verbracht. Ihre Bindung an die Eltern der Schulfreundin hätten sich dabei derart eng gestaltet, dass sie diese ebenfalls mit `Vater und Mutter` angesprochen habe“ (Görtemaker 2010, S. 41).
Evas Mutter betonte dagegen rückblickend nach dem Krieg, dass ihre Kinder in einem intakten Elternhaus aufgewachsen wären, in dem es nicht einmal einen richtigen Streit gegeben hätte. „Diese Aussage ist angesichts der Tatsache einer rechtskräftigen Scheidung offensichtlich unwahr“ (Görtemaker 2010, S. 42). Dass Eva sich eine Ersatzfamilie suchte, spricht ergänzend Bände. 

Auch eine Nichte bestätigte später, dass sich die Eheleute Braun nicht verstanden und keine enge Ehe führten (Lambert 2014, S. 57f.). Eine Scheidung war zur damaligen Zeit eine höchst ungewöhnliche Sache, zumal die Familie auch noch extrem christlich geprägt war. Es bleibt unsere Fantasie überlassen, was alles zwischen den Eheleuten vorgefallen sein mag, dass es zu diesem Schritt kam (auch wenn er später wieder rückgängig gemacht wurde). Die Kinder standen dazwischen und haben sicher einiges miterlebt, was belastend war, Lambert (2014, S. 61) schreibt: „(…) at a time when separation were virtually unknown in Germany, proves that something went very wrong between husband and wife” 

Für Eva kam eine weitere, besondere Belastung hinzu. Ihre Mutter verließ nach der Trennung von ihrem Mann die gemeinsame Wohnung in München und zog mit ihren drei Kindern zu ihren Eltern aufs Land. Als dann später beschlossen wurde, dass sie wieder zurück nach München zog, ließ sie Eva einfach bei ihren Eltern. In deren Wohnort besuchte Eva mehrere Monate die dortige Volksschule. Lambert kommentiert: „Eva cannot have been happy there, not entirely happy living with her grandparents. Summer holidays in the country were one thing; being forced to leave her parents, her friends and her family routine at the age of seven was quite another” (Lambert 2014, S. 60). Warum ausgerechnet Eva zurückgelassen wurde und wie lange genau sie bei den Großeltern blieb, erschließt sich der Quelle nach nicht. 

Dies blieb aber nicht die einzige Trennung von der Familie und der vertrauten Umgebung. Als Eva sechszehn Jahre alt war, beschlossen ihre Eltern, sie auf eine Klosterschule (Internat) 120 Kilometer nordöstlich von München zu schicken. „Eva would be forced to leave home, leave her friends and her social life (…) to be incarcerated for two years with nuns. She raged and wept and sulked in her room but her parents were adamant. It´s likely that, behind the histrionics, she felt rejected“ (Lambert 2014, S. 67). Später erinnerte sich eine Nonne, dass Eva keine engen Freunde in dem Kloster hatte. In dem Kloster herrschte außerdem ein striktes Regime. Eva schaffte es aber, nach neun Monaten wieder nach Hause zu kommen. Offensichtlich hatte sie sich schulisch nicht besonders engagiert. 

Lambert (2014, S. 49f.) beschreibt, dass Friedrich nach dem Krieg launisch, unzugänglich und depressiv wurde. Ohne ihn war die Familie zuvor gut ausgekommen. Der Vater zog sich nun vom Familienleben immer mehr in einen eigenen Raum zurück. Was ansonsten an Destruktivität von dem Vater ausging, lässt sich wohl nicht mehr eindeutig ermitteln.
Lambert schließt Gewaltverhalten aus: "There`s no evidence that any of the three girls ever suffered abuse or emotional neglect, which is not to say that Eva must therefore have been happy” (Lambert 2014, S. 51). Wir wissen heute, dass die um 1900 Geborenen zu mindestens über 80% Körperstrafen in der Familie erlebt haben. Diese Gewalt muss natürlich nicht immer die Definition von Misshandlungen treffen. Ich möchte dies hier anhängen und habe meine Zweifel, ob Eva Braun wirklich keine Gewalt erlitten hat. Auch Evas Mutter gehört hier ergänzend in den Blick. 

Evas Vater wird vom Charakter und Verhalten außerdem folgendermaßen beschrieben: „(…) regid, and authoritarian, self-centred and humourless” (Lambert 2014, S. 58).  „Fritz Braun (…) remained a nineteenth-century patriarch who insisted on strict obedience and it seems that, like many disciplinarians, he seethed with inner furies. The rebellious Eva, in failing to be as docile as he required, infuriated him. (…) There was a good deal of confrontation but no suggestion that Fritz Braun beat any of his girls. Ilse Braun recalled later, `The three of us were brought up in a very Catholic atmosphere and had to obey without question. We could argue as much as we liked but in the end our father would always say, `As long as you sit at my table you`ll do what I want`“ (Lambert 2014, S. 51). 
Selbst wenn der Vater nicht handgreiflich wurde, was ich bzgl. seinem autoritären Charakter und den damaligen Sitten nach höchst unwahrscheinlich finde, so ist doch davon auszugehen, dass dieser Vater seinen Kindern häufig Angst einflößte. Außerdem verwundert, dass Lambert emotionale Vernachlässigung wie oben zitiert ausschließt. Zumindest der Vater vernachlässigte die Familie extrem! 

Man kann sich vorstellen, dass Eva Braun in der Beziehung zu Adolf Hitler einiges von dem wiederfand, was sie von Zuhause aus kannte: Die (väterliche) Kälte, das väterliche Trauma aus dem Krieg, ständige Abwesenheit, Humorlosigkeit und Gehorsamsforderungen. 

Laut Lloyd deMause war Adolf Hitler sein Leben lang suizidal. Die Berichte über den Vater von Eva Braun lassen den Schluss zu, dass dieser ebenfalls zu einer gewissen Lebensmüdigkeit neigte. Depressionen wurden wie oben zitiert beschrieben. Auch Eva Braun war stark suizidal. 
1932 versuchte sich Eva mit der Schusswaffe ihres Vaters das Leben zu nehmen, konnte aber gerettet werden. Viele HistorikerInnen betrachten diesen Suizidversuch als kalkulierten Akt, um Hitler - der die damals Zwanzigjährige häufig alleine ließ - für sich einzunehmen (Görtemaker 2010, S. 59-63). Nun, mit einer Waffe auf sich selbst zu schießen bleibt aber ein Akt, der das Risiko einer Lebensgefährdung einschließt. Ein zweiter Suizidversuch folgte 1935, diesmal durch eine Überdosis Schlaftabletten (Görtemaker 2010, S. 111). 

Auch während des Kriegsverlaufs scheint Eva Braun ein mögliches Ziel vor Augen gehabt zu haben: Den gemeinsamen Untergang mit Adolf Hitler. Hitler befürchtete Attentatsversuche gegen ihn und gab Anweisungen, was im Falle seines Todes zu tun sei. Goebbels notierte im Sommer 1944, dass Eva Braun für den Fall von Hitlers Tod gesagt hätte, dass ihr dann nur eines blieb "nämlich selbst auch den Tod zu suchen" (Görtemaker 2010, S. 256). "Eva Braun scheint ihr Leben frühzeitig und sehr bewusst auf Gedeih und Verderb mit demjenigen Hitlers verbunden zu haben. Schon mehrfach hatte sie ihm bewiesen, dass sie im Hinblick auf seine Person zum Äußersten bereit war. Er wiederum schätzte offenbar diese Art der Treuebezeugung (...). Insgesamt verdeutlicht die Episode, dass der gemeinsame Selbstmord neun Monate später kein Zufall war. Die Rollen für den letzten Akt waren seither festgelegt. Möglicherweise hatte es sogar eine gemeinsame Absprache gegeben" (Görtemaker 2010, S. 256).

Eine große Review und Meta-Analyse (n = 253.719; 37 international Studien, die meisten davon aus den USA) zeigte, dass die größten Effekte von belastenden Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, ACEs) bzgl. Suizidversuchen zu finden sind. Menschen mit Mehrfachbelastungen (vier oder mehr ACEs) unternehmen dreißig mal so häufig einen Selbstmordversuch wie Menschen, die überhaupt keine belastenden Kindheitserfahrungen erlebt haben (Hughes et al. 2017). Bzgl. Hitler sind etliche ACEs nachweisbar, bzgl. Eva Braun weniger, aber auch hier deuten sich diverse Belastungen in Kindheit und Jugend an. Mann/Frau „erkennt sich“, schrieb ich einleitend. Gewiss traf dies auf diese dunkle Beziehung zu! Sehr wahrscheinlich galt dies auch für die "Meta-Beziehung" zwischen Führer und Volk, letzteres erkannte in Hitler die eigenen dunklen Väter...


siehe ergänzend auch: Nachtrag zum Beitrag über Eva Braun: Wurde sie sexuell missbraucht?


Quellen: 

Görtemaker, H. B. (2010). Eva Braun. Leben mit Hitler. C. H. Beck, München.

Hughes, K., Bellis, M.A., Hardcastle, K.A., Sethi, D., Butchart, A., Mikton, C., Jones, L. & Dunne, M. P. (2017). The effect of multiple adverse childhood experiences on health: a systematic review and meta-analysis. Lancet Public Health, Vol. 2, e356–66.

Lambert, A, (2014). The Lost Life of Eva Braun. St. Martins Press, New York. Kindle-eBook Version. 


Freitag, 6. Juli 2012

Wikipedia: Artikel über Adolf Hitler wieder ohne Bezüge zur Kindheit

Anfang 2011 hatte ich die Darstellungen von einigen politischen Führern auf Wikipedia dahingehend untersucht, ob die entsprechenden destruktiven Kindheiten erwähnt oder sogar mit dem politischen Verhalten in Zusammenhang gebracht wurden.

Einzig in dem Artikel über Adolf Hitler fand ich einen relativ ausführlichen Beitrag, der sich auf Arno Gruen bezog. Ich schrieb damals:

"Relativ viel über Herkunft und Familie. Erwähnung der Gewalt durch den Vater: „In Mein Kampf schildert Hitler den Vater als streng, autoritär, mitunter auch jähzornig und gewalttätig.“ Besonders auffällig ist ein relativ langer Absatz über Arno Gruens Analyse der destruktiven Eltern-Kind-Beziehung Hitlers und Thesen über die psychischen Folgeschäden. Diese Darstellungen sind meiner Erinnerung nach relativ neu, auf Wikipedia, noch vor über einem Jahr fand ich dort keine Erwähnung von Gruens Thesen. Diese Wikipedia Darstellung eines Diktators/politischen Führers ist somit die einzige, bezogen auf die hier analysierten Personen, in der direkt auf die Folgen der erlebten Gewalt hingewiesen wird und somit auch ein direkter Bezug zum späteren politischen Handeln hergestellt wird."
Leider musste ich heute feststellen, dass der Wikipedia-Artikel über Hitler stark überarbeitet worden ist. 
Jetzt findet sich nur noch ein kurzer Satz über die Schulzeit, in dem die Gewalt gegen das Kind abgehandelt wird: "Sein Vater hatte ihn für eine Beamtenlaufbahn bestimmt und bestrafte seine Lernunwilligkeit mit häufigem, aber erfolglosen Prügeln."
Der Absatz über Arno Gruens Darstellungen ist komplett gelöscht worden!

Wikipedia ist somit erneut blind bzgl. der Kindheit von Adolf Hitler und dem entsprechenden Einfluss auf sein Handeln...

Montag, 21. Februar 2011

Wikipedia Analyse über die Darstellungen der Kindheiten von Diktatoren und destruktiven Politikern

Derzeit befasse ich mich - wie im vorherigen Beitrag erwähnt - damit, wie weit psychohistorische Thesen online verbreitet sind. Dazu gehört für mich auch die Sicht auf die jeweilige Kindheitsanalyse von Diktatoren und destruktive Politiker. Wer einen Namen wie „Adolf Hitler“ oder „Stalin“ bei Googel eingibt, erhält als erste Treffer meist die Darstellung der Person bei Wikipedia. Jeder, der sich für diese Person interessiert, erhält erste Informationen also über dieses Webportal. Zudem sind die Texte Gemeinschaftsprojekte und geben somit ein Bild davon ab, wie weit bestimmte Dinge allgemein bekannt sind oder sich auf den Wiki-Seiten überhaupt durchsetzen lassen oder ggf. auf Widerstand stoßen und wieder gelöscht werden. Für mich macht es also Sinn, mal nachzuschauen, wie viel dort über die Kindheit und die entsprechenden Gewalterfahrungen inkl. möglicher Folgen über die Personen berichtet wird, die ich hier in meinem Blog bereits analysiert habe (siehe Grundlagentext und extra Bill Clinton und Tony Blair). Denn nur, wenn die gewaltvollen Kindheiten dieser Personen überhaupt bekannt sind, werden auch psychohistorische Thesen mehr von Interesse.

Von 17 Diktatoren/politischen Führern, bei denen ich erhebliche Gewaltverhältnisse/Vernachlässigung in der Kindheit nachgewiesen habe, wird bei Wikipedia nur bei 6 von ihnen auf die destruktive Kindheit hingewiesen oder diese angedeutet. Von diesen 6 beinhaltet wiederum nur die Wiki-Darstellung von Adolf Hitler auch eine direkte Verknüpfung zu den psychischen Folgeschäden seiner Kindheit und somit auch zu seinem späteren politischen Handeln. Bei den anderen 5 wurden Gewalterfahrungen nur kurz mit einem Satz oder einzelnen Wörtern erwähnt, ohne auf mögliche Auswirkungen einzugehen.


Personen, bei denen Gewalterfahrungen/destruktive Kindheitserfahrungen erwähnt wurden:

Adolf Hitler:
Relativ viel über Herkunft und Familie. Erwähnung der Gewalt durch den Vater: „In Mein Kampf schildert Hitler den Vater als streng, autoritär, mitunter auch jähzornig und gewalttätig.“ Besonders auffällig ist ein relativ langer Absatz über Arno Gruens Analyse der destruktiven Eltern-Kind-Beziehung Hitlers und Thesen über die psychischen Folgeschäden. Diese Darstellungen sind meiner Erinnerung nach relativ neu, auf Wikipedia, noch vor über einem Jahr fand ich dort keine Erwähnung von Gruens Thesen. Diese Wikipedia Darstellung eines Diktators/politischen Führers ist somit die einzige, bezogen auf die hier analysierten Personen, in der direkt auf die Folgen der erlebten Gewalt hingewiesen wird und somit auch ein direkter Bezug zum späteren politischen Handeln hergestellt wird.

Stalin:
Kurzer Bericht über gewalttätigen Vater und dessen Alkoholismus. Kein Bericht über Gewalt durch die Mutter.

Wilhelm II.:
Andeutungen, dass seine Mutter ihn nicht akzeptierte; erwähnt werden kurz und beispielhaft die Maßnahmen, zur Behandlung seines Armes; Erwähnung, dass er seine Kindheit als „unglücklich“ empfand.

Ludwig XIII.:
Einziges Wiki-Zitat: „Das empfindsame Kind litt unter der strengen, durch Schläge geprägten Erziehung und der Trennung vom vergötterten Vater.“

Friedrich II. (Preußen):
Bericht über „strenge, autoritär und religiös geprägte Erziehung“ und über „Brutale körperliche und seelische Züchtigungen“, außerdem extra Kapitel über Konflikte mit dem Vater. Insofern ist diese Darstellung im Vergleich zu den anderen schon etwas herausragend.

Bill Clinton:
Einziges Wiki-Zitat: „Mit 14 Jahren nahm Clinton den Namen seines Stiefvaters an, den er selbst als Spieler und Alkoholiker bezeichnete und dem er überdies unterstellte, regelmäßig seine Mutter und gelegentlich auch seinen Bruder misshandelt zu haben“, kein Hinweis darauf, dass auch Clinton Opfer dieser Gewalt wurde.


Kein Bericht über Gewalterfahrungen und nichts oder fast nichts über Kindheit fand ich bei folgenden Personen:

Benito Mussolini

Francisco Franco

Nicolae Ceaușescu

Napoleon Bonaparte

Mao Zedong

Slobodan Milošević (außer vom Selbstmord des Vaters und Mutter erfährt man nichts über die Kindheit und Gewalt.)

Saddam Hussein (Erwähnung der versuchten Abtreibung durch seine Mutter, ansonsten kein Bericht über Gewalt und fast nichts über Kindheit.)

George W. Bush

George H. W. Bush

Ronald Reagan

Tony Blair

Samstag, 9. Februar 2013

Kindheit von Rudolf Heß

Rudolf Heß in einem Brief an seine Eltern vom 24.04.1925, in dem er sich und seine starke Anbindung an Hitler erklärte. „(…) Ich habe mich ja seinerzeit so gefreut,  als nach dem November 23 (Anmerkung: Gemeint ist der 23.11.1923, als die NSDAP reichsweit verboten wurde), da fast alle wankten, Ihr unerschüttert zum Tribunen (Anmerkung: Gemeint ist Adolf Hitler) standet … Und lieber Gott, im Grunde seid Ihr ja eigentlich selbst daran schuld, dass ich so geworden bin und also so handeln muss …“    (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 444)




Die Kindheit von Rudolf Hess ergänzt das Bild, dass ich bisher über einzelne NS-Täter gezeichnet habe.  Dazu im Text unten mehr. Allerdings ergänzt auch die Arbeit der Historiker Manfred Weißbecker (Jahrgang 1935) und Kurt Pätzold (Jahrgang 1930) das Bild, das ich immer wieder bei meinen Recherchen über die Kindheit diverser Diktatoren und ähnlicher Akteure fand. Die destruktive Kindheit wird zwar von den Historikern wahrgenommen und erwähnt, aber erstens nicht weitgehend ausgeführt und zweitens dementsprechend so kommentiert, dass ihr kaum Bedeutung beigemessen wird. Zunächst beginnen die Autoren ihre Schilderungen über die Familienatmosphäre so: Die Kinder „wuchsen in wohlhabenden Verhältnissen und sorglos auf; später wird Heß einmal den Eltern danken: »Wir haben eine freudenreiche und glänzende Jugend gehabt, wie man sie sich schöner und abwechslungsreicher nicht vorstellen kann.«“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 15) Diese Beschreibung einer „sorglosen“ Kindheit mag stimmen, wenn es um die finanziellen Verhältnisse und den Status der Familie ging, denn diese waren dank lukrativer Geschäfte in Ägypten (wo die Familie die ersten Lebensjahre von Rudolf ihren Hauptwohnsitz hatte) sehr gut. Die emotionale Situation war allerdings alles andere als sorglos, was auch die beiden Autoren kurz beschreiben.“Das Geschäft diktiert den Ablauf der Tage und wohl auch den Umgangston im Hause. Äußerste Pünktlichkeit, penible Ordnung und uneingeschränkte Disziplin galten als höchste Werte des patriarchalisch herrschenden Vaters, eines typischen Angehörigen stramm national gesinnter Schichten des deutschen Bürgertums.“ (ebd.: S. 17)
Aber gleich danach merken Sie an: „In der historischen Literatur ist immer wieder auf die Strenge des Vaters verwiesen worden. Spätere Entwicklungen und Verhaltensweisen des »Führer-Stellvertreters» sollen damit verstehbar werden. Psychoanalytische Deutungen dieser Art treffen gewiss zu, sie reichen jedoch keineswegs aus, alle Ursachen und die wesentlichsten Rahmenbedingungen der Sozialisation von Rudolf Heß zu erhellen. Mitunter verdecken sie andere, wichtigere Umstände und Faktoren.“ (ebd.: S. 17) Dann kritisieren sie auch noch die Quellenlage. Vieles sei aus den Erinnerungen von Rudolf Heß selbst überliefert, als er bereits an der Spitze der NSDAP stand oder aus seiner Zeit im Gefängnis. (wo ich mich frage, warum denn diese Erinnerungen keine Gültigkeit haben sollten?). Zudem kritisieren sie „manches, was von Autor zu Autor übernommen worden ist (…)“ (ebd.: S. 17), ohne zu erwähnen, welche Autoren sie meinen und was „manches“ bedeutet. Zumindest haben auch Pätzold und Weißbecker die Strenge des Vaters wahrgenommen, in dem sie oben die Werte des „patriarchalisch herrschenden Vaters“ beschreiben und etwas weiter im Text - nebenbei -von dem  „oft als tyrannisch geschilderten Vater“ (ebd.: S. 21) berichten.  Diesen Widerwillen gegenüber Kindheitseinflüssen auf politisches Verhalten und deren entsprechend geringer Gewichtung habe ich derart oft in Büchern von Historikern wahrgenommen, dass dies fast schon eine gesonderte, systematische Analyse Wert wäre.

Deutlichere Worte fand allerdings der Historiker  Rainer F. Schmidt (Jahrgang 1955). „Alle Psychiater, die sich in späteren Jahren mit dem Charakter und der Persönlichkeitsstruktur von Rudolf Heß, mit seiner Fixierung auf Hitler und die Kommandowelt des Totalitären beschäftigen, stimmen darin überein, dass der Schlüssel für diese Disposition in der Phase der primären Sozialisation, in der Jugend mit einem strengen und übermächtigen Vater zu suchen ist.“ (Schmidt, 1997: S. 37) Schmidt berichtet über die Familie Heß: „Zum prägenden Faktor seiner frühen Jahre wurde eben jener strenge, polternde und keinen Widerspruch duldende Vater, der nach Rudolfs eigenen Worten »bleichen Schrecken bei seiner Brut« verbreitete.“ (ebd.: S. 38) Der ganze Tagesablauf der Familie war auf die Ansprüche des Vaters abgestimmt. „(…) von den vollzählig versammelten Familienmitgliedern erdreistete sich niemand, ein Wort zu sprechen, solange der Vater nicht geruhte, das Gespräch zu eröffnen. Er war es, der das Lachen der spielenden Kinder zum Verstummen brachte, wenn er das Haus betrat (…)“ (ebd.: S. 38,39) Der Vater zwang seinen Sohn auch - trotz anderer Befähigungen und Interessen- in den Kaufmannsberuf. Schmidt zitiert Heß wörtlich im Rückblick auf eine Szene: „Als eines Tages der liebe Vater feierlich die ernste Frage an mich stellte, was ich werden wollte – in dem Ton, bei  dem allein uns schon das Blut zu gerinnen drohte …, da kam es mir gar nicht in den Sinn, etwas anderes zu stottern als «Kaufmann».“ (ebd.: S. 39)

Schmidt ergänzt danach, dass immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass viele führende Nationalsozialsten aus strengen Elternhäusern stammten und Hitler wiederum von den „Erziehungsschäden einer Epoche profitierte, die ihre pädagogischen Leitbilder von den Kasernenhöfen holte und ihre Söhne in den Härtekategorien von Kadetten aufzog“ (ebd..: S. 39; hier zitiert er Joachim Fest). Eine erstaunliche (weil relativ seltene) Aussage, deren Wahrheitsgehalt ich mich anschließe, sie trifft aber nicht meine Wahrnehmung bzgl. der Geschichtswissenschaft, dies diese Zusammenhänge oft unter den Tisch kehrt. (Zudem ist das Wort „streng“ wohl etwas verharmlosend, wenn man um die Realität der Kindheit im Deutschen Reich um 1900 weiß.) Rudolf Heß, so Schmidt weiter, „der unsäglich unter der tyrannischen Natur seines Vaters (…) litt, die immer wieder seinen Willen brach und die Basis schuf für die Anfälligkeit gegenüber und die Suche nach einem «Ersatzvater», entsprach exakt diesem Typus.“ (ebd.: S. 39)

Es bleibt unserer Vorstellungskraft überlassen, was sich alles an Gewalt, Gewaltformen und Gewaltandrohung im Hause Heß abgespielt hat. Wenn schon der Tonfall des Vaters das Blut des Sohnes gerinnen ließ, wie dieser es bildlich ausdrückte und der Vater „blanken Schrecken“ bei den Kindern verbreitete, was geschah dann eigentlich, wenn der Vater offen Strafen ausführte oder sich Launen hingab? Die Historiker lassen diese Frage offen. Ich halte es nach den o.g. Schilderungen für sehr sehr wahrscheinlich, dass Rudolfs Vater auch direkt körperliche Gewalt anwandte, sein Charakter und die Sitte der Zeit legen dies sehr nahe.

Es ist bezeichnend, dass man über die Mütter solcher historischen Persönlichkeiten meist weitaus weniger erfährt, als über die Väter. Dabei sind es ja vor allem die Mütter, die historisch die wesentlichen Erziehungsaufgaben übernahmen. Man kann sich auf Grund von zwei Zeugnissen und etwas Vorstellungskraft ausmalen, dass Rudolfs Mutter keine besonders mitfühlende  Person/Mutter war. Von der Mutter erfuhr Rudolf während seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg direkten Zuspruch. Sie schrieb. „Wäre ich ein Mann in der Blüte der Jahre, ich würde auch mit Begeisterung für mein Vaterland kämpfen. Ich will versuchen, wenn auch nicht als Soldat, so doch für das Wohl der Zurückgebliebenen meine Kraft mit zu verwenden.“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S.22) Mit dieser Einstellung entsprach sie sicherlich den meisten Müttern der Zeit. Doch waren das herzliche, mitfühlende Mütter, die derart kriegsbegeistert waren? Noch deutlicher wird es an anderer Stelle. Bei beiden Heß Eltern kam Unmut auf, weil ihr Sohn im Ersten Weltkrieg anfänglich Reservist war und nicht sofort auf eines der umkämpften Schlachtfelder kam. „Klara Heß zeigte sich sechs Wochen nach Kriegsbeginn furchtbar enttäuscht, dass ihr Sohn immer noch «zurückgehalten» werde, seine «junge Kraft für die Freiheit des teuren Vaterlandes einzusetzen»“ (ebd.: S. 23) Und sie beteuerte: „Wir geben Dich dem Vaterland, kommst Du uns lebend zurück, so sehen wir dieses Glück als ein Geschenk Gottes an.“ (ebd.: S. 23) Was ist das für eine Mutter (und wie sah ihr Umgang früher ihren Kindern gegenüber aus), die derart bereitwillig ihren Sohn in den wahrscheinlichen Tod laufen lässt; die ihren Sohn geradezu zu opfern bereit ist?

Arno Gruen hat unter dem Zwischen-Titel „Der reduzierte Mensch“ (Gruen, 2002: S. 164) u.a. Rudolf Heß als Paradebeispiel für einen Menschen ausgewählt, der innerlich leer ist, „eines Ich ohne eigenes Selbst (…); eines Menschen, der keine eigene Identität entwickeln konnte und deshalb jemanden sucht, dem er sich bedingungslos unterwerfen kann. (…) Ein solcher Mensch ist völlig gefangen und völlig beherrscht von dem Diktat des Gehorsams, der ihm auferlegt wurde.“ (ebd.: S. 177,178) Diese innere „Fremdsein“ brachte Heß auch selbst deutlich zum Ausdruck. „Wenige Tage vor dem ersten Putsch der deutschen Faschisten bekante er, wie es um seine Gemütsverfassung stand. Er kenne sich nicht mehr aus in sich, so klagte er im Oktober 1923. Er meinte, sich als eine «eigentümliche Mischung» sehen zu müssen, woraus Spannungen entstünden, die ihm das Leben zeitweise so schwer machten. (…) «ich kenn` mich nicht aus mit mir. Sind`s moderne Kulturnerven in ihren Extremen, ist´s etwas Ungehobenes, das vorerst vergeblich nach einem Ausweg sucht, ich weiß es nicht»“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S.13,14)

Mir ist bzgl. Heß ergänzen aufgefallen, dass dieser grundsätzlich sehr selbstmordgefährdet war. Alleine schon sein begeisterter freiwilliger Kriegseintritt im Ersten Weltkrieg ist ein Zeichen dafür. Freudig zog er in die Todeszone, wie so viele Deutsche dieser Zeit. In einem Gedicht, in dem Heß seine Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg beschreibt, findet sich folgende erhellende und im Grunde alles sagende Stelle.
„(…) He, Franzmann, das ist böser Morgengruß!
Ihr dort müsst sterben, dass wir leben können,
wir selbst und unser ganzes armes Volk (…).“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 437)
Oder auch ein anderer Ausschnitt aus dieser Zeit: „Die Landschaft weiß von Schnee, Sternhimmel funkelt. … Brennende Ortschaften! Packend schön, Krieg!“ (Schmidt, 1997: S. 40)
Diese „Leben suchen“ im Tod (sowohl des Eigenen als auch des Anderen) ist etwas, das Arno Gruen in seinen Bücher oft beschrieben hat. Es ist die Suche des innerlich nicht Lebendigen, identitätslosen Menschen nach Leben und Fühlen, in einer pervertierten Form. Dies ist auch etwas, dass Mörder/Serienmörder beschrieben haben. (siehe hier und hier)
Nach dem Waffenstillstand und der Niederlage des Deutschen Reiches fühlte sich Heß im „schwersten Augenblicke“ seines Lebens. „An den Frieden darf man nicht denken.“ schrieb er nach Hause.„ (Schmidt, 1997: S. 42,43) Rachefantasien hielten ihn aufrecht, so scheint es. Denn zunächst dachte er nach dem Friedensschluss an Selbstmord. „Und das Leiden der Mehrheit der Guten der Heimat soll umsonst gewesen sein? … Nein, wär´s umsonst gewesen, bereute ich heute noch, dass ich am Tag, da die ungeheuerlichen Waffenstillstandsbedingungen und ihre Annahme bekannt wurden, ich mir nicht eine Kugel durchs Hirn jagte. Ich tat es damals nicht in der einzigen Hoffnung: Du kannst noch irgendwie dein Teilchen beitragen zur Wendung des Schicksals.“ (ebd.: S. 43)

Am 15. Oktober 1941 begeht Heß in britischer Haft einen Selbstmordversuch. Er leidet in der Folgezeit an Nervenkrankheiten. Am 17. August 1987 begeht Heß am Ende seiner Tage im Gefängnis in Spandau Selbstmord (Deutsches Historisches Museum, 2009) Auf Wikipedia sind weitere drei Selbstmordversuche beschrieben, die Quellen dafür kann ich allerdings hier nicht weiter nachverfolgen.
 Heß, der keine eigene Identität besaß und der in der Folge von (Selbst-)Hass  durchzogen war, suchte den Tod, den eigenen, wie auch den von Millionen anderer Menschen.

Zum Abschluss noch eine persönliche Anmerkung. Wenn ich mir Fotos von Heß anschaue, dann springt mich die „innere Leblosigkeit“ dieses Mannes geradezu an. Tief verborgene, schattige Augenpartie, ungemein gerade und nichts-sagende Gesichtszüge, ein flacher Mund, leere Augen und Kälte. Der Gefängnis-Psychiater James Gilligan hat die von ihm untersuchten Mörder als „Untote“ bezeichnet, innerlich tot, körperlich am Leben. Rudolf Heß passt genau in diese Kategorie Mensch.



Quellen:

Deutsches Historisches Museum (2009): Biographie: Rudolf Heß. 1894-1987.
.
Gruen, Arno (2002): Der Fremde in uns. München. Deutscher Taschenbuch Verlag.

Pätzold, Kurt und Weißbecker, Manfred (2007): Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite. Leibzig. Militzke Verlag.

Schmidt, Rainer F. (1997): Rudolf Heß. "Botengang eines Toren"?, Der Flug nach Großbritannien vom 10.  Mai 1941. Düsseldorf. ECON Verlag.

Freitag, 10. August 2012

Jonathan H. Pincus: Was Menschen zu Mördern macht


Kaum ein Buch hat mich derart erschüttert und gleichzeitig so deutlich in meiner Sicht bestätigt wie „Base Instincts. What Makes Killers Kill?“ von dem Neurologen Jonathan H. Pincus (2001). Selbiger hat jahrelang Mörder, Serienmörder und Massenmörder in diversen amerikanischen Hochsicherheits-Gefängnissen befragt und begutachtet. Ein Satz bringt die wesentliche Gemeinsamkeit auf den Punkt, die er bei fast allen nachweisen konnte: „It has been amazing to discover that the quality and the amount of „discipline“ these individuals have experienced are more like that of a prisoner in a concentration camp than a child at home.“ (S. 27) Die untersuchten Mörder erlebten nicht nur einfach Gewalt, sondern extreme Formen und diese häufig und langjährig. In seinem Buch schilderte er einige Einzelfälle ausführlich und es wird einem wirklich schlecht, wenn man von diesen Kindheiten und der unfassbaren erlebten Gewalt oder eher Folter ließt.

Der Autor ergänzt, dass das Neue dabei ist, wie sich das Gehirn auf Grund von Misshandlungen verändern und Schaden nehmen kann. Seine Grundthese ist, dass Mörder als Kind misshandelt wurden, bei ihnen Gehirnschädigungen nachweisbar sind und paranoides Denken. Nur diese drei Faktoren zusammen führen u.U. zur Gewalt und zu Mord, was er in seinem Buch an Hand von Fallbeispielen nachweist. Er sagt aber auch, dass nicht alle schwer misshandelten Kinder zu Mördern werden.

Häufigen und langjährigen körperlichen und sexuellen Missbrauch durch Elternteile oder Elternfiguren fand Pincus bei den meisten ca.  150 Mördern, die er während seiner langjährigen Arbeit befragt und begutachtet hat. (vgl. S. 67) Er zitiert dabei auch eine seiner Studien, die einen fünf Jahres Zeitraum umfasste und nachwies, dass 94 % der untersuchten Mörder nachweisbar schwer als Kind  misshandelt wurden. (Anmerkung: Schwere diverse Misshandlungen in unterschiedlichen Formen erleben dagegen nur verhältnismäßig wenige Menschen. Eine deutsche repräsentative Studie wies z.B. nach, dass 1,4 % der Befragten drei, 0,8 % vier und 0,1 %  fünf schwere Formen des Missbrauchs  bzw. der Misshandlung erlebt haben. Wenn ich den Fallbeispielen im Buch folge, gehören die meisten Mörder wohl eher zu dieser Kategorie, mit einer Tendenz in Richtung fünf erlebter unterschiedlicher Misshandlungsformen.)

Bei den vielen Fallbeispielen im Buch fiel mir neben der Schwere der Gewalt auch immer wieder folgendes auf: Oft ging die Gewalt nicht nur von einer Person aus, sondern von mehreren (z.B. beide Eltern, zusätzlich andere Verwandte oder Geschwister, Pflegeeltern, in einem Fall auch Nachbarn, denen erlaubt wurde, das Kind in Abwesenheit der Mutter körperlich zu bestrafen).  Sofern ein Elternteil (i.d.R. die Mutter) nicht offen körperlich gewalttätig war, stand dieser den Gewalttaten duldend und nicht-helfend (ohnmächtig oder zustimmend?) gegenüber. Die besondere Schwere der Gewalt (der Sadismus und die Folter), der diese Mörder ausgesetzt waren, ist hier nicht wiederzugeben, da man jeden einzelnen Fall in seiner ganzen Realität ausbreiten müsste, so wie dies Pincus in seinem Buch teils getan hat. Unten gehe ich kurz auf zwei Fälle ein. Vorher möchte ich auf den Fall "Whitney" hinweisen. Pincus hat die erfahrene Gewalt, die dieser Mörder als Kind erlitten hat,  quantitativ an Hand der Gespräche erfasst. Der Vater pflegte den Jungen innerhalb eines festen Rituals körperlich zu bestrafen. Der Junge wurde so positioniert, dass er sich nicht bewegen oder wehren konnte. Der Junge durfte auch nicht weinen oder sich ansatzweise sträuben, ansonsten riskierte er noch mehr Schläge. Er wurde auch gezwungen, seinen Kopf in einem Kissen zu vergraben und seinen Vater bei der Ausübung der Prügel nicht zu beobachten. (Da eine Schwester berichtet hat, dass sie ihren Vater nach einer Prügelorgie draußen hat masturbieren sehen, könnte dies auch während dieser Prügel geschehen sein und der Grund dafür, warum der Junge sich nicht umdrehen durfte) Mit einem Gürtel schlug der Vater dann ca. 10 bis 20 mal auf diverse Körperstellen. Diese Prügel konnten einige Minuten andauern. In dieser Form fand die Gewalt  zwei bis drei mal die Woche statt, das ganze über 10 Jahre lang, ab dem Alter von 5 Jahren bis "Withney" 15 wurde. (vgl. S. 144) Ich habe einmal nachgerechnet. Dieser Junge bekam pro Woche den Angaben folgend im Minimum ca. 20, im Maximum ca. 60 sadistische Schläge; im Min. 80  und im Max. 240 pro Monat; im Min. 9.600 und im Max. 28.800 innerhalb von 10 Jahren (sprich 120 Monaten)! Und dies sind nur die Angaben bzgl. der ritualisierten (nicht außerordentlichen) körperlichen Gewalt und auch nur die des Vaters. Denn "Whitney" wurde auch von seiner Mutter misshandelt, die sich dafür eine Art Peitsche gebastelt hatte. Außerdem kam auch sexueller Missbrauch in dieser Familie vor. .

Eines fand ich auch besonders aufschlussreich. Pincus berichtet, dass von allen Gewalttätern und Mördern, die er befragt hat, zunächst zwei Drittel sagten, dass sie keine Kindesmisshandlung erlebt hätten. (vgl. S. 159) Wenn er diese Fälle nicht weiter untersucht hätte, so Pincus, wäre er wohl nicht darauf gekommen, dass Misshandlungserfahrungen besonders weit unter Gewalttätern verbreitet sind. Er erklärt sich die ersten Antworten der Befragten damit, dass viele sich nicht an die erlebte Gewalt  erinnern können (oder wollen) und zusätzlich auch weiterhin Angst haben, darüber zu sprechen.
Pincus beschreibt auch ausführlich den Fall eines Mörders – mit Namen Ray -, der selbst sagte, er sei nicht misshandelt worden. (vgl. S. 106ff) Ray ging konform mit der „harmonischen“ Geschichte, die seine Mutter, sein Bruder und sein Stiefvater seinem Anwalt erzählt hatten. Sein Vater – Jack – wurde als „guter Mann“ , „guter Ehemann“ und „guter Vater“ beschrieben, der besonders gut zu seinem Sohn Ray war. Dieser tolle Mann verstarb früh an Leukämie. Und sein Sohn hätte dies wohl nicht gut vertragen und sei daraufhin zum Alkohol gekommen und zum Mörder geworden. Während Ray dies Pincus erzählte, wirkte er wenig glaubhaft auf ihn.
Pincus führte daraufhin ausführliche Gespräche mit Familienmitgliedern und stieß auf die wahre Geschichte. Rays Vater war ein Alkoholiker (und ehemaliger Soldat), der seine Frau und Kinder schlug, dies immer heftiger und häufiger, je mehr er dem Alkohol verfiel. Die Konflikte zwischen den Eltern eskalierten immer mehr und das Leben der Mutter wurde sogar ernsthaft bedroht.
Rays Vater schlug ihn u.a. mit Stöcken, Gürteln, Schnallen, einer Gitarre und einem Gewehrrohr. Manchmal nahm der Vater seinen Sohn einfach mit auf lange Reisen, um sich an seiner Frau zu rächen und drohte  ihn zu seiner Großmutter in einen anderen US-Staat abzuschieben. Auch während dieser Reisen wurde der Sohn mit einer Peitsche misshandelt (bis er blutete), die der Vater extra für diesen Zweck im Auto aufbewahrt hatte. Als Rays Mutter einmal auf so einer Reise dabei war, goss sie Alkohol auf die Wunden ihres Sohnes, angeblich um ihm zu helfen. Als Ray nach diesem Vorfall gefragt wurde, ob dies nicht Schmerzen verursacht hatte, rollte er mit den Augen und sagte: „Gott, hab erbarmen!“. Auf Rays Rücken fand Pincus diverse Narben, die von den Misshandlungen stammten. Im Alter von zwölf Jahren gab es wieder einen handfesten Streit zwischen seinen Eltern. Ray schrie seinen Vater an: „Warum stirbst Du nicht?“Eine Woche später starb der Vater an Leukämie und Ray fühlte sich dafür schuldig. Soviel zu dem „tollen Vater“ und der „harmonischen Kindheit“ dieses Mörders... 

Ich erinnere mich an dieser Stelle, dass nach Amokläufen routinemäßig in den Medien das behütende, durchschnittliche bürgerliche Elternhaus des Täters beschworen wird und die Unerklärlichkeit der Tat. Die Tatsache, dass zwei Drittel der befragten Mörder zunächst abstritten, misshandelt worden zu sein, Pincus aber bei fast allen eine schwere Misshandlungsgeschichte fand, sollte nachdenklich machen, vor allem auch die JournalistInnen, die über solche Mörder berichten.  

Besonders interessant fand ich das Kapitel „Hitler and Hatred“ (ab Seite 178) im Buch. Pincus verknüpft seine Erkenntnisse darin mit möglichen politischen Prozessen, wie sie in NAZI-Deutschland stattfanden. Er bezieht sich auf den Historiker Goldhagen, der davon ausgeht, dass mehr als 500.000 Deutsche während dieser Zeit aktive Täter und Mörder waren. Pincus vermutet, dass diese Mörder in ganz besonders hasserfüllten und misshandelnden Familien aufgewachsen sind. 

Er behandelt in diesem Kapitel auch den Fall des Mörders „Trent“. Trents Eltern waren misshandelnde Alkoholiker und er wurde im Altern von drei Jahren per Gerichtsbeschluss  zusammen mit seinem Bruder aus der Familie genommen und zu einem Onkel gebracht. Auslöser für diesen Weg war eine Situation, in der Trents Vater ein Messer über einer Flamme heiß machte und damit zur Strafe Trent verbrannte. Der Onkel, zu dem Trent kam, war allerdings ebenfalls Alkoholiker, der Trent und seinen Bruder regelmäßig schwer verprügelte, dabei u.a. einen Gürtel, Fäuste oder andere Instrumente verwendete. Einmal, als der Onkel total die Kontrolle verlor, trat er Trent so heftig auf den Kopf, dass Pincus bei seiner Begutachtung des Erwachsenen immer noch die Narbe deutlich vorfand.  Der Onkel dachte sich auch andere Grausamkeiten aus, z.B. musste Trent nackt in der Ecke stehen und durfte sich nicht herum drehen, sonst wurde er mit einem Gürtel verprügelt. Da er sich nicht herumdrehen durfte, sah er auch nicht, wann sein Onkel kam, um ihn zu kontrollieren. Schläge kamen dann quasi aus dem Nichts über ihn. Diese Folter konnte über Stunden andauern. Der Onkel zwang beide Brüder auch dazu, quasi in einer Art Gladiatorenkampf  zu seiner Unterhaltung gegeneinander anzutreten. Zusätzlich missbrauchte er die Jungen sexuell, zwang sie zu Oral- und Analsex, bei Trent bereits ab dem Alter von vier Jahren. Trents Tante unternahm nichts gegen all dies und war ebenfalls Opfer von Schlägen durch ihren Mann.
Einmal wollte der Onkel zur Strafe die Finger einer Hand von Trent mit einem Beil abtrennen und verfehlte diese, traf aber noch einen Finger, so dass Trent von seiner Tante ins Krankhaus gebracht werden musste. Dadurch kamen die Misshandlungen heraus und die Brüder kamen zunächst in eine Pflegefamilie; danach wurde Trent in diversen Einrichtungen untergebracht. .Auch in einigen Pflegefamilien wurde Trent erneut schwer verprügelt und sexuell missbraucht.
Das Unfassbare: Sein Onkel holte Trent für manche Wochenenden oder auch Urlaube aus den Pflegefamilien. Erneut wurde er sexuell missbraucht und sogar dazu gezwungen, bei der Vergewaltigung seiner Tante mitzuwirken. Der Onkel redete Trent dann ein, dass ihm all die Gewalt widerfahren sei, weil seine Tante nicht die sexuellen Dinge mit dem Onkel getan hatte, die dieser sich gewünscht hatte. Trent entwickelte daraufhin einen enormen Hass auf diese Tante und auf Frauen allgemein.
Diese Tante missbrauchte den Jungen ebenfalls sexuell, veranstaltete regelmäßig „Badetage“, ließ sich von ihm "waschen" und „wusch“ ihn. Bereits im Alter von 17 Jahren kam Trent ins Gefängnis, nachdem er erneut eine Lehrerin schwer angegriffen hatte (vorher hatte er eine andere Lehrerin fast vergewaltigt). Dort vergewaltigte er eine weibliche Wärterin. Später brachte er ohne Skrupel "einfach so" einen Mithäftling um. 

Was wäre, fragt sich Pincus, wenn jemand wie Trent einen politischen Führer – so wie Hitler  - hätte sagen hören: „Die Frauen sind unser Unglück“, „Die Juden sind unser Unglück“?  Was wäre, wenn so jemand gehört hätte, dass die Juden für Pornographie verantwortlich sind, für Unmoral, dass sie Krankheiten übertragen, dass sie schwach sind und keine Menschen, so wie Hitler es tat? So eine Nachricht wäre bei Jemandem wie Trent sehr willkommen gewesen, so Pincus, genau wie diese Nachricht bei vielen Deutschen willkommen geheißen wurde. Er fragt sich weiter, was gewesen wäre, wenn jemand wie Trent Anführer in einem Lager geworden wäre, mit dem Auftrag, Frauen und Homosexuelle zu töten.  Pincus schreibt, dass er zu wenig Daten hat, glaubt aber auf Grund seiner Arbeit mit unzähligen Mördern, dass Trent und Hitler sehr viel gemeinsam haben. Und er hat Recht damit, wenn man um die Kindheit von Hitler (auf diese geht Pincus auch kurz ein) weiß oder auch um die Kindheit der meisten Deutschen, die vor allem Lloyd deMause beschrieben hat.
Am Ende des Kapitels schreibt der Autor, dass die beste Prävention von Gewalt und Terror Kinderschutzprogramme sind. Und wie Recht er damit hat!

Studien wie diese machen den Blick frei auf das Wesentliche. Abgründe tun sich auf. Man muss aber dort hineinschauen, um zu verstehen, wie Menschen zu grausamen Mördern werden können. Und man wird daraufhin auch den von mir oft formulierten Satz ableiten können:
Wirklich geliebte Kinder werden nicht zu (Massen)Mördern, Serienkillern oder Terroristen!



Siehe ergänzend: 

 "Stephen Harbort: Das Serien-Mörder-Prinzip."

"James Gilligan: Gewalt." 

Montag, 1. März 2021

Hitler: Ein einst misshandeltes Kind. Deutliche Worte in einem neuen Buch

Immer wieder gab es Zweifel, Umdeutungen, Verharmlosungen oder es wurde gar ausgeblendet oder nur nebensächlich kurz erwähnt: Hitlers traumatische Kindheit. In einem neuen Buch findet der Historiker Roman Sandgruber deutliche Worte. Damit ist jetzt im Grunde alles gesagt. 

"Adolf Hitler war ein vom Vater unterdrücktes und geschlagenes Kind" (S. 209) 

Und: „Die Schläge, die wohl deutlich über das damals übliche Maß hinausgingen, sind von mehreren Seiten bezeugt: von den Nachbarn, aber auch von der Schwester Paula, der Halbschwester Angela und dem Halbbruder Alois, von dessen Sohn William Patrick und von seiner irischen Mutter Bridget. Auch das Hitler selbst später immer wieder darauf zu sprechen kam, darf man als Bestätigung sehen“ (S. 210).

Sandgruber, R. (2021). Hitlers Vater: Wie der Sohn zum Diktator wurde. Molden Verlag,  Wien - Graz (Kindle-E-Book Version). 


Freitag, 27. November 2015

Wie Fachmann an Kränkungen in der Kindheit vorbeisehen kann

Der Gerichtspsychiater Reinhard Haller hat Welt-Online (26.11.2015, "Die zerstörerische Macht der Kränkung") ein Interview gegeben. Anlass war sein neues Buch „Die Macht der Kränkung“. Haller hat bereits viel über „das Böse“, Serientäter und Verbrechen veröffentlicht.

Ich schreibe nicht oft etwas über JournalistInnen, WissenschaftlerInnen und andere Fachmenschen, die die Kindheitseinflüsse bei der Analyse von Gewalt außen vor lassen, denn dann würde ich kaum noch dazu kommen, anderes zu schreiben. Bzgl. Haller möchte ich jetzt aber einiges anmerken.

In dem Interview geht er auf Massenmörder wie Anders Breivik ein, aber auch auf Adolf Hitler und einzelne Attentäter.  Kränkungen sieht er als wesentliches Motiv für deren Taten. Allerdings geht er nicht auf Kränkungen, Demütigungen und Gewalterfahrungen in der Familie ein. In dem Interview sagt Reinhard Haller einen für mich unglaublichen Satz: „Adolf Hitler war schwer gekränkt, weil er als Straßenmaler verspottet wurde und im Arbeiterwohnheim leben musste. Aus dieser Jämmerlichkeit sprießt dann das Überkompensatorische wie das Tausendjährige Reich, der Übermensch et cetera.“ Danach geht er noch ergänzend auf die Kränkung durch den „Versailler Vertrag“ ein. Es ist unglaublich, dass ein Psychiater ernsthaft annimmt, solche Erlebnisse würden ausreichen, um zum Massenmörder zu werden! Zudem: Jeder, der einmal bei googel „Kindheit von Adolf Hitler“ eingibt, sollte innerhalb von 10 Minuten etwas über die täglichen Misshandlungen und ständigen Demütigungen seitens des Vaters in Hitlers Kindheit erfahren. Auch über Anders Breivik gibt es eindeutige Nachweise für eine unglaublich traumatische Kindheit. Dazu kam aber kein Wort vom Fachmann. 

Für mich ist auf eine Art ein wenig verständlich, dass mit psychiatrischen Themen unerfahrene Fachmenschen wie PolitologInnen oder HistorikerInnen das Thema Kindheit außen vor lassen. Besonders erstaunt mich immer wieder, dass auch psychiatrische Fachleute oder PsycholgInnen an dem Thema vorbeischauen, Haller ist da nur einer von vielen.

Natürlich haben Kränkungen von Jugendlichen und Erwachsenen eine kumulative Wirkung oder auch tatauslösenden Charakter. Hallers Arbeit scheint also mehr zu beschreiben, dass als Kind durch Elternfiguren Gedemütigte später besonders reizbar sind (ohne dass er sich dessen bewusst zu sein scheint). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Ergebnis aus der Hirnforschung. „Wer aufgrund früherer, meist in den Kinderjahren erlittener Verletzungen keine tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen fühlen kann, hat als Erwachsener bei schwierigen Alltagssituationen schneller als andere das Gefühl, abgelehnt oder verachtet zu werden. Er (oder sie) wird häufiger als andere Menschen eine »gefühlte Zurückweisung« erleben. Entsprechend schneller ist bei solchen Personen die Schmerzgrenze erreicht, und entsprechend steigt das Risiko einer aggressiven Reaktion.“ (siehe meine Buchbesprechung von Joachim Bauer, „Schmerzgrenze“)

Donnerstag, 26. Februar 2015

Kindheit von Charles Manson


Charles Manson steht in der medialen Wahrnehmung für das Böse an sich.

Ich habe mir online einige Interviews mit ihm und auch zwei Dokumentationen angesehen. Und ich muss sagen, dass ich ihn in keinster Weise beeindruckend oder charismatisch finde. Ich erinnere mich, dass ich früher als Jugendlicher oft Gänsehaut bekam, wenn ich auszugsweise die hasserfüllten Reden von Adolf Hitler im Fernsehen hörte. Dieses unverfrorene, direkte böse Reden bewirkte ein wie auch immer gelagertes inneres Entsetzen und Erschüttert sein und irgendwie auch Angst vor so etwas wie „dem Bösen“. Hitlers Reden berühren mich schon lange nicht mehr. Ebenso die Reden von Charles Manson. Beide machen mir vor allem keine Angst vor „dem Bösen“. Das ist es glaube ich, was mich früher beunruhigte. Das so etwas wie „das Böse“ existieren könnte, etwas, das irgendwie von Außen – in einem quasi religiösem Sinne- in die Menschen kommen könnte. Wenn ich heute Menschen wie Hitler und Manson reden höre, dann sehe ich einfach nur Leere. Armselige Leere. Nichts, was irgendwie beeindruckend oder beängstigend sein könnte. Angst muss man nur haben, wenn solche leeren oder auch innerlich tote Menschen plötzlich Menschen um sich gruppieren und zu Macht kommen. Manson war ein solcher Mensch, der zu Macht kam und dadurch Unheil anrichten konnte. Und sein Größenwahn war ähnlich ausgeprägt wie der von Hitler. Nach Mansons damaligen „Helter Skelter Theorie“ wäre nämlich er nach einem Rassenkrieg zum alleinigen Führer der USA aufgestiegen. 
„Das Böse“ in ihm war allerdings hausgemacht, d.h. durch leibhaftige Menschen selbst reproduziert. Seine Kindheit erinnert an die unvorstellbaren, alptraumhaften Kindheiten von denen auch Gilligan und Pincus in ihren Arbeiten mit und über grausame Mörder berichtet haben. Es gab keine Liebe, keine Hilfe, keine Hoffnung; nur Hass, Gewalt und Dunkelheit, von Geburt an. Manson selbst sieht diese Zusammenhänge sehr deutlich (dazu unten ein Zitat).

Ich habe das Buch „Charles Manson. Meine letzten Worte“ von der Journalistin Michal Welles (2011 im Hannibal Verlag, Höfen erschienen) als Online-Kindle Buch durchgearbeitet. Welles hat Manson über einem Zeitraum von 20 Jahren immer wieder in der Haft besucht und mit ihm gesprochen. In ihrem Buch lässt sie ihm viel Raum, um zu Wort zu kommen. Seine Kindheit erklärt vieles und entschuldigt dennoch nichts.

Seine Mutter sei ständig betrunken gewesen, erinnert sich Manson an seine Kindheit. (Kapitel „Über Mich“, Position 974) Sie selbst floh erstmals im Altern von 15 Jahren von ihrem zu Hause und wurde zur Kriminellen mit häufigen Inhaftierungszeiten. (Als Charles geboren wurde, war seine Mutter – laut Wikipedia – gerade 16 Jahre alt.) Sie wollte später unbedingt verhindern, dass Charles bei ihren Eltern (seinen Großeltern) aufwuchs und setzte sich dafür ein, dass er in ein Heim kam (was letztlich klar macht, aus welch schlimmen Verhältnissen sie selbst kam.) „Sie konnte ja nicht ahnen, dass für Jungen, die unter staatlicher Obhut standen, das Bett in der Hölle gemacht ist.“, so Manson wörtlich dazu.  (Kapitel „Über Mich“, Position 974) Er berichtet daraufhin über seine Heimunterbringung bei einer christlichen Organisation, über die heiligen Väter und Nonnen, „die mich windelweich prügelten und dabei behaupteten, es sei nur zu meinem Besten.“ (ebd.)  Manson stand nach eigenen Angaben mit 11 Jahren alleine auf der Straße. Er überlebte u.a. durch kriminelle Taten. Mit 13 Jahren kam er dann, nachdem er festgenommen worden war, in ein Erziehungsheim, floh, wurde wieder festgenommen, kam in ein anderes Heim usw. (Kapitel „Über Mich“, Position 992)
Den ersten Knacks bekam ich gleich zu Anfang, nachdem man mich in ein Heim gesteckt hatte. Ich war erst sechs, als mich ein Junge von vielleicht 14 Jahren missbrauchte. Anschließend beschimpfte er mich und erzählte jedem, was für ein süßes Mädchen ich gewesen war. Es war einfach niemand da, zu dem ich hätte gehen können. Es gab keine Hilfe.“ (Kapitel „Keine Tränen mehr“, Position 1043-1061)
Wenn Du kapierst, dass deine eigene Mutter dich nicht lieben kann, dann verändert es dich und deine Stellung in der Welt.“ (Kapitel „Erinnerungen an ganz, ganz früher“, Position 1118)
Manson berichtet, wie seine Mutter war, wenn sie getrunken hatte (was oft vorkam). Sie fing an, ihn zu beschimpfen und ihn zu verprügeln. „Sie verfolgte mich durch die schmierige Küche (…) brüllte meinen Namen und schrie, sie würde mir mein dreckiges Maul stopfen und mein armseliges Dasein beenden, wenn sie mich erwischen würde. `Dann wirst Du anderen Leuten nicht mehr das Leben schwer machen können. Du elende kleine Ratte.` So ging das immer und immer weiter. Wenn ich heulte, hasste sie mich nur noch mehr. `Hör auf, wie ein kleines Mädchen rumzuflennen. Was bist du nur für ein Weichei!` Sie schrie und brüllte und verfolgte mich durch die ganze Wohnung. (…) Und schau mich heute an. Wo ich bin. Wer ich geworden bin. Für wen ihr mich alle haltet, und wieso  ihr nicht wollt, dass ich je wieder aus dem Knast rauskomme. Der geheime Fluch, der all das in Gang setzte, wurde damals in dieser dreckigen Wohnung ausgesprochen, als ich mein Vertrauen in die Welt verlor und keinerlei Hoffnung mehr hatte, dass man mich wirklich und wahrhaftig lieben würde.“ (Kapitel „Erinnerungen an ganz, ganz früher“, Position 1137) Nach diesen Ausführungen schwenkt er wieder zu seinen Heimaufenthalten und den Demütigungen und Bestrafungen (er benutzt auch das Wort „Folter“) , denen er dort ausgesetzt war. Er wäre im Alter von 10 Jahren in einem christlichen Heim zum Teufel erklärt worden. „Ich floh aus dieser Anstalt, nachdem man mich fast totgeprügelt hatte, weil ich vorm Essen nicht gebetet hatte.“ (ebd.) Manson berichtet dann, wie er einmal im Alter von 11 Jahren eine gute Nonne auf der Straße traf, die ihn kurz aufnahm. Sie wollte etwas von ihm und seinem Leben erfahren. Er fasst zusammen: „Als ich ihr erzählte, ich sei schon seit 11 Jahren auf der Flucht davor, gehasst, abgelehnt und bestraft zu werden, und auf den Straßen sei es selbst an einem solchen Tag (Anmerkung: es war kalt und nass zu der Zeit) wärmer als dort, wo ich herkam, da traten Tränen in ihre alten, müden, braunen Augen.“ Charles Manson hat mit diesem Satz im Grunde die ganze Hölle seiner Kindheit von Geburt an auf den Punkt gebracht.

Seinen Vater hat Charles Manson nie kennengelernt. Der Freund, mit dem seine Mutter gerade bei seiner Geburt zusammen war, gab ihm seinen Nachnamen: Manson. Dieser war nie da und gab ihm nie das Gefühl, in ihm einen Vater zu haben, so Manson. (Kapitel „Vater“, Position 1201)

Ich halte es für enorm wichtig, Kindheitsgeschichten von Mördern und Massenmördern nicht einfach nur kurz mit Worten wie "unglückliche Kindheit" oder "geprügeltes Kind" zu kennzeichnen (was oft in Medien geschieht). Ihre Taten werden erst richtig zu erklären sein, wenn man sich die Details anschaut, das ganze Ausmaß der Leidensgeschichte.

An einer Stelle erklärt Manson übrigens seinen Erfolg als Sektenguru. „Alle von diesen jungen Leuten, die bei uns landeten, hatten etwas in sich, was an ihnen nagte, ihnen die Ruhe und das Selbstvertrauen untergrub und ihr eigentliches Ich zerstörte. Und ich, der ewige Knacki, das Straßenkind, das schon im Kleinkindalter getürmt war, der Sünder seit dem Tag seiner Geburt, ich stand da und erklärte ihnen, dass mit ihnen alles in Ordnung war. Das allein war schon ein Schock. Als ich ihnen dann noch zu sagen wagte, dass ihre Eltern falsch gehandelt und nicht das Recht gehabt hatten, ihnen die Seelen zu stehlen, entstand daraus die geheime Mischung, aus der meine Macht erwuchs.“( Kapitel „Vater“, Position 1218)  Die von ihm gegründete Gemeinschaft oder Sekte nannte sich auch "The Family" oder "The Manson Family". Führer und Gefolgschaft vereinte offensichtlich ihre destruktive Kindheitsgeschichte, ihre Suche nach Halt/Anerkennung und ihre Rachefantasien.

Mittwoch, 15. Juni 2011

Gruppenfantasien: Analyse der letzten beiden SPIEGEL Ausgaben.

Nachfolgenden Beitrag muss man im Zusammenhang mit den drei vorherigen Beiträgen lesen und verstehen!

Ich habe mir jetzt mal die Mühe gemacht und die beiden letzten SPIEGEL Ausgaben gründlich nach (emotionalen) Schlüsselwörtern und Wörtern wie Kind etc. durchsucht. Die nachfolgende Auflistung ist chronologisch, sprich vom Heftanfang bis zum Heftende. Die Wörter und Sätze stammen immer aus Titeln, Überschriften, Dickgedrucktem oder Untertiteln bzw. Bildunterschriften (nicht aus dem laufenden Text). Im Grunde müsste man die Ergebnisse mit zwei SPIEGEL Ausgaben aus einem anderen Jahr zum Vergleich heranziehen und schauen, ob solche Worte ganz normale Alltagssprache beim SPIEGEL sind oder eben doch Spitzen aufzeigen, die Rückschlüsse auf aktuelle emotionale Prozesse zulassen. Insofern ist mein Ergebnis natürlich fragwürdig. Trotzdem möchte ich es vorstellen, weil die gefundenen Wörter zu dem passen, was ich in den letzten drei vorherigen Blogbeiträgen ausgeführt habe.

Bei der aktuellen Ausgabe mit dem Titel „Bruder Todfeind“, die ich ja bereits in Zusammenhang mit abgespaltenen Gefühlen/Teilen und Hassliebe gebracht habe, sind mir vor allem auch in ganz anderen Artikeln Andeutungen zu etwas „Doppeltem“, Gegensätzlichen bzw. doppelte Titel wie "x oder Y" aufgefallen, die insofern zum zerrissenen Titelbild passen. Diese Teile habe ich noch einmal dickgedruckt hervorgehoben. Ansonsten fand ich die Titelstory geradezu langweilig, sie bot nichts neues oder außergewöhnliches und hatte zudem wenig mit dem Titel "Bruder Todfeind" zu tun. Vielleicht ist ja aber gerade das wiederum erhellend, dass Titel und Bilder gewählt wurden, die wenig mit dem Text und Inhalt der Story zu tun hatten...

Weiter kommentieren möchte ich meine Ergebnisse nicht. Wie immer finde ich, dass diese Art der Deutung von Medien(bildern) immer auch etwas von eigener Auslese haben kann und insofern anfällig für Fehler und übertriebene Deutungen ist. Die Leser und Leserinnen dieses Blogs mögen sich ihre eigenen Gedanken dazu machen.


DER SPIEGEL, Nr. 23, 06.06.11
Der Feind im Essen. EHEC: Die Geburt einer Seuche.


Hass auf die Deutschen, Jungfrauentest, Sterbehilfe, „Das Röcheln des Sterbenden“, Schizophrene Notwendigkeit, Tod hilft Leben, Militanz, Heer, Zickzackkurs, Stimmentief, Unberechenbar, Todsünde, Katastrophenschutz, Die Angst-Macher, „Auch der Feind hat eine Würde“, Endzeitstimmung, „Im Verdruss vereint“, „Die Stimmung wird kippen“, „Auge um Auge“, „Gefährliches Gewusel“, „Erhöhtes Risiko“, Stresstest, „Meine Mutter hat versagt“, Schweigen, Attacke, Schelte, „Wieder am Abgrund“, Waffen, „Bedeutung von Emotionen“, „Psychologischer Blickwinkel“, „Kinder einer Gedankenschule“, Angriff, Gefahr, „Er hat keinen mehr, der ihn kontrolliert“, Wirtschaftswachstum, „Wir sind sehr emotional“, Krieg oder Frieden, „Gut und Böse sind Kategorien für Kinder“, Krisenkinder, Jugend, Jungfrauen, gefährliche Verbrecherin, kämpfte, Wahnsinn, Katastrophe, „Böses reden, Gutes tun“, „ wie ein Kind, das heute sein Ritalin nicht genommen hat“, „Suche nach dem Verrückten“, lauert, Doktor Freud, Gewissenlos, „Puls der bösen Absichten“, Mozart statt Mamma“, „Neugeborene beruhigen, die aus medizinischen Gründen vorübergehend von ihrer Mutter getrennt werden“, Drogen, Anmerk. EHEC Teil Anfang: Outbreak in Deutschland“, „Infizierter Norden“, „Lauernde Gefahr“, „Ein Erreger für die Demut“, „Wir leben in einem fragilen System“, „Die Jagd wird mysteriöser“, „Entfesselter Erreger“, Anmerk. EHEC Teil Ende, Gier, Alarmzustand, Gestresste, „Verseuchtes Fleisch“, Tiefe, Schlafmittel, „Geraubte Kinder“, „Außen Ehre, innen Leere“, „Tausende Jungen und Mädchen wurden verschleppt“, „an ihrer zerbrochenen Kindheit leiden die meisten noch heute“


DER SPIEGEL, Nr. 24, 11.06.11
Hitler gegen Stalin. Bruder Todfeind


Zerwürfnis, „Leben und Leiden“, „Kunst der zwei Gesichter“, Opfer, „Verbrechen oder Heldentat?“, Verdächtige, Ziele formuliert, Zombies, „Direkt an die Front“, „Allianz des Misstrauens“, „Klima in der Regierung ist vergiftet“, Stimmungswechsel, „Bezahlen müssen wir alle“, „Gute Werte, schlechte Werte“, hasse, „Sehnsucht nach dem Ende“, Leiden, Mädchen, Tochter, Söhnen, „Hast du mich noch lieb?“, Toter Markt, „Wenn ihrem Kind etwas Schlimmes passiert“ (Werbeanzeige mit Bild von Kindern) Wunsch und Wirklichkeit, „Das Leben ist voller Höhen und Tiefen“ (Werbeanzeige), Eltern, Kind, Eltern, Schüler, Tochter, „Kind wird Junge und Mädchen“, Jugend, „Irgendwas kippt gerade“, „Wie behandeln die Deutschen Fremde?“, Verbotenen, Anmerk. jetzt folgt Hitler und Stalin Teil: Bestie, Unmensch, Gemetzel, Sohn, tobt, brüllt, grauenhafte, Kampf an mehreren Fronten, Anmerk. Ende Hitler und Stalin Teil, flüchten, bedroht, Angriff, „Kränkelnde Tochter“, gedroht, Pleite-Macher, Explosive Schlamperei, Verdächtige Millionen, Tödliche Spritze?, „Die Frau ist ein Grund zur Sorge“, „Geld und Truppen“, „Bunker und Kämpfer werden zerrissen“, „Man spürt den Wahnsinn jeden Tag“, Tiefgang, Tod, sterben, „Von Krämpfen geschüttelt, „Wir wollen keine Rache“, „Wie eine Tochter“, Verletzter, „um ihre Jungen kämpft“, „Die verlorenen Töchter“, Mädchen, Eltern, „Bedrohung für ihre Kinder“, Kind, Hauen oder stechen, Mädchen, „Rendite oder Leben“, „Das Drama im Kinderzimmer“, bedrohlich, unberechenbar, „Die Falschen und die Richtigen“, „Das wahre Gesicht der Volksrepublik zeigen“, „Angst ist spürbar“, „Gefährliches Gift“, Jugendsünden, Kindern

Donnerstag, 22. Oktober 2015

Studie: Die Psychologie des Nationalsozialismus

Ich möchte die sehr eindrucksvolle Studie "Warum folgten sie Hitler? Die Psychologie des Nationalsozialismus" von Stephan Marks (3. Aufl. 2014, erschienen im Patmos Verlag, Ostfildern) besprechen, die sehr viele Gemeinsamkeiten mit psychohistorischen Ansätzen hat.

Für das Forschungsprojekt (das Forschungsteam bestand aus 10 Personen der ersten Nachkriegsgeneration  und unterschiedlicher meist aber psychologisch-pädagogischer Berufsfelder, ergänzend wurden auch durch 11 junge Studierende Interviews mit NS-Anhängern geführt, um zu vergleichen, wie sich der Generationsabstand auf die Interviews auswirkt) wurden 19 Frauen und 24 Männer (Geburtsjahrgänge zwischen 1906 und 1926), die NS-Anhänger waren, ausführlich im Rahmen von Interviews im Zeitraum zwischen 19998 und 2001 befragt. Ergänzend wurden zu Vergleichszwecken 11 Gruppengespräche, an denen jeweils 25 Personen aus verschiedenen Generationen teilnahmen, durchgeführt. Das Projekt wurde durch ständige Supervision begleitet.
Es wurde also viel Aufwand betrieben, um den tieferen Ursachen der NS-Zeit auf den Grund zu gehen.

Sehr beeindruckt haben mich die Schilderungen über die Ergebnisse der Supervision. Ich möchte diese hier gleich zu Beginn der Besprechung etwas ausführlicher wiedergeben:
Eine eindrückliche Erfahrung bestand darin, dass viele der Interview-Transkripte zunächst wenig informativ zu sein schienen – verglichen mit den emotionalen Botschaften zwischen den Zeilen und den Gefühlen, die wir während und nach den Interviews erlebten. Diese Reaktionen, die wir in dieser Wucht nicht erwartet hatten, werden in der Psychoanalyse als Gegenübertragungen bezeichnet. Oft fühlten wir, die Interviewer, uns im Laufe eines Gespräches wie totgeredet, überrollt oder mundtot gemacht. Verwirrt, müde, passiv, dumm, unklar, wie hypnotisiert oder ´besoffen geredet`. Oder wir spürten nach einem Interview ein merkwürdiges, starkes Verlangen nach Zucker. Oft konnten wir mit `dem Thema` nicht aufhören. Oder wir empfanden Scham, etwa darüber, von dem jeweiligen Interviewten manipuliert, `über den Tisch gezogen`, `eingewickelt`, benutzt, überrannt, plattgemacht oder emotional missbraucht worden zu sein (und die Scham darüber, dies zugelassen zu haben). Auch Scham darüber, es nicht geschafft zu haben, dem Interviewten gegenüber authentisch, `männlich`, `stark`, `standhaft`, geblieben zu sein; oder zu leichtgläubig, naiv, unaufmerksam, `feige`, unterlegen, `minderwertig`, `zu intellektuell`, ungenügend `gewappnet`´ oder `zu schwach` gewesen zu sein. Wir fühlten uns häufig, wie wenn etwas Fremdes, Bösartiges in uns hineingestopft worden wäre, etwas, das mit unserem Anliegen als Interviewer nichts zu tun hatte. In der Nacht nach den Interviews tauchten nicht selten Alpträume auf, z.B. dass jemand in die eigene Wohnung eindringt und sie mit Blut besudelt. Ich träumte einmal nach einem Interview, dass ich Massengräber zu öffnen und die halbverwesten Leichen umzubetten hatte.“ (Marks 2014, S. 182)
Dieser Auszug zeigt schon einmal deutlich, in welche Richtung das Buch geht: Es geht um die emotionale Welt und entsprechend um emotionale Erklärungsansätze bzgl. der NS-Zeit. In dem Buch werden sechs Kernthesen durchgearbeitet und durch die qualitativen Interviews empirisch nachgewiesen. Die Befunde (Marks 2014, S. 20+21,52+53, 167+168):

1. Das nationalsozialistische  Bewusstsein war regressiv und magisch, das heißt als ein Zustand, der entwicklungspsychologisch einer frühen Phase entspricht. Entsprechend ergaben sich Vorstellungen von einem gottähnlichem Führer, vom heiligen Reich, Zauberkräften usw.

2. Der nationalsozialistische Bewusstseinszustand lässt sich als hypnotische Trance verstehen. Demzufolge war der Fokus der Aufmerksamkeit eingeengt und gefesselt von einer Person (Adolf Hitler) bzw. einer Sache (Dritte Reich), unter Ausblendung großer Teile der Wirklichkeit. Dieser Zustand ist auch mit Regression (siehe Punkt 1.) verbunden.

3. Der Nationalsozialismus bezog seine psychosoziale Dynamik u.a. aus Schamgefühlen, deren Abwehr er anbot und legitimierte.

4. Der Nationalsozialismus speiste sich auch aus den narzisstischen Defiziten seiner Anhänger, die er auszufüllen versprach.

5. Der Nationalsozialismus erwuchs aus der Abwehr der Traumata des Ersten Weltkrieges; die Abwehrmechanismen Derealisierung, Gefühlskälte, Heroismus und Idealisierung wurden zum politischen Programm gemacht.

6. Der Nationalsozialismus nutzte die Suchtdynamik der deutschen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg. Die Beziehung zwischen dem Nationalsozialismus und seinen Anhängern hatte den Charakter von Suchmittelabhängigkeit, wobei Adolf Hitler und das `Dritte Reich` das stoffgebundene Suchtmittel waren. Diese Abhängigkeit bedeutete ein unabweichbares Verlangen nach einem bestimmten Gefühls-, Erlebens und Bewusstseinszustandes, den das NS-Programm beschaffte. Gemäß der Suchtdynamik wurde die sogenannte „Stunde Null“ wie ein Entzug erlebt.

Den gemeinsamen Nenner dieser sechs Befunde beschreibt Stephan Marks wie folgt:
Der Nationalsozialismus zielte nicht darauf, die Menschen kognitiv zu überzeugen, sondern sie emotional einzubinden: Er lebte von der narzisstischen Bedürftigkeit und Abhängigkeit seiner Anhänger, von ihren Schamgefühlen, Kriegstraumata und frühkindlichen Erlösungsphantasien.“ (Marks 2014, S. 168) An anderer Stelle des Buches formuliert er ebenso zusammenfassend:
Meine These ist, dass das intellektuelle Niveau des NSDAP-Programms und der nationalsozialistischen Schriften, Reden, Filme usw. völlig unerheblich ist – wenn es darum geht, ihren Erfolg bei ihren Anhängern zu erklären. Denn die Nazi-Propaganda zielte von vornherein gar nicht darauf ab, die Menschen kognitiv zu überzeugen, sondern darauf, sie in ganz anderen psychischen Schichten anzusprechen. Sie suchte nicht primär das (entwicklungspsychologisch betrachtet) reife, erwachsene, verantwortungsbewusste und rationale Ich-Bewusstsein des modernen, mentalen Menschen anzusprechen, sondern frühe Erfahrungen und Schichten in der Psyche der Menschen.“ (Marks 2014, S. 42+43)
Ich muss an dieser Stelle gleich erwähnen, dass mich die Arbeit von Stephan Marks stark an das Buch „Schmerzgrenze“ von Joachim Bauer und meine entsprechende Kritik erinnert. Marks hat wie Bauer sehr konkret leidvolle Kindheitserfahrungen als Ursache für Gewalt und Extremismus erkannt und benannt (darauf gehe ich gleich ein). Er hat dieses Themenfeld aber nicht ins Rampenlicht geholt, hat es nicht entsprechend gewichtet. Das Thema Kindheit geht im Verlauf des Buches entsprechend unter. Dies verwundert.
Das Buch von Stephan Marks ist ganz dicht an der Psychohistorie dran (so dicht wie kaum ein anderes Buch außerhalb der Psychohistorie), obwohl er sich offensichtlich nicht mit psychohistorischen Arbeiten befasst hat. Das ist für mich insofern verständlich, weil die Psychohistorie einen sehr wahrten Kern erforscht und beschrieben hat, der menschliche Destruktivität von Grund auf erklärt. Das andere Forschende auf den selben Kern stoßen, ist nur  logisch. 
Ich werde nachfolgend versuchen, die Überschneidungen von Marks und der Psychohistorie nach Lloyd deMause (2005: "Das emotionale Leben der Nationen") darzustellen, ebenso werde ich zentrale Textstellen bzgl. der Kindheit in dem Buch von Stephan Marks zitieren.

DeMause stellt fest, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen traumatischer Kindheit und der Fähigkeit, in soziale Trance zu verfallen gibt. (deMause 2005, S. 85-86) Wenn Menschen an der „Traumwelt der Gruppentrance“ teilnehmen, befinden sie sich in einem Zustand der Dissoziation bzw. wechseln in ihr „soziales Alter Ego“, so deMause (2005, S. 86) Alter Egos (abgespaltene Persönlichkeitsteile) entstehen vor allem auf Grund traumatischer Kindheitserlebnisse. DeMause beschreibt in seinem Buch, wie politische Führer durch ihre Reden und Gesten Gruppen in „soziale Trance“ versetzten können. Marks spricht von „ hypnotischer Trance“, von „Regression“ (in frühkindliche Stufen) und Eintauchen in „magische Welten“, was bei seinen Gesprächspartnern auch Jahrzehnte nach der NS-Zeit noch spürbar war, wenn sie über diese Zeit sprachen.

Die deutlichsten Überschneidungen mit der Psychohistorie finden sich bei Marks in seinen Ausführungen über Schamgefühle. (Hinweis: Der Gefängnispsychiater James Gilligan - siehe hier - hat Schamgefühle von Mördern in den Mittelpunkt seiner Analyse gestellt. Diese wurden durch massive Gewalterfahrungen in der Kindheit der Mörder ausgelöst.) Er schreibt. „Traumatische oder pathologische Scham (…) taucht besonders in solchen Familienbeziehungen auf, deren Mitglieder verstrickt sind in gegenseitige Entwertungen, Verheimlichungen oder ein Überwältigen des anderen, das heißt, wenn die persönliche Grenze oder Integrität des Einzelnen nicht respektiert wird.“ (Marks 2014, S. 76)
Die Grundlage für traumatische Scham wird nach Marks gelegt wenn Eltern zudringlich sind und die Grenzen des Kindes nicht achten, wenn Eltern unberechenbar, depressiv oder suchtkrank sind, wenn Blickkontakt kultur- oder persönlichkeitsbedingt zwischen Mutter und Säugling verhindert wird (er erwähnt dabei den Erziehungsratgeber der damaligen Zeit  „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, in dem empfohlen wurde, dass Mutter und Säugling weitgehend zu trennen sind), wenn Eltern selbst traumatisiert sind und dieses Trauma an ihre Kinder weitergeben oder wenn eine Kultur an sich sehr schamerfüllt ist und Kinder dies in sich aufnehmen. Er schreibt bzgl. dieses Themas zusammenfassend:
Pathologische Scham entsteht also dann, wenn die Eltern die Suche des Kindes nach Liebe und Anerkennung, nach dem antwortenden Glanz im Auge der Mutter (…) nicht befriedigen. Das kleine Kind empfindet dies als existenzielle Bedrohung, es fühlt sich liebensunwert, wirkungslos, nichtig. (…) Traumatische Scham bedeutet z.B., dass das eigene Verhalten erlebt wird als: ´Ich bin ein Fehler`, statt: ´Ich habe einen Fehler gemacht.` (…) Scham bedeutet Angst vor totaler Verlassenheit (...) vor psychischer Vernichtung“ (Marks 2014, S. 77+78)
Traumatische Schamgefühle wären, so Marks, schmerzhaft und kaum zu ertragen, sie müssen entsprechend abgewehrt werden. „Weil Scham eine so peinigende, kaum auszuhaltende Emotion ist, `schrie´ sie geradezu nach Abwehr, die durch den Nationalsozialismus geboten und legitimiert wurde: (…) durch Idealisierung Hitlers und der Deutschen (…), durch größenphantastische Ansprüche auf Weltherrschaft; durch Versprechungen, die Ehre Deutschlands wiederherzustellen; durch ein heroisierendes und zynisches Weltbild der Härte und damit die Abwehr weicher (´schwächlicher`) Gefühle und humanistischer Werte; durch Verachtung und Vernichtung von jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, aber auch von Non-Konformisten (…).“ (S. 84)
Diesem letzt zitierten Abschnitt geht ein Hinweis bzgl. der Niederlage im Ersten Weltkrieg und entsprechender Schamgefühle voraus. Marks verliert hier den Faden zur Kindheit, den er auch auf den nachfolgenden Seiten über die Scham nicht wieder aufnimmt. Allerdings findet er ihn im darauffolgenden  Kapitel 4 „Narzissmus und narzisstische Kollusion“ insofern etwas wieder, weil er noch einmal explizit auf Kindheitserfahrungen eingeht.

Der Autor zitiert die Arbeit des Psychoanalytikers Neville Symington, der pathologischen Narzissmus als Abwehrstrategie sieht, „mit der sich Menschen vor unerträglichen psychischen Schmerzen schützen, die auf traumatische Erfahrungen im Zusammenhang mit verweigerter Anerkennung zurückgehen (z.B. auf das Trauma, als Kind missachtet worden zu sein). Wenn diese Traumata nicht durchgearbeitet werden konnten, schlagen sie laut Symington häufig um in Hass gegen die Grundtatsache der menschlichen Existenz: dass nämlich das Selbst des Menschen immer in Beziehung zu anderen Menschen steht.“ (Marks 2014, S. 105)
Auf der nachfolgenden zwei Seiten geht Marks auf den „narzisstischen Missbrauch“ von Kindern durch Elternfiguren ein. Seine Schlussfolgerung ist, dass der Nationalsozialismus „wie eine kollektive narzisstische Kollusion funktionierte. Aus der Perspektive der Anhänger des  Nationalsozialismus: Durch ihre Beteiligung am `Dritten Reich` wurde das Loch in ihrem Selbstwertgefühl wie mit einer Plombe gestopft. Aus der Perspektive des  Nationalsozialismus: Durch sein Propagandaprogramm vermochte er, die narzisstische Bedürftigkeit seiner Anhänger für seine Zwecke zu instrumentalisieren. (….) Die Wirkung von Bewunderung auf narzisstisch bedürftige Menschen stelle ich mir vor wie einen Tropfen Wasser, der von einem trockenen Löschblatt sofort `gierig` aufgesaugt wird. Die emotionalen Beziehungen innerhalb der NS-Gesellschaft waren demnach ein vielfältiges Geflecht von Bewundern und Bewundert-Werden.“ (Marks 2014, S. 108) Marks zitiert in diesem Kapitel einen Befragten, der bzgl. seiner Zeit bei der SS berichtet: „Ich war stolz, etwas zu sein. (….) Die Minderwertigkeitskomplexe, die ich immer gehabt habe, die waren dann plötzlich verschwunden. Plötzlich war ich wer.“ (Marks 2014, S. 107+108)
Was Marks an dieser Stelle wie auch in vielen anderen Zitaten bzgl. seiner Interviewpartner verpasst hat (oder evtl. keine konkreten Antworten bekam) ist die gezielte Frage nach der Kindheit. Wie war die Kindheit dieses ehemaligen SS-Mannes, wie die der anderen ehemaligen Nazis, die für diese Studie befragt wurden? Der Studie hätte es gut getan, wenn z.B. am Ende der Interviews ein schriftlicher Fragebogen mit konkreten Fragen wie sie bzgl. Gewaltstudien beim Thema Kindesmisshandlung standardisiert üblich sind von den Befragten ausgefüllt worden wäre. So bleibt es bei leichten Andeutungen wie z.B. bzgl. des Befragten Herrn Plessner (Marks 2014, S. 110), der als Kind oft alleine gelassen wurde und nur eine schriftliche Arbeitsanweisung auf dem Tisch zu Hause vorfand. Seine Ausführungen machen deutlich, wie er sich nach einem anerkennenden Blick sehnte, den er bei den Nazis fand. An anderer Stelle im Buch wird ein Interviewauszug mit Frau Groeder beschrieben, die harte selbst erlebte Erziehungsmethoden und ihre Abschiebung in ein Internat komplett unkritisch und idealisierend gegenüberstand. Es habe ihr nicht geschadet.  Marks kommentiert das Prinzip, dem die Befragten folgt so: „Verachte deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Marks 2014, S. 127) Entsprechend ginge diese Verachtung einher mit Bewunderung  von strenger Erziehung und Idealen des Nationalsozialismus (bei gleichzeitiger Verachtung der „heutigen Jugend“). Dies sind – zumindest nach meiner Durchsicht – die beiden einzigen Textstellen im Buch, wo ansatzweise deutliche Hinweise auf die Kindheit der Befragten zu finden sind.

Die beiden letzten Kapitel möchte ich nicht zu ausführlich besprechen. Marks geht im Kapitel 5 ausführlich auf die transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen im Ersten Weltkrieg ein. Er weist darauf hin, das 11 Millionen Veteranen nach Hause zurückkehrten und psychische Wunden mitbrachten. (Marks 2014, S. 133) „Die transgenrationale Weitergabe geschieht nicht nur durch das, was die traumatisierten Väter bzw. Eltern ihren Kindern sagen, sondern vor allem durch das, was sie sind. Wie sie ihre Töchter und Söhne anschauen, behandeln oder bewerten, wie sie sich auf sie beziehen. Die Veteranen selbst, mit all ihren psychischen Deformierungen, sind die Botschaft: Ihre Derealisierung, Gefühls- und Empathielosigkeit, Idealisierung und Heroisierung wird an die Kinder weitergereicht.“ (Marks 2014, S. 137+138)
Im letzten Kapitel (Nr. 6) vergleicht er das NS-System mit Sucht/Abhängigkeit. Er geht auf das rauschhafte Erleben ein, von dem die Befragten berichten, auf ihre Abhängigkeit und dem Loch in das Viele mit Ende des Krieges („Stunde Null“) vielen.
Im Schlussteil des Buches streift Stephan Marks nur noch in einem Absatz das Thema Kindheit, in dem er auf eine Studie hinweist, die nachwies, das Rechtsextremisten systematische Kränkungen und Misshandlungen im Elternhaus erlebten. Auf den letzten Seiten gibt es eher allgemein präventive Hinweise, einige Schlussgedanken und ein Plädoyer für wertschätzende, freundliche Formen des Umgangs miteinander.

Zusammenfassende Kritik

Außerhalb der Psychohistorie ist das hier besprochene Buch eines der erkenntnisreichsten, das ich bzgl. der Ursachen und der Dynamik der NS-Zeit gelesen habe. Es ist sehr nah dran an meinem Ursachen-Verständnis von gesellschaftlicher Destruktivität wie sie sich z.B. in der NS-Zeit zeigte. Die große und wahre Botschaft des Buches lautet, dass es keinen Sinn macht, den Nationalsozialismus irgendwie rational oder geschichtswissenschaftlich nachvollziehen oder erklären zu wollen. Es geht um die emotionale Welt. Es geht darum, wie die Emotionen der Menschen angesprochen wurden, wie sie gefühlsmäßig an und in das System eingebunden wurden und sich dadurch letztlich einfach gut oder "gesehen" fühlten. Das besonders Wertvolle an der Studie ist, dass mit ehemaligen Nazis direkt ausführlich gesprochen wurde und der emotionale Gehalt der Gespräche analysiert wurde. Eine ähnliche Arbeit ist mir bisher nicht bekannt, obwohl eine solche Herangehensweise doch eigentlich nahe liegt.

Meine Hauptkritik an dem Buch habe ich oben bereits angedeutet. Obwohl der Autor den wichtigen Einfluss von destruktiven Kindheitserfahrungen gesehen und beschrieben hat, hat er diesem Einfluss kein entsprechendes Gewicht im Buch verliehen. Er geht im Grunde nicht auf die allgemein übliche extrem destruktive Erziehungspraxis um 1900 ein (die z.B. deMause beschrieben hat), was seine Thesen vom pathologischem Schamgefühl und narzisstischer Bedürftigkeit der Menschen in der damaligen Zeit untermauert hätte. Man findet entsprechend auch im Schlussteil keine Forderung für verbesserten Kinderschutz und Elternschulungen. Im Schlussteil bleibt der Autor auch ein bisschen pessimistisch. Im Klapptext des Buches wird es vom Verlag noch deutlicher formuliert: Das Beunruhigende an den Erkenntnissen im Buch sei, „all dies kann auch heute noch instrumentalisiert werden.“ Ich sehe dies nur bezogen auf einzelne Personen und kleiner Milieus/Subkulturen so. Die Kindheit und Fürsorge in Deutschland hat sich enorm entwickelt und elterliche Gewalt gegen Kinder ist stark rückläufig. Entsprechend müssen pathologische Schamgefühle und narzisstische Bedürftigkeit deutlich zurückgegangen sein. Die Menschen  werden demnach auch im Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte immer selbstbewusster, immer weniger anfällig für „falsche Götter“ (wie der Psychoanalytiker Arno Gruen eines seiner Bücher betitelt hat) oder schlicht weg einfach immer empathischer.
Auf der anderen Seite sehen wir weiterhin, dass in den Regionen auf der Welt, die keine Demokratie hinbekommen, wo Krisen, Krieg und/oder Terror herrscht, die weltweit verglichen gewaltvollsten Kindheiten zu finden sind. Die Lehren, die wir Deutschen aus unserer Nazi-Geschichte ziehen sollten, sind: Wir müssen den Kindern in der Welt helfen, wir müssen Kinderschutzbemühungen weltweit vorantreiben, wir müssen verhindern, dass Menschen mit einem „emotionalen Loch“ heranwachsen. Aber vor dem müssen wir erst einmal die eigentlichen Ursachen von destruktiven gesellschaftlichen Entwicklungen gesamtgesellschaftlich besprechen und natürlich auch anerkennen. Das Buch von Stephan Marks ist 2014 in der 3. Auflage erschienen. Das an sich spricht für ein größeres Interesse an emotionalen Ursachen der NS-Zeit. Online habe ich allerdings nicht viele Buchbesprechungen gefunden, vor allem auch nicht in den großen Medien. Dies zeigt wiederum, dass es leider noch etwas Zeit brauchen wird, bis die Botschaft des Buches und erst Recht die Botschaften der Psychohistorie breitflächig ankommen.

Dienstag, 4. Oktober 2016

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